Toni Morrison: Sehr blaue Augen

  Selbsthass als Folge von Rassismus

Was geschieht Anfang der 1940er-Jahre mit schwarzen Mädchen in Lorain, Ohio, dem Geburtsort der Autorin Toni Morrison (1931 – 2019), wenn Shirley Temples blonde Locken und blaue Augen als ultimatives Schönheitsideal gelten? Wenn die Bonbonverpackung ein ebensolches Kind ziert, sie beim Einkaufen übersehen werden und die Lehrerin hellere Kinder bevorzugt? Wenn die eigene Mutter sie für hässlich hält, während sie die Kinder ihrer weißen Arbeitgeberfamilien vergöttert? Wenn sie zu Weihnachten blonde, blauäugige Babypuppen bekommen?

Foto: © B. Busch. Cover: © Rowohlt

Claudia, Frieda, Pecola
Ins Zentrum ihres Debütromans Sehr blaue Augen, erstmals 1970 als The Bluest Eye erschienen und 2023 in deutscher Neuübersetzung von Tanja Handels im Verlag Rowohlt wieder aufgelegt, stellt die 1993 als erste schwarze Frau mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Toni Morrison drei Mädchen. Jede leidet auf ihre Art unter dem Trauma ihrer vermeintlichen Hässlichkeit. Claudia Mac Teer, die temperamentvolle Neunjährige und Ich-Erzählerin der ein Jahr umfassenden Rahmenhandlung, entzieht sich dem allgemeinen Zauber, zerstört die verhassten Puppen und würde in ihrer Wut am liebsten dasselbe mit weißen Mädchen tun. Ihre um ein Jahr ältere, besonnenere Schwester Frieda verehrt zwar Shirley Temple, kommt aber dank ihres Elternhauses besser zurecht als die elfjährige Pecola Breedlove, die aus weit ärmlicheren, liebloseren Verhältnissen stammt und in einem heruntergekommenen Ladenlokal ein freudloses, einsames Dasein fristet:

Sie wohnten dort, weil sie arm und Schwarz waren, und sie blieben dort, weil sie sich für hässlich hielten. Ihre Armut war althergebracht und lähmend, aber keineswegs einzigartig. Ihre Hässlichkeit hingegen schon. Niemand hätte sie davon überzeugen können, dass sie nicht auf schonungslose und aggressive Weise hässlich waren. (S. 58)

Für die permanent gedemütigte Pecola, die im Laufe des Romans – wie man sofort erfährt – von ihrem eigenen Vater ein Baby bekommt, wird der Wunsch nach blauen Augen zur Obsession:

Schon vor geraumer Zeit war Pecola zu dem Schluss gekommen, wenn nur ihre Augen anders wären, […], genauer gesagt: schön, dann wäre auch sie selbst ganz anders. […] Jeden Abend, ausnahmslos, betete sie um blaue Augen. (S. 67/68)

Unterschiedliche Zeitebenen und Erzählperspektiven
In die Rahmenhandlung eingeschoben sind Einblicke in Lebensläufe von Erwachsenen, rechtlosen schwarzen Frauen und Männer, die erlebte Ohnmacht in Gewalt gegen ihre Frauen und Kinder ummünzen.

Der schwarzen Lebenswirklichkeit stellt Toni Morrison kurze Textschnipsel aus einer US-Fibel über die Bilderbuchwelt einer weißen Mittelschichtfamilie gegenüber.

Ein Roman mit Erkenntnisgewinn
Nicht „bequeme Ausflucht ins Mitleid“ (S. 11) wollte Toni Morrison laut ihrem Vorwort von 2008 auslösen, sondern die schwarze Leserschaft „zu einer Reflexion ihrer eigenen Rolle“  (S. 11) zwingen. Im ebenso exzellenten Nachwort schildert die afrodeutsche Autorin Alice Hasters, wie das bei ihr gelang, als ihr die Mutter mit 13 Jahren den Roman gab:

Das Buch setzte meiner Sehnsucht, weißer auszusehen, etwas entgegen. So blieb es bei einem heimlichen Wunsch, den ich mit meinem Spiegelbild teilte, und wuchs nicht weiter in ein verzweifeltes Verlangen, das meinen Alltag diktierte. (S. 266)

Obwohl ich nicht zur Haupt-Zielgruppe gehöre, hat mir dieser gar nicht plakative Roman, der zum aufmerksamen Lesen und Nachdenken zwingt, großen Erkenntnisgewinn beschert. Nicht nur als Signal gegenüber der weißen Bevölkerung, wie ich bisher dachte, sondern als Aufforderung zu schwarzem Selbstbewusstsein war der Slogan „Black is beautiful“ der Bürgerrechtsbewegung ab 1966 gedacht. Die in der Neuübersetzung gewählte Großschreibung des Adjektivs „schwarz“ schafft in meinen Augen allerdings neue Unterschiede anstatt Diskriminierung abzubauen. Dass aber, wie Claudia und Frieda erkennen, für manche Blumen der Boden nicht taugt und deshalb ausgetauscht oder verändert werden muss, ist die zweifellos zeitlose Quintessenz dieses herausragenden modernen Klassikers.

Toni Morrison: Sehr blaue Augen. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Mit einem Nachwort von Alice Hasters. Rowohlt 2023
www.rowohlt.de

 

Weitere Rezensionen zu Büchern von Literaturnobelpreisträgerinnen und -preisträgern auf diesem Blog:

1909
1920
1926
1932
1954
2017
2021

Michela Marzano: Falls ich da war, habe ich nichts gesehen

  Vergessen ist keine Lösung

Seit September 2022 regiert mit Giorgia Meloni in Italien die am weitesten rechts stehende Politikerin seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Wie alle Ultrarechten weltweit kämpft sie für ein nationalistisch-identitäres Weltbild sowie gegen Migration, vaterlandslose Linke, Aufweichung des traditionellen Familienbilds und Genderideologie.

Bereits kurz vor der Wahl von 2022 erschien in Italien Stirpe e vergogna, in der deutschen Übersetzung von 2023 Falls ich da war, habe ich nichts gesehen. Die italienische, in Frankreich lebende und lehrende, 1970 in Rom geborene Philosophin, Autorin und ehemalige Abgeordnete des Partito Democratico Michela Marzano nimmt darin den Ausgang der Wahl vorweg und erklärt, wie es zu einer Regierung kam, die „nichts als eine postmoderne Version des Neofaschismus ist“ (S. 263):

Es wurde niemals wirklich aufgeräumt. (S. 232)

Kollektives Gedächtnis? Eher kollektives Vergessen. (S. 233)

Eine schockierende Entdeckung
Im Jahr 2019 entdeckte Michela Marzano zufällig, dass das in ihrer Familie sorgsam gepflegte, von ihr nie angezweifelte Narrativ der linken Orientierung auf einer Lüge beruht: Nicht nur war ihr Großvater Arturo Marzano (1897 – 1976) Mitglied der Duce-Partei, was vielleicht für einen Richter und Staatsanwalt noch erklärlich wäre, er gehörte vielmehr zu deren allerersten Anhängern und war als Teil der berüchtigten Squadristi am Marsch auf Rom am 28.10.1922 beteiligt. Nach dem Krieg nur kurzzeitig aus dem Staatsdienst entfernt und ab Ende 1949 wieder als Staatsanwalt tätig, setzte er sich in den 1950er-Jahren als Abgeordneter der national-monarchistischen Partei gezielt für das Vergessen ein:

Die Gnade […] muss die Erinnerung an die jüngste Vergangenheit in eine undurchdringliche Finsternis des Vergessens hüllen, sie in die tiefsten Abgründe der Amnesie stürzen […]. (S. 251)

Collage: © B. Busch. Cover: © Eichborn Verlag

Doch nicht allein Interesse am Großvater trieb Michela Marzano bei ihren Recherchen an:

Als ich anfing zu schreiben, wollte ich da nicht eigentlich mein eigenes Leben erforschen, die Gewaltausbrüche und die Angst meines Vaters ergründen, […], um meiner eigenen Wahrheit auf die Spur zu kommen? Den Schmerz verstehen, den ich seit meiner Kindheit in mir trage und dessen Konturen trotz all meiner Versuche, ihn zu ergründen, immer unscharf geblieben sind? (S. 44)

Besonders die schwierige Beziehung zu ihrem Vater, dem linksliberalen Wirtschaftsprofessor Ferruccio Marzano mit dem fünften, lange totgeschwiegenen Vornamen Benito, und ihre eigene, von Versagensängsten, Magersucht, Suizidversuchen, 20-jähriger Psychotherapie und fehlendem Mut zur Mutterschaft geprägte Biografie, durchziehen das Buch in seinen vier Teilen „Schande“, „Schuld“, „Vergessen“ und „Vergebung“. Überwiegend liest man ein (auto-)biografisches Sachbuch, gelegentliche ergänzt durch Dialoge, die so oder ähnlich stattgefunden haben könnten.

Fehlende Puzzleteile
Trotz aller Forschung in den reichlich vorhandenen großväterlichen Hinterlassenschaften sowie in Archiven bleibt das Bild doch unvollständig. Keine Hinweise fanden sich leider auf die Beweggründe des Großvaters für seinen frühen Anschluss an Mussolini, die mich sehr interessiert hätten, wohingegen mir der autobiografische Teil manchmal zu redundant war.

Die Grundaussagen des Buches zur transgenerationalen Traumatisierung und zu den Auswirkungen versuchter Geschichtstilgung auf die Gegenwart gelten über die Grenzen Italiens hinaus. Dass man dazu noch viel über die italienische Geschichte ab 1914 erfährt, unter anderem, weil der deutschen Ausgabe nicht die italienische Originalfassung, sondern die um Ergänzungen für Nicht-Italiener angereicherte, von der Autorin selbst ins Französische übersetzte Version zugrunde liegt, macht das mit viel persönlicher Betroffenheit, in Gendersprache verfasste Buch umso lesenswerter.

Michela Marzano: Falls ich da war, habe ich nichts gesehen. Übersetzung aus dem Französischen von Lina Robertz. Eichborn 2023
www.luebbe.de/eichborn

Monika Helfer: Die Jungfrau

  Am längeren Hebel

Es gibt Herzensbücher, andere, die mir nicht gefallen und viele Abstufungen dazwischen. Eine weitere Kategorie ist glücklicherweise eher selten: die, deren Lektüre ich bedauere, weil sie mir eine geschätzte Autorin oder einen liebgewordenen Autor verleiden. Zuletzt ist mir das 2020 bei Das Gewicht der Worte von Pascal Mercier passiert und nun leider mit Die Jungfrau von Monika Helfer. Dabei sind beide Bücher stilistisch großartig und Monika Helfer glänzt erneut durch maximale Verdichtung, geniale Zeit- und Gedankencollagen, packende Reflexionen über das Schreiben und ihren gewohnt lakonischen Ton. Anders jedoch als in ihren autofiktionalen Familienromanen Die Bagage und Vati, die ich begeistert gelesen habe, hat mich das kleine Buch über ihre fiktive, aus mehreren Vorbildern zusammengesetzte Jugendfreundin Gloria nach starkem Beginn zunehmend abgestoßen.

Eine ambivalente Beziehung
Die Motivation für die ungleiche Mädchenfreundschaft, so man sie überhaupt als solche bezeichnen kann, war von Beginn an gänzlich verschieden. Die begüterte, talentierte, hübsche und vaterlos aufwachsende Gloria brauchte ein ihr unterlegenes, manipulierbares Publikum und wollte mit Hilfe der Ich-Erzählerin Moni der Einsamkeit mit ihrer psychisch kranken Mutter entkommen. Für Moni dagegen bot Glorias feudale Umgebung Glanz und Fluchtmöglichkeit aus häuslicher Enge und Armut. Dafür opferte sie ihre Freiheit und andere Freundschaften und war zwischen 13 und 18 Jahren fast jeden Tag in Glorias feudaler Villa, dem „Geisterhaus“ (S. 79), „friedlichen Märchenungeheuer“ (S. 59) und „prächtigen Hausmonster“ (S. 71). Faszination, Neid und Wut hielten sich die Waage, gerne nutzte sie Gloria als Telefonseelsorgerin während ihrer missglückten Hochzeitsreise und ärgert sich gleichzeitig bis heute, sie „immer vorgelassen“ (S. 32) zu haben.

Ein Flashback
Monis frühe erste Ehe und Mutterschaft ließen den Kontakt einschlafen, erst an ihrem 70. Geburtstag erreicht sie ein Brief von Glorias Nichte mit der Bitte um einen Besuch. Die ehemalige Freundin ist in einem erbärmlichen Zustand, ihr Leben krachend gescheitert, abgebrochenes Schauspielstudium, Rückkehr nach Hause, kränkelnd seit dem Tod der Mutter vor 30 Jahren. Nicht einmal ihre Jungfräulichkeit hat sie verloren, wie sie Moni anvertraut, verbunden mit einer Bitte:

Ja, Moni, schreib eine Seite über mich, denn wenn ich sterbe, ist dann noch etwas von mir da. (S. 17)

In Moni flammt mit dem Wiedersehen alte Wut erneut auf:

Während ich mit Wut auf die Tastatur klopfe, ärgere ich mich über Gloria nicht weniger, als ich mich damals geärgert hatte. […] Wofür man sich vor fünfzig Jahren rächen wollte, das ist nicht verziehen. (S. 84)

Mangelnde Größe
Spätestens hier hatte mich der Roman, fiktional oder nicht, verloren. Dass die jugendliche Moni Glorias Bedürftigkeit inmitten ihrer Reichtümer nicht erkennt, ist verständlich. Aber dass sie beim Anblick der gescheiterten Gloria auftrumpft und nur einzelne Höhepunkte ihres Scheiterns aufzählt, um sie ihren eigenen Erfolgen gegenüberzustellen, hat mich abgestoßen. Denn anders als der Titel vermuten lässt, steht nicht Gloria im Mittelpunkt, sondern Moni: ihre Befreiung aus der ersten Ehe, die zweite Ehe mit dem Schriftsteller Michael Köhlmeier, die vier Kinder und ihre späten schriftstellerischen Höhenflüge. So interessant ich diese Passagen fand, so wenig kann ich das Nachkarten einer doch zweifellos klugen Frau verstehen. Warum akzeptiert sie widerwillig Glorias Wunsch, um ihn dann zu konterkarieren?

Weitere autofiktionale Romane von Monika Helfer mag ich nun nicht mehr lesen. Sollte sie das Genre wechseln, mache ich vielleicht einen neuen Versuch.

Monika Helfer: Die Jungfrau. Hanser 2023
www.hanser-literaturverlage.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Monika Helfer auf diesem Blog:

 

Eva Björg Ægisdóttir: Verlogen

  Mit anderen Augen

Nach einem Jahr bei der Kripo Akranes hat sich die 33-jährige Ermittlerin Elma überraschend gut in ihrer früheren Heimatstadt eingelebt und die Erinnerung an den Selbstmord ihres langjährigen Partners Davið stehen nicht mehr im Vordergrund. Dass es auch in dem Hafenstädtchen im Westen Islands nicht nur um Verkehrsunfälle und Einbrüche geht, musste sie bereits kurz nach ihrer Rückkehr erfahren, als im ersten Band der Serie mit dem Titel Verschwiegen am älteren der beiden Leuchttürme von Akranes die Leiche einer jungen Mutter gefunden wurde. Auch die Fortsetzung Verlogen beginnt mit einem Leichenfund, allerdings gut versteckt in einer Höhle im Lavafeld bei Grábrók und stark verwest. Schnell wird ermittelt, dass es sich dabei um die alleinerziehende Mutter der 15-jährigen Hekla handelt, die 31-jährige Maríanna Þórsdóttir, die seit sieben Monaten verschwunden war. Alles schien damals auf einen Selbstmord der immer wieder mit Depressionen und Suchterkrankungen kämpfenden Frau hinzudeuten, weshalb es nur oberflächliche Ermittlungen gab. Zu Unrecht, wie die Obduktion ergibt, denn Maríanna starb durch Schläge:

Uns bleibt nichts anderes übrig, als mit den Ermittlungen noch einmal ganz von vorne zu beginnen. Leute zu befragen, Dokumente zu prüfen. Alles noch einmal zu machen, aber mit anderen Augen. (S. 71)

Mehr als nur die Aufklärung eines Kriminalfalls
Wie auch schon bei Verschwiegen unterbricht die 1988 in Akranes geborene und aufgewachsene Autorin Eva Björg Ægisdóttir die Chronologie der Ermittlungsarbeit Elmas und ihres 36-jährigen Kollegen Sævar, dieses Mal durch Kapitel aus der Ich-Perspektive einer Mutter von der Geburt ihres Kindes bis zum Alter von 13 Jahren. Mit Augenmaß eingeflochten ist Elmas Privatleben, die Rückblicke in ihre Kindheit, die nicht überwundenen Rivalitäten mit ihrer älteren Schwester, die Bewältigung ihrer Trauer sowie ihre zwiespältigen Gefühle sowohl für ihren Kollegen als auch für ihren liebenswerten Nachbarn Jakob.

Collage: © B. Busch. Cover: © Verlag Kiepenheuer & Witsch

Mit psychologischer Tiefe
Es passiert gar nicht so oft, dass ich bei Krimireihen am Ball bleibe, aber bei dieser gut geschriebenen Island-Serie wollte ich die Fortsetzung auf keinen Fall verpassen. Nun hat mir Verlogen sogar noch etwas besser gefallen als der Vorgängerband, denn das von der dreifachen Mutter Eva Björg Ægisdóttir von allen Seiten beleuchtete Thema „Muttersein“ hebt diesen Krimi aus der Vielzahl der Regionalkrimis heraus. Wieder geht Gründlichkeit bei der Ermittlungsarbeit vor thrillerhafter Rasanz, drängen sich Verdachtsmomente gegen verschiedene Personen auf und wird viel Wert auf Orts- und Charakterzeichnungen gelegt, für die eine Landkarte im Buchdeckel und ein Personenverzeichnis im Anhang hilfreich sind. Die Autorin widmet sich ausführlich verschiedenen Familientragödien und komplizierten Beziehungsgeflechten und wartet im letzten Drittel mit einer für mich umwerfenden Überraschung auf. Auch den Schluss fand ich ausgesprochen gelungen, originell und passend zum Geschehen, auch wenn er vielleicht nicht jedem Krimifan gefällt.

Keine Frage also, dass ich bei Band drei der Serie, Verborgen, im Februar 2024 wieder dabei bin.

Eva Björg Ægisdóttir: Verlogen. Aus dem Isländischen von Freyja Melsted. Kiepenheuer & Witsch 2023
www.kiwi-verlag.de

 

Weitere Rezension zu einem Krimi von Eva Björg Ægisdóttir auf diesem Blog:

Tilman Spreckelsen: Otfried Preußler

  Der Mensch hinter dem Werk

Am 20. Oktober 2023 wäre Otfried Preußler (1923 – 2013) 100 Jahre alt geworden, deutlich jünger als zwei seiner bekanntesten Kinderbuchfiguren: 27 Jahre weniger als die kleine Hexe, mehrere Jahrhunderte gar als das kleinen Gespenst. Die Deutsche Post ehrt den Verfasser so vieler zeitloser Kinder- und Jugendbuchklassiker mit einer besonders gelungenen Briefmarke, gestaltet von Daniela Burger. Zum Jubiläumsprogramm des Stuttgarter Thienemann Verlags gehört die äußerst lesenswerte Biografie des Preußler-Experten mit vielfältigen Kontakten und FAZ-Literaturredakteurs Tilman Spreckelsen. Gleich im Epilog legt er dar, worum es ihm geht:

Der Mensch hinter den Büchern wurde lange nicht fassbar. (S. 6)

Die Frage nach dem Zusammenhang von Leben und Werk ist der Leitgedanke dieses Buches. (S. 9)

Tilman Spreckselsen beginnt bei den Hauptinspirationsquellen Preußlers, die in dessen Kindheit im böhmischen Reichenberg (heute Liberec) liegen: den Geschichten seines Vaters und böhmischen Heimatkundlers Josef Syrowatka, ab 1941 Preußler, und der Großmutter Dorothea. Aus dem Märchen- und Sagenschatz Böhmens und der Erinnerung an die Landschaft konnte er sein ganzes Leben schöpfen.

Collage: © B. Busch. Gestaltung des Postwertzeichens: Daniela Burger, Berlin. Aus urheberrechtlichen Gründen ist bei einer Nutzung der Briefmarken-Abbildung zwingend eine Erlaubnis einzuholen (LB5@bmf.bund.de). Coverabbildungen: © Thienemann Verlag

Kindheit und Krieg
Nach einer Kindheit als Teil der deutschsprachigen Minderheit in der Ersten Tschechoslowakischen Republik und dem sich zuspitzende Nationalitätenkonflikt löste der Anschluss ans Deutsche Reich 1938 Jubel beim jungen Otfried Preußler aus. Sein erster Roman aus diesen Jahren ist heute glücklicherweise vergessen.

Der Kriegsbegeisterung folgte Ernüchterung an der Ostfront ab 1942 und in einem sowjetischen Gefangenenlager ab Sommer 1944:

…denn obwohl wir einmal von ganzem Herzen Soldaten gewesen sind – ein zweites Mal wäre das kaum mehr der Fall. (S. 45/46)

Schriftstellerische Erfolge
Im bayerischen Rosenheim kam es im Juni 1949 zur Wiedervereinigung der Familie Preußler und der Verlobten Annelies Kind. Nun sollten die verlorenen Jahre aufgeholt werden. Eine Ausbildung zum Volksschullehrer sicherte der jungen Familie Preußler ein regelmäßiges Einkommen. 1956 stellte sich mit Der kleine Wassermann der erste große Erfolg ein, gekrönt vom Sonderpreis für Text und Illustration beim Deutschen Jugendbuchpreis. Entstanden im Erzählen für seine Töchter, erprobt an seinen Schulkindern und basierend auf dem Sagenschatz der Heimat begann mit diesem ersten Kinderbuch ein kometenhafter Aufstieg, kurz unterbrochen nur vom Vorwurf „schönfärberischer Weltabgewandtheit“ während der Eskapismusdebatte der 1970er-Jahre.

Buch für Buch führt Tilman Spreckelsen durch Preußlers Werk, beschreibt Inhalte, Quellen, Illustrationen, Rezeption und Preußlers besonderen, aus dem mündlichen Erzählen geborenen Stil. Ausführlich schreibt er über Preußlers jahrelanges Ringen mit dem schwierigen Krabat-Stoff, bevor das Buch 1971 erschien. Noch später datieren zwei mir besonders lieb gewordene Bücher: Hörbe mit dem großen Hut (1981) und Hörbe und sein Freund Zwottel (1983), die der Autor eigenhändig illustrierte:

Soweit ich zurückdenken kann, stand für mich fest, dass ich einmal Maler oder Schriftsteller werden wollte – am besten beides. (S. 257)

Berührend ist der langsame Rückzug aus der Öffentlichkeit ab Mitte der 1990er-Jahre und die bereits Jahre vorher einsetzende Rückbesinnung auf die eigene Lebensgeschichte und das schmerzlich gescheiterte Zusammenleben von Tschechen und Deutschen.

Der Brückenbauer
Neben dem ausgezeichneten Überblick über Otfried Preußlers Werk war für mich besonders dessen Entwicklung vom deutschnationalen Jugendlichen zum kulturellen Brückenbauer in die Tschechoslowakei und sogar ins ihm „während der Jahre des Krieges und der Gefangenschaft ans Herz gewachsene“ Russland interessant. Seine Reisen in beide Länder, neue Freundschaften, Übersetzungen und Nacherzählungen tschechischer Kinderbücher wie beispielsweise Kater Mikesch von Josef Lada (1962) und die Ablehnung von  Restitutionsforderungen haben mich beeindruckt.

Wer Otfried Preußlers Geburtstag in Erinnerung an eigene erste Bucherfahrungen und Vorleseerlebnisse mit Kindern und Enkel feiern möchte, dem empfehle ich wärmstens diese souverän erzählte, ausgezeichnet recherchierte, respektvolle aber nicht ehrfürchtige Biografie –  zur Unterhaltung ebenso wie zur Information.

Tilman Spreckelsen: Otfried Preußler. Ein Leben in Geschichten. Thienemann 2023
www.thienemann-esslinger.de

 

Rezensionen zu Kinderbüchern von Otfried Preußler auf diesem Blog:

 

Weitere Rezensionen zu Biografien über oder Autobiografien von Kinder- und Jugendbuchautoren auf diesem Blog:

   

Rezension zu einem Krimi von Tilman Spreckelsen auf diesem Blog:

Georges Simenon: La Marie du port

  Die Unberechenbare

Da ich im Urlaub gerne Romane aus der Region lese, habe ich mir im Sommer 2023 in Cherbourg La Marie du port des Belgiers Georges Simenon (1903 – 1989) gekauft. Anders als mit seinen erfolgreichen Krimis hoffte er mit seinen, wie er es nannte, „romans durs“ eine neue Stufe in seiner literarischen Entwicklung zu erreichen. Nachdem La Marie du port 1938 in Frankreich erschienen war, wurde es in der Presse wohlwollend besprochen, sein Kollege und Literaturnobelpreisträger André Gide (1869 – 1951) war – mit wenigen Einschränkungen –  begeistert und Georges Simenon selbst höchst zufrieden.

Studien vor Ort
Während eines Aufenthalts im normannischen Fischerdorf Port-en-Bessin im Oktober 1937 hatte Georges Simenon vom Hôtel de l’Europe am Quai Félix Faure einen erstklassigen Blick auf den Fischerhafen und die Drehbrücke, beides zentrale Elemente in La Marie du port.

Port-en-Bessin. © B. Busch

In trister Oktoberstimmung beginnt der Roman mit einem Begräbnis: Jules Le Flem, Witwer und Vater von fünf Kindern, wird unter großer Anteilnahme zu Grabe getragen. Aus Cherbourg ist die älteste Tochter Odile mit ihrem Liebhaber, dem großspurigen Restaurant- und Kinobesitzer Henri Chatelard angereist. Beim Leichenschmaus werden die drei jüngeren Geschwister unter den Verwandten verteilt, die 17-jährige Marie hat bereits eigene Zukunftspläne gemacht:

Je reste à Port.
Qu’est-ce que tu veux faire dans un trou comme Port-en-Bessin? Tu ne trouveras
seulement pas une place…
J’en ai déjà une.
ça?
Au Café de la Marine. (S. 20)

Ein folgenreicher Blick
Aus dem Fenster des Café de la Marine, in dem Marie zukünftig als Serviermädchen arbeiten möchte, hat Chatelard den Leichenzug beobachtet. Fasziniert von Marie, die nur halb so alt ist wie er, würde er sie am liebsten mit nach Cherbourg nehmen. Das resolute Mädchen, das sich von niemandem in die Karten schauen lässt, widersetzt sich in den nächsten Wochen jedoch jedem Annährungsversuch, obwohl Chatelard, der am Begräbnistag planlos ein verunfalltes Fischerboot ersteigert hat, jeden Tag wegen dessen Instandsetzung in Port-en-Bessin auftaucht…

Blick auf die Drehbrücke von Port-en-Bessin. © B. Busch

Zweierlei zeichnet den ungewöhnlichen, überraschend nüchternen Liebesroman für mich aus: einerseits die sehr genaue Beschreibung der Atmosphäre des Fischerdorfs, andererseits die Figur der Marie, deren Absichten sich jeder Einschätzung, sei es für Chatelard, für Odile, für die Bewohnerinnen und Bewohner von Port-en-Bessin oder für uns Leserinnen und Leser, entzieht. Die Unberechenbarkeit dieser willensstarken Geheimniskrämerin macht den Roman interessant und trotz der Handlungsarmut spannend.

Übersetzt und verfilmt
Obwohl Georges Simenon allgemein für seinen beschränkten Wortschatz kritisiert wird, war das Buch auf Französisch für mich eine Herausforderung. Auf Deutsch gibt es den Roman unter dem Titel Die Marie vom Hafen in einer inzwischen vergriffenen Ausgabe von 1989 im Diogenes Verlag, übersetzt von Ursula Vogel, und im Verlag Hoffmann und Campe seit 2019 in der Übersetzung von Claudia Kalscheuer. In der Verfilmung aus dem Jahr 1949 von Marcel Carné spielt Jean Gabin die männliche Hauptrolle, allerdings wurden die in Port-en-Bessin spielenden Szenen im knapp 90 Kilometer entfernt liegenden Saint-Vaast-la-Hogue im Cotentin gedreht, wo es eine ähnliche Drehbrücke und natürlich ebenfalls einen Hafen gibt.

Georges Simenon: La Marie du port. Gallimard 2003
www.gallimard.fr

Roy Jacobsen: Die Unwürdigen

  Grautöne

Vom 9. April 1940 bis zum 8. Mai 1945 dauerte die deutsche Besetzung Norwegens. Während König Haakon VII. und die demokratisch gewählte Regierung ins Londoner Exil flohen, setzten die Invasoren eine Marionettenregierung unter Vidkun Quisling ein, der nach dem Krieg wegen Hochverrats hingerichtet wurde.

Wie im dritten Teil seiner Barrøy-Saga Die Augen der Rigel erzählt Roy Jacobsen die Kriegs- und Nachkriegsgeschichte Norwegens in seinem Roman Die Unwürdigen nicht schwarz-weiß mit Helden und Schurken, sondern in Grautönen. Im Epilog lässt er einen seiner mittlerweile alt gewordenen Protagonisten über der These brüten, im Krieg wären je etwa zehn Prozent der Norweger im Widerstand bzw. Mitläufer und Kollaborateure gewesen, die restlichen achtzig Prozent dagegen gleichgültig. Was aber, fragt der alte Mann, ist mit den Unwissenden?

Ihr, die ihr die Besatzungszeit studiert, wisst so viel mehr darüber als wir, die wir sie gelebt haben, wir hatten nicht eure Wissensmengen und euren Überblick […]. (S. 328/29)

Überleben – egal wie
Für Carl, Olav und Roar, die drei Jugendlichen im Mittelpunkt, ist Politik Nebensache:

Olaf hatte ein Gesetz, dass dieser Krieg uns nichts angeht, dass es andere sind, die ihn betreiben. (S. 114)

Was sie wirklich betrifft, sind die beengten Wohnverhältnisse in der Arbeitersiedlung Åsen im nordöstlichen Teil Oslos, der leider auf dem Stadtplan vorn und hinten im Buch nicht eingezeichnet ist. Hier hausen sie mit Eltern und Geschwistern in Einzimmerwohnungen. Armut und Mangel begegnen sie kreativ, intelligent, gut organisiert und skrupellos entgegentreten, indem sie einbrechen, stehlen, den Schwarzmarkt beliefern, Dokumente fälschen und Norweger wie Besatzer betrügen. Ihre Beute wird von den Eltern kommentarlos angenommen als wichtiger Beitrag zum Überleben der Familien. Aber was machen eigentlich die Eltern? Carls Vater hat sich verändert, schlägt den Sohn, und Carl verachtet ihn dafür. Doch als er verhaftet und zu Tode geprügelt wird, hört Carl, dass der Vater ein „wichtiger Mann“ war – für wen? Die Liste mit leerstehenden Villen, die er ihm zuletzt gegeben hat, wird Grundlage für ihre nächsten Beutezüge. Olavs Vater setzt sich ab, nach Schweden, wie die Mutter glaubt, bevor auch sie packt und Richtung Deutschland verschwindet. Zurück bleiben die Jungen und ihre Geschwister, die fortan noch mehr Verantwortung übernehmen und mit noch mehr ungeklärten Fragen leben müssen.

Edvard Munch: Der Schrei, Munch-Museum Oslo. © M. Busch. Collage: © B. Busch

In 37 Kapiteln und einem Epilog, wobei das Kapitel 25 oder dessen Nummerierung fehlt, erzählt der Roman brutal und unsentimental vom Überleben in Kriegszeiten. Roy Jacobsen erspart seinen Protagonisten nichts, beschönigt und urteilt nicht und bringt uns die Mitglieder der kleinen Gemeinschaft filmhaft nah. Trotz ihrer Verbrechen bis hin zum Mord fiebert man mit ihnen mit, wenn sie ihren kleinen Geschwistern eine Kindheit schenken möchten, die sie selbst nie hatten, beneidet sie um den Zusammenhalt und leidet mit bei ihren Verlusten.

Show, don’t tell
Der 1954 in Oslo geborene Roy Jacobsen hat fast alle Literaturauszeichnungen Skandinaviens erhalten und wird in über 40 Sprachen übersetzt. Herausragend sind für mich seine inzwischen vier Bände der Barrøy-Saga, die hoffentlich fortgesetzt wird. Wie immer stellt er in Die Unwürdigen Zeigen über Erklären, und gerade dieser gedankliche Spielraum macht seine dicht, beinahe schroff erzählten, oft verstörenden Romane für mich so interessant. Überrascht hat mich, dass auch in Norwegen viele Täter nach Kriegsende  unbehelligt blieben, während die Opfer erfolglos um ihre Rechte kämpften.

Die Unwürdigen ist keine einfache Lektüre, eine sehr empfehlenswerte dagegen schon.

Roy Jacobsen: Die Unwürdigen. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Andres Brunstermann. C.H. Beck 2023
www.beck.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Roy Jacobsen auf diesem Blog:

     

Impressionen aus dem Literaturland Normandie – Teil 3 (Seine-Maritime)

Teil 1 des Beitrags gibt es hier, Teil 2 hier.

Flagge der Normandie. © M. Busch

Département Seine-Maritime

Zwischen Le Havre im Westen und Le Tréport an der Grenze zur Picardie im Osten erstreckt sich über gut 140 Kilometer die Côte d’Albâtre, der für seine Kreidefelsen, Steilküste, Schluchten und Kiesstränden berühmte Küsteabschnitt des Départements Seine-Maritime. An den Stränden gibt es im Juli und August eine ganz besondere Attraktion: 13 „Lire-à-la-plage“-Hütten mit über 13.000 Büchern aller Genres und exklusiv für Leserinnen und Leser reservierten, mit Liegestühlen und Sitzgelegenheiten bestückten Holzterrassen. Hier kann man kostenfrei und zeitlich unbegrenzt schmökern, in mitgebrachter Lektüre oder Entdeckungen vor Ort. Was für eine tolle Marketingaktion für das Lesen!

Lire à la plage an der Côte d’Albâtre. © B. Busch

Zum Beginn des Schuljahres 1931 wurde Jean-Paul Sartre (1905 – 1980) als Gymnasiallehrer für Philosophie nach Le Havre geschickt, wo er mit einer Unterbrechung bis 1936 blieb. Obwohl Simone de Beauvoir (1908 -1986) ab 1932 in Rouen unterrichtete und die Entfernung damit nicht mehr so groß wie nach Paris war, fühlte sich Sartre einsam, deplatziert und zunehmend depressiv.

Blick auf die Hafenanlagen von Le Havre. © M. Busch

Unweit der Côte d’Albâtre im Landesinneren und 20 Kilometer nordöstlich von Le Havre liegt das Dorf Cuverville. Hier heiratete der Literaturnobelpreisträger von 1947 André Gide (1868 – 1951) im Oktober 1895 seine Cousine Madeleine, eine Verbindung, die er aufgrund seiner Homosexualität als „die verborgene Tragödie“ seines Lebens bezeichnete. Die Ehe blieb dennoch bis zum Tod seiner Frau 1938 bestehen. Das Manoir de Cuverville aus dem Jahr 1730 hatte Madeleine geerbt. Als Kind verbrachte André Gide oft seine Ferien in Cuverville, während seiner Ehe hielt er sich häufig dort auf, empfing Besucher wie die Schriftstellerkollegen Roger Martin du Gard (1881 – 1958), Literaturnobelpreisträger 1937, Paul Valéry (1871 – 1945) oder Alain Fournier (1886 – 1914) und beschrieb das Haus in seinen Romanen. Die enge Tür, die seinem Roman La porte étroite (1909) den Titel gab, befindet sich hier, allerdings ist das Haus heute in Privatbesitz und kann nicht besichtigt werden. Auf dem Friedhof von Cuverville ist das Ehepaar Gide begraben.

Cuverville und André Gide. © B.&M. Busch

Ebenfalls in Privatbesitz, nur auf Anfrage zu besichtigen und leider gänzlich hinter Bäumen versteckt, liegt das Haus von Guy de Maupassant (1850 – 1893) in Étretat. Lediglich die Einfahrt und das Schild mit dem Namen des Hauses, „La Guillette“, ist von der Straße aus zu sehen. Von einem höher gelegenen Weg in einiger Entfernung erkennt man immerhin einen kleinen Zipfel der großen Villa im mediterranen Stil. Guy de Maupassant, geboren wahrscheinlich im Château de Miromesnil im Norden des Départements Seine-Maritime, lebte nach der Trennung seiner Eltern mit seiner Mutter in Étretat und baute sich dort 1883 die Villa, in der er fortan mehrere Monate im Jahr verbrachte und schrieb.

Villa La Guillette von Guy de Maupassant in Étretat. © M.&B. Busch

Guy de Maupassant liebte die Normandie und die Felsen von Étretat, denen er in seinem berühmten Roman La vie (1883, deutsch: Ein Leben, 1894) ein Denkmal setzte: „…et là-bas, en avant, une roche d’une forme étrange, arrondie et percée à jour, avait à peu près la figure d’un éléphant énorme enfonçant sa trompe dans les flots. C’était la petite porte d’Étretat. […] Et soudain on découvrit les grandes arcades d’Étretat, pareilles à deux jambes de la falaise marchant dans la mer, hautes à servir d’arche à des navires; tandis qu’une aiguille de roche blanche et pointue se dressait devant la première.“

Felsen von Étretat. © B. Busch

Im Gegensatz zu La Guillette ist Le clos Arsène Lupin, in der gleichen Straße gelegen, heute ein Museum. Der Autor und Erfinder des Gentleman-Gauners und Meisterdiebs Arsène Lupin, der in Rouen geborene Maurice Leblanc (1864 – 1941), kaufte die 1854 im Stil der Belle Époque erbaute Villa 1918 und wohnte dort 20 Jahre lang. Mehrere Bände der Arsène-Lupin-Reihe spielen an der Côte d’Âlbâtre, L’Aiguille creuse aus dem Jahr 1909 teilweise direkt an den Felsen von Étretat (deutsch: Die hohle Nadel, 1914, bzw. Arsène Lupin und der Schatz der Könige von Frankreich, Verlag Matthes & Seitz 2008).

Le clos Arsène Lupin in Étretat. © M.&B. Busch

Überhaupt haben die Felsen von Étretat zahlreiche Autorinnen und Autoren inspiriert, zu Krimis vor allem, aber auch zu Romanen. Zwei von ihnen möchte ich unbedingt noch lesen: Die Steinesammlerin von Étretat von Gerd Heidenreich und Klippen von Olivier Adam.

Im Inneren des Départements Seine-Maritime liegt das Städtchen Lillebonne, in dem die Literaturnobelpreisträgerin 2022 Annie Ernaux (*1940) zur Welt kam. Nur 25 Kilometer entfernt wuchs sie in Yvetot im gleichen Département auf. Während der Reise habe ich endlich mein erstes Buch von ihr gelesen, Die Jahre, und war begeistert von der erzählerischen Dichte und dem Rhythmus dieser „unpersönlichen Autobiografie“.

Annie Ernaux. © B. Busch

Direkt an der Seine liegt das entzückende Dorf Villequier, wo sich am 4. September 1843 ein schreckliches Unglück ereignete: Bei einem Bootsunfall ertranken Léopoldine, die schwangere Tochter von Victor Hugo (1802 – 1885), sowie ihr Mann Charles Vacquerie und zwei Verwandte. Im Haus der Familie Vacquerie in prächtiger Lage direkt an einer Schleife der Seine gelegen, wo der berühmte Schriftsteller mehrmals logierte, erinnert heute ein Museum, das Maison Victor Hugo, an ihn. Neben seinen Romanen, darunter Der Glöckner von Notre Dame von 1831 und Die Elenden von 1862, seinen Dramen, Reisebeschreibungen und Gedichten engagierte sich Victor Hugo auch politisch und setzte sich zusammen mit Honoré de Balzac (1799 – 1850) für ein Urheberrecht zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst ein. 

Villequier und das Maison Victor Hugo. © B. Busch

Unsere letzte Urlaubsstation, die Abbaye de Jumiège, liegt ebenfalls in einer Schleife der Seine und galt Victor Hugo als „schönste Ruine Frankreichs“. Nach einer wechselvollen Geschichte besiegelten die Religionskriege und die Französische Revolution das Ende dieses einst prachtvollen und mächtigen Klosters.

Abbaye de Jumiège. © B. Busch

Direkt gegenüber der Ruine begegnet man einer Gedenktafel an Maurice Leblanc, dem Vater der Arsène-Lupin-Reihe, der hier oft zu Gast war und sich von der Schönheit der Natur und der Ruinen inspirieren ließ.

Jumiège. © B. Busch

Leider ist auch der schönste Urlaub irgendwann vorbei, so dass für den geplanten Besuch in der normannischen Hauptstadt Rouen am Ende keine Zeit mehr blieb. Schade, denn es hätte dort weitere literarische Bezüge gegeben: zu Gustave Flaubert, Pierre Corneille, Simone de Beauvoir. Gerne hätte ich auch noch das 20 Kilometer von Rouen entfernte Dorf Ry besucht, wo – getarnt als Yonville-l’Abbaye – Gustave Flauberts berühmtester Roman Madame Bovary aus dem Jahr 1856 spielt, „ein Sittenbild aus der Provinz“. Manches Gebäude lässt sich wohl unschwer erkennen und das literarische Vorbild, die unglückliche Delphine Delamare (1822 – 1848), liegt auf dem örtlichen Friedhof begraben.

Grund und Stoff genug also für eine weitere Reise in die Normandie und eine Fortsetzung dieser Impressionen…irgendwann…

Impressionen aus dem Literaturland Normandie – Teil 2 (Calvados)

Teil 1 des Beitrags gibt es hier.

Flagge der Normandie. © M. Busch

Département Calvados

La tapisserie de Bayeux, der Teppich von Bayeux, wird von manchen als mittelalterlicher Urcomic bezeichnet. Bei dem 68 Meter langen und 50 Zentimeter hohen, mit farbigen Wollfäden bestickten Leinen aus dem 11. Jahrhundert handelt es sich um eine bildhafte Geschichtsdarstellung, die in 73 Szenen die Ereignisse rund um die Schlacht von Hastings mit der normannischen Unterwerfung Englands durch Wilhelm den Eroberer erzählt – mit verblüffenden und oft witzigen Details.

Der Teppich von Bayeux. © B. Busch
© B. Busch

In der weitgehend gotischen Kathedrale von Bayeux, für die der Teppich einst angefertigt wurde, gibt es einen Tympanon, der dem Märtyrer Thomas Becket (1118 – 1170), Erzbischof von Canterbury, gewidmet ist. Erinnert hat mich das an eines meiner Abiturthemen im Leistungskurs Französisch, das Schauspiel Becket ou l’Honneur de Dieu von Jean Anouilh (1910 – 1987), uraufgeführt 1919, das mir damals sehr gut gefallen hat – ganz im Gegensatz zum zweiten literarischen Schwerpunkt, Candide von Voltaire (1694 – 1778).

Auch wenn das erstmals 1938 erschienene Buch La Marie du Port des Belgiers Georges Simenon (1903 – 1989) beim Verlag Gallimard in der Reihe folio policier erscheint, ist es doch ausnahmsweise kein Krimi. Georges Simenon schrieb den Roman, der bei seinem Erscheinen auf allgemeine Begeisterung stieß, und mit dem er eine neue Stufe in seiner künstlerischen Entwicklung zu erreichen hoffte, 1937 während eines Aufenthalts im Hotel de l’Europe in Port-en-Bessin, wo er auch größtenteils spielt. Besonders die Szenen am Hafen und an der Drehbrücke mit der stimmungsvollen Atmosphäre, aber auch die sehr geheimnisvolle Protagonistin haben mir beim Lesen vor Ort Spaß gemacht.

Port-en-Bessin. © B. Busch

Deauville, international bekanntes Seebad an der normannischen Küste mit großem Yachthafen, Edelbutiken, fast endloser Strandpromenade „Les planches“, nostalgischen Strandkabinen, Pferderennbahn, Casino sowie Villen und Luxushotels aus der Belle Époque, zieht schon lange viel Prominenz an, unter ihnen die Maler des Impressionismus.

Der große französische Schriftsteller Gustave Flaubert (1821 – 1880) war ein Stammgast, als Deauville noch ein einfaches Dorf war. Seine Eltern besaßen hier einen Bauernhof, den er 1875 verkaufte.

Wesentlich mondäner war Deauville durch die Eisenbahnverbindung nach Paris schon längst, als der britische Romancier, Lyriker, Kritiker und Verleger Ford Maddox Ford (1873 – 1939) seinen Lebensmittelpunkt ab 1922 nach Frankreich verlegte, später zusätzlich in die USA. Er starb in Deauville. Von ihm stammt die Theorie der Seite 99, die man von einem Buch lesen muss, um sich ein Bild vom Ganzen zu machen. Tatsächlich nutze ich diese Idee von Zeit zu Zeit erfolgreich.

Deauville. © M. Busch

Nur durch das Flüsschen Touques von Deauville getrennt, ist Trouville-sur-Mer zwar älter und traditionsreicher, jedoch nicht so mondän wie die berühmte Nachbarin. „Nach Deauville kommt man, um sich zu zeigen; nach Trouville kommt man, um zu leben“, sagt der Volksmund.

Gustave Flaubert (1821 – 1880) erlebte am Strand von Trouville-sur-Mer einen fulminanten „Coup de foudre“, als er im Alter von 15 Jahren der 26-jährigen verheirateten Elisa Schlésinger begegnete. Diese unerfüllte Liebe beschäftigte ihn lebenslang und fand Eingang in sein Werk, unter anderem in L’éducation sentimentale. Eine Statue Flauberts am Ufer der Touques blickt in Richtung des Hotels der Verehrten und erinnert an die Begegnung.

Das direkt am Strand gelegene ehemalige Hotel Les Roches Noires aus dem Jahr 1866, das 1959 in Privatappartements umgewandelt wurde, war ein beliebter Urlaubsort für Persönlichkeiten wie Marcel Proust (1871 – 1922) und Marguerite Duras (1914 – 1996). Proust weilte ab 1885 mehrere Sommer in Trouville, wechselte aber nach der Eröffnung des neuen Grand Hotels ab 1907 bis 1914 ins nur 20 Kilometer entfernten Cabourg. Diesem Seebad setzte er in seinem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit unter dem Namen „Balbec“ ein Denkmal, allerdings ergänzt durch die Felsen von Trouville.

Les Roches Noires in Trouville-sur-Mer. © M. Busch
Trouville-sur-Mer, Strand. © M. Busch

Wie an viele andere Berühmtheiten erinnert auch an Marcel Proust heute eine Bank am Strand.

Marguerite Duras kaufte 1963 ein Appartement in Les Rouges Noires und verbrachte ihre letzten beiden Lebensjahrzehnte berühmt, vereinsamt und schwer alkoholabhängig hauptsächlich hier. Ab 1980 bis zu ihrem Tod leistete ihr der junge homosexuelle Philosophiestudent Yann Andréa (1952 – 2014) Gesellschaft, Möchtegern-Dichter, Bewunderer, Muse, Sekretär, Fahrer, Vertrauter, Hausmädchen, letzter Geliebter und Krankenpfleger. Die Treppe neben dem ehemaligen Hotel ist heute nach ihr benannt und eine Tafel erinnert an sie: „Regarder la mer est regarder le tout“. Ihre Bücher habe ich vor vielen Jahren mit Begeisterung gelesen, zuletzt dann 2018 die Biografie von Jens Rosteck mit dem Titel Marguerite Duras. Der Besuch in Trouville motiviert dazu, ihr Werk wiederzuentdecken.

Trouville-sur-Mer und Marguerite Duras. © M.&B. Busch

Das „Maison des Associations“ in Trouville-sur-Mer trägt zu Ehren von Stéphane Hessel (1917 – 2013) dessen Namen. 2010 landete der Widerstandskämpfer, KZ-Überlebende, Diplomat und Essayist mit seinem schmalen politischen Manifest Empört euch! einen internationalen Bestseller. Während der letzten 20 Jahre seines Leben verbrachte er viel Zeit in seinem eigenen Appartment in der Stadt, die für ihn zum Zufluchts- und Rückzugsort wurde.

„Seltsame und faszinierende Menschen am Strand, in den Hotels und auf den Promenaden“ sind der Stoff  von Undine Gruentner (1952 – 2003) in ihrem Erzählband Sommergäste in Trouville aus dem Jahr 2003, den ich unbedingt bald lesen möchte.

Ab 1859 hielt sich der Dichter Charles Baudelaire (1821 – 1867), der Verfasser von Les Fleurs du mal, nach dem Tod des verhassten Stiefvaters mehrmals länger in Honfleur bei seiner Mutter auf, deren Haus heute verschwunden ist. Einige seiner berühmten Gedichte sind in Honfleur entstanden, unter anderem Le Port, veröffentlich 1869 in der Sammlung Le Spleen de Paris: „Un port est un séjour charmant pour une âme fatigueé des luttes de la vie…“. Während seiner Besuche in der Stadt, die er mehr liebte als sie ihn, verbrachte er viel Zeit am Hafen.

Honfleur. © M. Busch

Nur etwa fünf Kilometer vom Trubel von Honfleur entfernt liegt abgeschieden das malerische Dörfchen Barneville-la-Bertrand. Etwas außerhalb davon findet man Le manoir de Breuil, einen alten normannischen Herrensitz aus dem 18. Jahrhundert, den Françoise Sagan (1935 – 2004) mit einem Casinogewinn im nahen Deauville 1958 kaufte. Sie behielt ihn bis zu ihrem Tod 2004 in einem nahen Krankenhaus. Die vorherigen Besitzer und Bewohner waren Vater und Sohn Guitry, der Schauspieler Lucien Guitry (1860 – 1925) und Sacha Guitry (1885 – 1957), ebenfalls Schauspieler, aber auch Filmregisseur, Dramatiker und Drehbuchautor. Die Romane von Françoise Sagan habe ich als Jugendliche verschlungen, vor allem Bonjour tristesse von 1954, das 2017 von Rainer Moritz neu übersetzt wurde, und Ein gewisses Lächeln von 1955. In jüngerer Zeit hat mir Lieben Sie Brahms aus dem Jahr 1959 gut gefallen.

Le manoir de Breuil und Françoise Sagan. © M&B. Busch

 

Teil 3 des Beitrags gibt es hier.

Impressionen aus dem Literaturland Normandie – Teil 1 (Manche)

Flagge der Normandie. © M. Busch

Als ich während unserer Norwegen-Reise im Sommer 2022 aufgrund einer spontanen Idee Impressionen aus dem Literaturland Norwegen zusammentrug und hier veröffentlichte, war ich überrascht, welch großen Spaß ich dabei hatte und wie groß die Resonanz war.  Nun, im Sommer 2023, bin ich unerwartet in der Normandie wieder auf so viele literarische Spuren gestoßen, dass sich eine Neuauflage fast von selbst ergab, dieses Mal sogar in drei Teilen. Nicht berücksichtigt habe ich die überaus zahlreichen Regionalkrimis deutscher und französischer Autorinnen und Autoren, über die man sich leicht selbst ein Bild machen kann.

Begleitet haben uns auf der Reise durch die Départements Manche (50), Calvados (14) und Seine-Maritime (76) der Reiseführer Normandie aus dem Michael Müller Verlag von Ralf Nestmeyer, fundiert, gut lesbar, mit vielen Anekdoten und interessanten Informationen, auch zu literarischen Bezügen. In der 3. Auflage von 2016 war er noch größtenteils aktuell, inzwischen gibt es eine Neuauflage von 2022. Drei Karten von Michelin im Maßstab 1:200.000 bzw. 1:150.000 haben uns in Ergänzung zum Autonavi überall zuverlässig ans Ziel gebracht. Auf den Ohren hatten wir mit Sehnsucht Frankreich (Der Hörverlag) sehr empfehlenswerte Features vom BR2, von denen drei – Le Havre, Étretat und der Mont-Saint-Michel – die Normandie betreffen.

© B. Busch

Département Manche

2013 war der Roman Die Brandungswelle von Claudie Gallay (*1961), im Original bereits 2008 erschienen, mein Lieblingsbuch. Er spielt auf der Halbinsel Cotentin, besonders am Cap de la Hague, wohin sich die namenlose Ich-Erzählerin in der Trauer um ihren Partner auf eine ornithologische Station zurückgezogen hat. Eine bedeutende Rolle kommt im Roman der rauen Natur zu, den vom Schicksal gezeichneten Dorfbewohnern und einem Gedicht von Jacques Prévert: Le gardien de phare aime trop les oiseaux. Claudie Gallay hat Teile des Buches in einem Fremdenzimmer mit Blick auf den Phare de Goury verfasst. Sehr empfehlenswert ist auch die Verfilmung von Éléonore Faucher mit dem deutschen Titel Gestrandet aus dem Jahr 2013.

Cap de la Hague und Phare de Goury. © M. Busch

Nur wenige Kilometer vom Leuchtturm von Goury entfernt hat der große französische Lyriker, Romancier und Drehbuchautor so berühmter Filme wie die Kinder des Olymp (1945) und Der Glöckner von Notre Dame (1956) gelebt: Jacques Prévert (1900 – 1977). Viele seiner gut zugänglichen Gedichte wurden vertont, darunter Les feuilles sont mortes und Barbara (über die Bombardierung von Brest während des Zweiten Weltkriegs), und von so bekannten Chansonniers wie Juliette Greco oder Yves Montand interpretiert. Sein Haus in Omonville-la-Petite, wo er ab 1971 inmitten eines herrlichen Gartens gelebt hat, sowie sein Grab auf dem örtlichen Friedhof lohnen einen Besuch sehr.

Haus, Grab und Picasso-Porträt von Jacques Prévert in Omonville-la-Petite. © B.&M. Busch

Von eher lokaler Bedeutung, wegen ihrer bäuerlichen Herkunft jedoch interessant, ist die Müllerin und Dichterin Marie Ravenel (1811 – 1893), die ihr ganzes Leben im Cotentin verbrachte. Die reetgedeckte Wassermühle aus dem 18. Jahrhundert in Réthoville, in der sie bis 1838 lebte, ist wunderschön restauriert und heute Museum. Ihre naturverbundenen Gedichte über ihre Heimat, die sie ab 1852 veröffentlichte, erscheinen in Frankreich bis heute.

Die Wassermühle der Marie Ravenel in Réthoville. © B. Busch

Ein weiteres Geburtshaus eines Dichters kann man in Saint-Sauveur-le-Vicomte besichtigen. Hier kam der Schriftsteller, Essayist, Kunstkritiker, Journalist und Moralist Jules Barbey d’Aurevilly (1808 – 1889) zur Welt, exzentrischer Dandy, überzeugter Monarchist, Katholik und scharfer Kritiker der Moderne. Der Verlag Matthes & Seitz hat sieben seiner Werke in den letzten Jahren in neuer deutscher Übersetzung aufgelegt, darunter Die alte Mätresse (2008), verfilmt 1975 und teilweise im Cotentin spielend, Gegen Goethe (2006) und Über das Dandytum (2006). Sein Grab befindet sich heute unterhalb des mittelalterlichen Schlosses seiner Geburtsstadt, nachdem er zunächst auf dem Friedhof Montparnasse in seiner Wahlheimatstadt Paris bestattet worden war.

Saint-Sauveur-le-Vicomte und Jules Barbey d’Aurevilly. © B. Busch

Immerhin einen Urlaub verbrachte Émile Zola (1840 – 1902) im Cotentin: 1881 im hübschen Hafenstädtchen Saint-Vaast-la-Hogue, das für seine Austern bis nach Paris bekannt ist. Allerdings spielt seine pointierte und auch als Hörbuch sehr empfehlenswerte Erzählung Die Muscheln von Monsieur Chabre nicht an der normannischen, sondern an der bretonischen Atlantikküste – leider, denn sie hätte sehr gut hierher gepasst.

St.-Vaast-la-Hogue. © B. Busch

Dafür stammt die Protagonistin Denise aus seinem großen und sehr empfehlenswerten Roman Das Paradies der Damen aus Valognes, einer Kleinstadt im Zentrum der Halbinsel.

Die Ouest-France online berichtete am 3.08.2023 über den Tod des Journalisten und Romanciers Gilles Perrault (1931 – 2023) in seinem Wohnort Sainte-Marie-du-Mont. Da mir sein Name bekannt vorkam und wir am nächsten Tag zufällig durch das Städtchen kamen, ging ich der Sache nach. Tatsächlich steht seit etwa 40 Jahren sein Sachbuch Auf den Spuren der roten Kapelle in meinem Bücherschrank und hat mich seinerzeit bei der Lektüre sehr fasziniert. Allerdings scheint es dem heutigen Forschungsstand zu Widerstandsgruppen im Dritten Reich nicht mehr zu entsprechen.

Sainte-Marie-du-Mont und Gilles Perrault. © B. Busch

In Cherbourg verlockte die sehr gut sortierte und übersichtliche Librairie Ryst zum Einkauf.

Cherbourg, Librairie Ryst. © B. Busch

An der Fassade des Theaters von Cherbourg sind die Büsten der großen französischen Dramatiker Molière (1622 – 1673) und Pierre Corneille (1606 – 1684) zu sehen, die den Komponisten François-Adrieu Boieldieu (1775 – 1834) einrahmen. Corneille und Boieldieu sind gebürtig in der normannischen Hauptstadt Rouen.

Theater von Cherbourg. © B. Busch

Eine besondere Entdeckung bot das Château des Ravalets im Cherbourger Vorort Tourlaville: eine Ausstellung des Comic- sowie Graphic-Novel-Künstlers und Schriftstellers Fabio Viscogliosi (*1965). Seine knallbunten, flächigen Comiczeichnungen an den Wänden eines deutlich in die Jahre gekommenen Renaissance-Schlosses bildeten einen ebenso überraschenden wie gelungenen Kontrast.

Château des Ravalets. © B. Busch

Bekannt ist das Schloss für die inzestuöse Liebe der Geschwister Ravalet, die deswegen am 2. Dezember 1603 in Paris enthauptet wurden. Für den französischen Autor Tancrède Martel (1856 – 1928) war dieser Skandal 1920 Vorlage für seinen historischen Roman Julien et Marguerite de Ravalet 1582 – 1603.

Gedenktafel im Museum Utah Beach. © B. Busch

Im Musée du débarquement am Utah Beach, einem der Landungsstrände der Alliierten am 6. Juni 1944, gibt es eine Gedenktafel für den Schriftsteller und Piloten Antoine de Saint-Exupéry (1900 – 1944), der vor allem mit Der kleine Prinz bekannt wurde. Obwohl er nicht an der Landung beteiligt war, wird an sein tiefes Gefühl der Dankbarkeit gegenüber den Amerikanern erinnert, das er in einem Lettre à un américan 1944 zum Ausdruck brachte.

Überall in der Manche gibt es inzwischen offene Bücherschränke, selbst in kleinsten Dörfern. Leider kann der Inhalt meist nicht mit dem Äußeren der Boîtes à livres mithalten.

Offene Bücherschränke in der Manche. © B. Busch

 

Teil 2 des Beitrags gibt es hier.