Hannah O’Brien: Irisches Roulette

Spielernaturen

Nach Irisches Verhängnis, dem ersten Fall der Irland-Rückkehrerin Grace O’Malley und seit nunmehr über drei Monaten Leiterin des Morddezernats der Garda Galway, geht es im Folgeband Irisches Roulette um die internationale Wettmafia, die von Asien aus operierend auch vor der Grünen Insel nicht Halt macht.

Alles beginnt mit dem Mord an Tom Nolan, einem Angestellten eines Wettbüros, das ausgerechnet dem Zwillingsbruder von Graces verlässlichstem Mitarbeiter Rory Coyne gehört. Damit ist Rory vorerst von den Vermittlungen ausgeschlossen und Grace muss mit dem ihr unzuverlässlich erscheinenden Kevin Day zusammenarbeiten, der den Kampf um die Stelle des Superintendenten gegen sie verloren hat.

Die beginnenden Ermittlungen fallen in eine Zeit des sportlichen Ausnahmezustands in Irland: Es steht nicht nur das Finale im Gaelic Football bevor, sondern auch die berühmte Woche der Pferderennen. Grace und ihr alter Freund, der Privatdetektiv Peter Burke, arbeiten sich derweilen in die Welt der Wetten und Wettmanipulationen ein. Eine international agierende Wettmafia installiert dazu in jedem Gebiet einen möglichst unauffälligen Landeschef, viele sogenannte „Runner“, also Leute mit Kontakten zu Spielern oder anderen im Sportmilieu Tätigen, und möglichst einen Verbindungsmann bei der Polizei, der oft unbewusst zum informellen Mitarbeiter wird. Tom Nolan gehörte eher zur Kategorie „Runner“, wie Grace schnell klar wird, aber wer sind die Hintermänner, wer hat ihn umgebracht und warum und wer schwebt noch in Gefahr? Recherchearbeit ist diesmal auch im Stadion und auf der Pferderennbahn angesagt. Bei insgesamt zwei Leichen in einer Woche und drei Verschwundenen bleibt für die Ermittler allerdings keine Zeit, die sportlichen Spektakel zu genießen.

Wie auch bei Band eins der Reihe um die sympathische Ermittlerin, den ich während einer Irland-Reise gelesen habe, hat mich wieder die Beschreibung der irischen Landschaft, der Stadt Galway und der Iren, kurz gesagt das irische Flair, noch mehr begeistert als der Kriminalfall. Es macht einfach Spaß, diese unterhaltsamen, eingängigen Krimis zu lesen, die Gegend um Galway vor Augen zu haben und sich in den Urlaub zurück zu träumen. Die deutsche Journalistin und Autorin Hannah O’Brien, die lange in Irland gelebt hat, fängt all das wunderbar ein und bettet es in eine durchdachte Krimihandlung, wobei auch das Privatleben der Protagonisten nicht zu kurz kommt.

Ich freue mich auf den dritten Band, der für das Frühjahr 2017 angekündigt ist. Vielleicht kommen sich Grace und Peter dann ja auch privat endlich näher?

Hannah O’Brien: Irisches Roulette. dtv 2016
www.dtv.de

Rüdiger Bertram: Jacob, der Superkicker

Es geht nichts über gute Freunde

Büchersterne ist die Reihe für Erstleser aus dem Oetinger Verlag, die für Lesespaß in drei Stufen sorgen soll. Der vorliegende Band Jacob, der Superkicker von Rüdiger Bertram gehört zur mittleren Kategorie für die erste und zweite Klasse, ist in großer Fibelschrift und im Flattersatz mit kurzen Zeilen gedruckt, hat kurze Leseabschnitte und ist in fünf Kapitel unterteilt, ist textunterstützend illustriert von Alexander Bux und bietet auf acht Doppelseiten am Ende viele abwechslungsreiche Rätselangebote mit Lösungen.

Jacob klebt das Pech an den Hacken, denn ihm will einfach kein Tor mehr gelingen. Der Trainer wechselt seinen einstigen Superstürmer sogar aus und verordnet ihm eine zweiwöchige Auszeit, denn ein Stürmer, der das Tor nicht mehr trifft, ist so nutzlos wie ein Fahrrad ohne Lenker. Zwei Wochen ohne Fußball – wie soll das gehen? Jacob ist verzweifelt, doch zum Glück hat er Tom und Paul, mit denen er ein Baumhaus bauen kann. Doch als es plötzlich darauf ankommt, weil drei fremde Jungs ihn und seine Freunde zu einem Match um das neue Baumhaus herausfordern, ist der Bann plötzlich gebrochen und Jacobs Torriecher wieder da. Und so kann er nicht nur in sein Team zurückkehren, es wartet auch noch eine faustdicke Überraschung auf ihn…

Das Erstleserbuch für kleine Fußballfans zeigt, worauf es im Leben wirklich ankommt: auf gute Freunde!

Rüdiger Bertram: Jacob, der Superkicker. Oetinger 2016
www.oetinger.de

Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe

Selbstbestimmtes Leben und Sterben

Inspiriert von einem Bericht über 250 alte Frauen, die „nach dem Reaktor“, also nach dem Reaktorunfall von 1986 in Tschernobyl, nicht mehr in den ihnen zugeteilten Flüchtlingsunterkünften wohnen wollten, sondern in die verseuchten „Todesdörfer“ zurückkehrten, hat die deutsch-russische Autorin Alina Bronsky ihren kleinen Roman Baba Dunjas letzte Liebe verfasst. 2015 zurecht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis, ist er ein Beitrag zur Diskussion darüber, wie wir altern und sterben wollen und was echte Freiheit ist.

Baba Dunja, die eigentlich Evdokija Anatoljewna heißt, ist nach dem Gau in ihr Dorf Tschernowo zurückkehrt, als erste einer kleinen Zahl von Menschen, die die Hälfte der etwa 30 Häuser bewohnen. Die Regierung duldet sie, ansonsten schlagen sie sich alleine durch, trinken Brunnenwasser und essen, was die fruchtbaren Gärten hervorbringen. Nur selten fährt einer in die nächste, weit entfernte und schlecht zu erreichende Stadt, um die Post zu holen oder Einkäufe zu machen. Zu Besuch kommen gelegentlich Fotografen, Filmleute, Biologen oder eine Krankenschwester, alle im Strahlenschutzanzug.

Die kleine Gruppe empfindet sich nicht als Gemeinschaft, jeder ist um der Ruhe willen gekommen. Die Ich-Erzählerin Baba Dunja, die von den anderen als „Bürgermeisterin“ angesehen wird, sagt von sich, dass sie dort ihre friedlichsten Jahre verbracht hat, losgelöst von allen Verpflichtungen anderen gegenüber, sogar von ihren weit entfernt lebenden Kindern, und vor allem ohne Zeit: „Was ich in Tschernowo niemals gegen fließend Wasser und eine Telefonleitung eintauschen würde, ist die Sache mit der Zeit. Bei uns gibt es keine Zeit. Es gibt keine Fristen und keine Termine.“ Auch Angst kennt Baba Dunja nicht mehr, obwohl sie sich der unsichtbaren Bedrohung durchaus bewusst ist und den Fremden, der mit seiner gesunden kleinen Tochter zu ihnen kommt, keinesfalls im Dorf dulden möchte.

Doch auch Tschernowo ist kein rechtsfreier Raum, und als der Fremde ermordet wird, verhaftet die Miliz kurzerhand alle Dorfbewohner. Baba Dunjas letzte Liebe, ihr Haus, ihr Frieden, ihre Selbstbestimmung stehen auf dem Spiel.

Unwillkürlich habe ich bei der Lektüre begonnen, über mein eigenes Altern und die Freiheit, selbst darüber zu entscheiden, nachgedacht. Die Todeszone muss es nicht sein, aber ein bisschen von Baba Dunjas Unabhängigkeit und Selbstbestimmung wäre schön.

Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe. Kiepenheuer & Witsch 2015
www.kiwi-verlag.de

Stefan Ahnhem: Minus 18°

Leider ein bisschen zuviel von allem

Minus 18° war mein erster Krimi des hochgelobten schwedischen Autors Stefan Ahnhem, obwohl es sich dabei schon um Band drei der Fabian-Risk-Serie handelt, und es wäre sicher einfacher gewesen, wenn ich Herzsammler sowie Und morgen du bereits gekannt hätte. Aber auch so war der Einstieg möglich und Andeutungen bzgl. der Vorgängerbände haben meine Neugier auf die Vorgeschichte geweckt.

Alles beginnt in Helsingborg, der Stadt im südschwedischen Schonen, als der Fahrer eines BMW nach einer wilden Verfolgungsjagd mit der Chefin des örtlichen Kommissariats wegen eines abgefahrenen Außenspiegels über die Kaimauer in Norra Hamn rast und zu Tode kommt. Dieser Fall, der eine lange Flaute beim örtlichen Ermittlerteam beendet, wird interessant durch die unglaubliche Feststellung des Rechtsmediziners, dass der Tote auf dem Fahrersitz, der schwerreiche IT-Unternehmer Peter Brise, bereits seit ungefähr zwei Monaten tot und seither tiefgefroren war. Doch was ist mit der Aussage von Zeugen, die ihn zuletzt noch getroffen haben? Was als tragischer Verkehrsunfall begann, wird für das Helsingborger Ermittlungsteam und den sympathischen Fabian Risk nach und nach zu einem Fall nie dagewesenen Ausmaßes, zu einem Alptraum an Brutalität. Nicht nur, dass ein 18 Monate zuvor fälschlicherweise als Selbstmord zu den Akten gelegter Todesfall den oder dem Täter zugeordnet werden muss, steht die Befürchtung im Raum, dass weitere Opfer folgen werden. Und nicht nur sie schweben in Todesgefahr, jeder und jede, die dem oder den Tätern zu nahekommen, wird brutal ermordet, so dass es schnell jede Menge Leichen gibt.

Parallel zur Mordserie in Helsingborg bekommt es auf der anderen Seite des Öresunds im benachbarten Dänemark die zum Streifendienst degradierte Ermittlerin Dunja Hougaard mit einem Fall von „Happy Slapping“ zu tun, bei dem Jugendliche vor laufender Handykamera Obdachlose hinrichten und die Filme anschließend ins Netz stellen.

Minus 18° ist zweifellos ein sehr spannender Krimi, den auch ich kaum aus der Hand legen konnte, doch wirklich überzeugt hat er mich trotzdem nicht. Neben der unglaublichen Gewalt hat Stefan Ahnhem für meinen Geschmack auch viel zu viel in diese 550 Seiten hineingepackt. So hat nicht nur Fabian Risk ein breiten Raum einnehmendes Privatleben mit Problemen, über die man fast schon einen eigenen Roman schreiben könnte, seine Chefin trinkt nach ihrer Scheidung, die dänische Kollegin führt einen Privatkrieg gegen einen ehemaligen Vorgesetzten, ein Kollege nimmt sich anscheinend das Leben und eine ehemalige Kollegin leidet noch immer unter den Folgen eines Einsatzfehlers von Risk. Positiv ist dabei allerdings zu vermerken, dass man als Leser trotz aller Orts- und Perspektivwechsel nie den Faden verliert, was für Ahnhems Können spricht. Das an sich hochspannende, zentrale Thema „Identitätsdiebstahl“ wird allerdings durch die schiere Anzahl der Fälle ebenfalls überstrapaziert und verliert dadurch im Laufe des Krimis immer mehr an Glaubwürdigkeit. Hier wie bei den Nebenhandlungen wäre für mich weniger eindeutig mehr gewesen. Schade, denn die leider aus dem realen Leben stammenden Themen und das überwiegend sympathische Personal hätten mehr Potential gehabt.

Ich werde trotzdem mit Herzsammler noch einen weiteren Versuch machen. Ob ich allerdings den Folgeband lese, muss ich mir trotz des Cliffhangers noch überlegen.

Stefan Ahnhem: Minus 18°. Ullstein 2017
www.ullsteinbuchverlage.de

Philip B. Kerr: Das Akhenaten-Abenteuer

Plötzlich Dschinn

Viele kennen den Briten Philip B. Kerr eher aus dem Krimi- und Thriller-Genre, aber mit der Kinder- und  Jugendbuchreihe Die Kinder des Dschinn hat er sich erfolgreich in den Fantasy-Bereich geschrieben.

Die 12-jährigen Zwillinge John und Philippa aus New York sind ganz normale Teenager bis zum Tag, an dem ihnen operativ die Weisheitszähne entfernt werden. Von nun an ist nichts mehr, wie es war, und während ihrer Ferien bei ihrem Onkel Nimrod in London erfahren sie, dass sie keineswegs normale Kinder, sondern Nachfahren der Dschinn oder Flaschengeister sind und eine Mission zu erfüllen haben. Ihre Aufgabe ist es, 70 verschollene Dschinn zu finden, die einst dem ägyptischen Pharao Echnaton gehört haben, damit sie nicht den bösen Dschinns, den Ifrits, in die Hände fallen. Es gilt, die Menschheit vor dem Bösen zu retten, und dafür müssen John und Philippa um die halbe Welt reisen und zahlreiche Abenteuer bestehen.

Das Akhenaten-Abenteuer bildet den Auftakt zu dieser inzwischen vielbändigen Jugend-Fantasy-Buchreihe. Obwohl mir die Grundidee eigentlich gefallen hat, konnte mich die Umsetzung nicht überzeugen. Die Charaktere sind nach meinem Empfinden zu grob gezeichnet und zu glatt, John und Philippa zu allwissend und clever und das Ende hat mich nicht wirklich überrascht. Aber zehn- bis zwölfjährige Jungen und Mädchen können sich sicher eher für die Abenteuer der Zwillinge begeistern als ich, schließlich sind sie auch die Zielgruppe der Reihe.

Philip B. Kerr: Das Akhenaten-Abenteuer. Rowohlt 2006
www.rowohlt.de

Alexandra Fröhlich: Gestorben wird immer

Wie alles zusammenhängt

Zu Beginn des Romans Gestorben wird immer habe ich einfach nur eine durch und durch schreckliche Familie gesehen, unsympathisch und, wie Enkelin Birte es ausdrückt „jeder mit einem Dachschaden“, ein Alptraum für die, die dazugehören. Agnes Weisgut, 91-jährige Patriarchin und ebenso vermögende wie granitharte Chefin eines florierenden Hamburger Steinmetzbetriebs, ihre zerstrittenen Söhne Karl, eingefleischter Junggeselle, und Klaus, geschieden, die seit 20 Jahren verschwundene Tochter Martha, die als verrückt gilt, und die ihre Kinder Birte und Peter traumatisiert in der Obhut des bisweilen gewalttätigen, trinkenden Vaters und der Großmutter zurückgelassen hat, und Bosse, Klaus‘ Sohn, der mit dem Tod seiner Schwester und der Scheidung seiner Eltern schwer zu kämpfen hat.

Doch wie sind eigentlich alle so geworden, wie sie sind? Agnes Weisgut beauftragt ihre Enkelin Birte, die ihr in ihrer Hartnäckigkeit, Zähigkeit und Zielstrebigkeit am ähnlichsten ist, die Familie noch einmal zu versammeln. Sie möchte reinen Tisch machen, von ihrer Schuld erzählen, für die sie lebenslang büßt, nicht um Vergebung zu erhalten, sondern damit die Familie versteht und von ihrer aller Ursprung erfährt.

Für mich war Gestorben wird immer das erste Buch aus dem 2016 unter dem Dach der Verlagsgruppe Random House gegründeten Penguin Verlag und ich war begeistert von diesem Roman, in dem die Journalistin Alexandra Fröhlich 70 Jahre Zeitgeschichte exemplarisch, klug und unterhaltsam erzählt. Meine anfängliche Befürchtung, es könnte sich um eine seichte Familiengeschichte handeln, löste sich schnell in Luft auf. Je mehr ich über die tragische Lebensgeschichte von Agnes erfuhr, die so vielversprechend mit einer glücklichen Kindheit in Ostpreußen begann und nach dem Abitur eine glänzende Zukunft mit vielen Optionen versprach, desto mehr Verständnis, ja sogar Sympathie konnte ich für sie aufbringen, obwohl ich es angesichts dessen, was sie getan hat, kaum auszusprechen wage.

Am Ende blieb bei mir von der anfänglichen Antipathie gegen die Familie Weisgut jedenfalls nicht mehr viel übrig, empfand ich eher Mitleid und die Hoffnung, dass mit dem Aussprechen der Wahrheit alles besser wird, denn: „So viele Leben, dachte Agnes, so viele Tote. Bald bin ich dran. Aber so war es gut, so konnte es enden.“

Alexandra Fröhlich: Gestorben wird immer. Penguin 2016
www.randomhouse.de

Elena Ferrante: Die Geschichte eines neuen Namens

Eine in beiden, beide in einer

Das Cover lässt keinen Zweifel am Verlauf der Ehe, die Raffaella Cerullo, genannt Lina oder Lila, zu Ende des ersten Bandes Meine geniale Freundin der Neapolitanischen Tetralogie von Elena Ferrante eingegangen ist. Der Brautschleier steht horizontal vom Kopf ab, der Wind reißt die Blütenblätter aus dem Brautstrauß.

Nahtlos erzählt Elena Ferrante im zweiten Band Die Geschichte eines neuen Namens die Lebensgeschichten der beiden Freundinnen Lila und Elena, genannt Lenù, aus dem armen Neapolitaner Viertel Rione weiter. Genauer gesagt ist es Lenù, die erzählt, 60 Jahre nach dem Beginn ihrer Freundschaft, als Lila plötzlich verschwindet.

Beide Mädchen sind hochbegabt, doch nur Lenù erhält von ihren Eltern widerwillig die Erlaubnis, die Aufnahmeprüfung zur Mittelschule abzulegen. Lila, die noch Begabtere, muss die Schule verlassen und rettet sich mit 16 Jahren in eine Ehe mit Stefano, einem Salumeria-Besitzer und Verbündeten des Camorra-Clans der Solara-Brüder, die ihr einen gewissen Aufstieg sichert, nicht jedoch das Entkommen aus dem Rione. Bereits während der Hochzeitsfeier kommt es zu einem Eklat, die Hochzeitsnacht verläuft traumatisch und Stefano bedient sich, nicht zuletzt, weil er in keinster Weise mit Lilas Wesen zurechtkommt, der im Rione üblichen Prügel. Lila versucht immer wieder, ihre Situation zu verbessern, indem sie sich für eine Sache  begeistert und sich vollkommen hineinstürzt, verliert aber die Lust, sobald sie sie beherrscht. Die Unterdrückung ihrer geistigen Fähigkeiten führt zu dem, was man seit einigen Jahren als „Boreout-Syndrom“, einem Zustand ausgesprochener Unterforderung, bezeichnet.

Während einer Erholungsreise nach Ischia, wohin Lila, die zum Ärger ihres Mannes nicht schwanger wird, Lenù als bezahlte Angestellte mitnimmt, entdeckt Lila ihre Liebe zu Nino, Lenùs angebetetem Schwarm, und stürzt sich in eine Affäre mit ihm, die sie auch nach der Rückkehr nach Neapel nicht beendet. Lilu, die sich davon eine Wiederherstellung ihres Selbstwertgefühls verspricht, setzt wie immer auf Risiko, nimmt sich, was sie will, hat keine Angst vor Gespött, Prügel und Verachtung und verliert alles, während Lenù mit einem Stipendium in Pisa studiert und im Alter von noch nicht einmal 23 Jahren als Dottoressa und einem Diplom in Philologie mit Bestnote und Auszeichnung, einem Verlobten aus bester Familie mit Aussicht auf eine Universitätskarriere und einem Vertrag für einen Roman zurückkehrt. Nach langer Zeit sehen die beiden sich wieder, nun unter ganz anderen Vorzeichen als vor ihrem Bruch und ihrer langen Trennung.

Zwar bin ich nicht dem Ferrante-Fieber erlegen, aber ich gebe zu, dass ich mich inzwischen zu den Fans dieser vierbändigen Saga zähle und mich jetzt schon auf den nächsten Band in einigen Monaten freue, nicht nur wegen des erneuten Cliffhangers. Ich bin fasziniert von der genauen Schilderung der beiden unterschiedlichen Lebenswege und hatte nie auch nur ansatzweise das Gefühl, der Roman hätte Längen. Beide Schicksale, sowohl Lenùs von unzähligen Selbstzweifeln überschatteter Aufstieg und ihre langsame, aber unaufhaltsame Loslösung aus dem Rione, als auch Lilas verzweifelte Versuche, das Beste aus ihrem Leben zu machen, obwohl man ihr alle Möglichkeiten frühzeitig genommen hat, sind packend erzählt, ebenso wie die Mischung aus Rivalität und inniger Verbundenheit zwischen den beiden Mädchen.

Eine dichte, düstere Milieustudie der 1960er-Jahre in schnörkelloser, distanzierter Sprache und ein großartiger Unterhaltungsroman!

Elena Ferrante: Die Geschichte eines neuen Namens. Suhrkamp 2017
www.suhrkamp.de

Eva Ibbotson: Maia oder Als Miss Minton ihr Korsett in den Amazonas warf

Viktorianisches England versus farbenprächtige Freiheit des Amazonas

Eine faszinierende Abenteuerreise von London in den Amazonas erlebt die aufgeweckte Waise Maia zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aus Manaus melden sich plötzlich Verwandte von ihr in dem Londoner Internat, wo die ca. 13-Jährige recht zufrieden lebt, auch wenn der Schmerz über den Verlust der Eltern sie bedrückt. Das Ehepaar Carter und seine Zwillinge möchten Maia bei sich aufnehmen. Neugierig auf das Land und die ihr unbekannten Verwandten bricht Maia zusammen mit ihrer Gouvernante Miss Minton nach Manaus auf und erfährt zunächst eine riesengroße  Enttäuschung. Die Carters leben völlig abgekapselt von ihrer Umgebung, haben keinerlei Sinn für das Land und interessieren sich lediglich für Maias Vermögen. Doch dann lernt sie Finn kennen, verliebt sich in den Amazonas und lernt allmählich, den Schmerz über den Tod ihrer Eltern zu überwinden. Sogar die strenge Miss Minton kann schließlich in der Farbenpracht und Exotik des Regenwalds ihre strenge viktorianische Haltung hinter sich lassen und wirft ihr Korsett über Bord, besteht allerdings weiterhin auf dem Mathematikunterricht und dem Zähneputzen.

Maia oder Als Miss Minton ihr Korsett in den Amazonas warf ist ein spannendes, informatives Abenteuerbuch für Mädchen zwischen zehn und zwölf Jahren, ein bisschen altmodisch vielleicht, aber auf eine angenehm sympathische Art und Weise.

Eva Ibbotson: Maia oder Als Miss Minton ihr Korsett in den Amazonas warf. dtv junior 2006
www.dtv.de

Dörte Hansen: Altes Land

Frostschutz durch Vereisung

Im Alten Land, der Elbmarsch südlich von Hamburg, kommt, wie Dörte Hansen in ihrem Debütroman erzählt, zuerst der Fluss, dann das Land, dann die Backsteine und Eichenbalken, dann die Menschen mit den alten Namen, denen das Land und die alten Häuser gehören, und ganz zuletzt, wie „Flugsand“ oder „angespülter Saum“ die Ausgebombten, Weggejagten, Großstadtmüden, Landlosen und Heimatsuchenden.

Zwei der letztgenannten Gattung stehen im Mittelpunkt des Romans Altes Land der 1964 geborenen Journalistin: Vera kommt als Fünfjährige mit ihrer Mutter Hildegard von Kamcke 1945 aus Ostpreußen auf den Eckhoffschen Hof, von der Besitzerin Ida Eckhoff als „Polacken“ beschimpft und nur in der Gesindekammer geduldet, bis zwei Jahre später der schwer traumatisierte Hoferbe Karl mit einem steifen Bein aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehrt und Hildegard heiratet. Als diese den Hof verlässt, um in Hamburg noch einmal neu anzufangen und eine neue Familie mit einem Nachkriegskind, der 14 Jahre nach Vera geborenen Marlene, zu gründen, bleibt Vera allein mit Karl zurück in diesem Reetdachhaus, das schon 9 oder 10 Generationen Eckhoffs vor ihr bewohnt haben, in dem sie immer friert, in dem alles alt, schwer und ererbt ist, und in dem sie mit den Dingen lebt, als gehörten sie ihr nicht.

Erst als zu Vera, die inzwischen ein Berufsleben als Zahnärztin hinter sich hat, zwei Flüchtlinge aus Hamburg kommen, ihre Nichte Anne mit dem kleinen Leon, deren Leben aus den Fugen geraten ist, erwacht das Haus, das Vera nie „schier“, nie „in Ordnung“ gehalten hat, zu neuem Leben. Sie, die „alte Hexe im schiefen Haus“, nimmt die beiden Unbehausten bei sich auf und Anne, die verkrachte Musikerin und Tischlerin, beginnt dafür zu sorgen, dass Reetdach, Fachwerk und Fenster zukunftsfest gemacht werden.

Vordergründig scheint das Thema des Romans „Flucht“ zu sein, doch bei genauerer Betrachtung geht es eher um „Heimatsuche“. Hildegard von Kamcke kann die Folgen der Flucht nie überwinden und rettet sich in die Verdrängung. Erst auf einer Reise nach Masuren wird ihrer zweiten Tochter, dem Nachkriegskind Marlene, und ihrer Enkelin Anne klar, dass sie es so gemacht hat, wie die Apfelbauern im Alten Land, wenn während der Blüte Nachfrost droht: Frostschutz durch Vereisung. Vera dagegen verlässt ihren ererbten Hof zwar nie wieder, bleibt aber ein Fremdkörper unter den Alteingesessenen und sträubt sich lange gegen die Verantwortung für den Erhalt des Hauses. Die Großstadtmüden, die auf der Suche nach ländlicher Idylle ins Alte Land strömen, streichen meist nach kurzer Euphorie die Segel. Ob Anne, die ihren Lebenspartner beim Seitensprung erwischt hat und des Mutterdaseins im hippen Hamburger Stadtteil Ottensen überdrüssig ist, bleiben wird?

Doch bei all den Schicksalen gilt, was eingangs gesagt wurde: Die Menschen und ihr Schicksale stehen erst an letzter Stelle im Roman, dem Land und den Häusern nachgeordnet, ganz so, wie es die Inschrift auf Veras Hof signalisiert: „Det Huus is mien un doch nicht mien, de no mi kummt, nennt ’t ook noch sien“.

Ich lese weder Landzeitschriften noch träume ich jenseits des Urlaubs von einem Leben auf dem Land, auch wenn ich das häufig erwähnte Apfelgelee genau wie alle anderen Marmeladen selber koche – aber das geht bekanntlich auch in der Stadt. Trotzdem war der Roman Altes Land eines meiner Lieblingsbücher der letzten Monate und zwar sowohl wegen des schwereren historischen, als auch wegen des bissig-ironischen aktuellen Teils über die stadtverdrossenen Landromantiker von heute und nicht zuletzt wegen der kraftvollen, reduzierten Sprache, adäquat widergespiegelt in der reduzierten Coverabbildung. Ein Buch, das absolut zurecht lange Zeit auf der Bestsellerliste stand!

Dörte Hansen: Altes Land. Knaus 2015
www.randomhouse.de

Connie Palmen: Du sagst es

Über den Rand des Abgrunds

Sie waren eines der berühmtesten Paare des Literaturbetriebs, die amerikanische Dichterin Sylvia Plath (1932 – 1963) und der englische Dichter Ted Hughes (1930 – 1998). Während ihres siebenjährigen Miteinanders galt das Mitgefühl ihrer Umgebung eher ihm, denn Sylvia Plath litt seit ihrer Jugend unter einer bipolaren Störung mit schweren Depressionen und Stimmungsschwankungen, Angstattacken, Alpträumen, dem ambivalenten Verhältnis zu ihrer Mutter und der unbewältigten Trauer um den früh verstorbenen Vater sowie unter ihrem Perfektionismus und übersteigerten Ehrgeiz. 1953 unternahm sie einen ersten Selbstmordversuch und verbrachte anschließend mehrere Monate in einer psychiatrischen Klinik. Ab Ende 1958 war sie erneut in psychiatrischer Behandlung.

1956 lernte sie während ihres Studiums in Cambridge den Schriftsteller Ted Hughes kennen und keine vier Monate nach dem Beginn ihrer stürmischen Affäre waren sie verheiratet. Es folgten eine Zeit des rastlosen Umherziehens in England, den USA und wieder England, erster schriftstellerischer Erfolg für beide, mehr für ihn als für sie, und in den Jahren 1960 und 1962 die Geburt der Kinder Frieda und Nicholas.

Nachdem Sylvia Plaths Eifersucht zunächst grundlos war, begann ihr Mann, den die psychische Krankheit seiner Frau zunehmend überforderte und zermürbte, 1962 tatsächlich ein Verhältnis mit der ebenfalls verheirateten Assia Wevill. Mit der Trennung des Ehepaars drehte sich die Stimmung in ihrer Umgebung zu Hughes‘ Ungunsten und mit Sylvia Plaths Selbstmord im Februar 1963 waren die Rollen für immer verteilt: ihre die einer Märtyrerin und zerbrechlichen Heiligen, seine die des Sündenbocks und brutalen Verräters. Seine naive Annahme, ihr Tod würde den Verleumdungen ein Ende bereiten, erfüllte sich nicht, er war erst der Anfang eines „Orkans der üblen Nachrede“, dem er bis zu seinem Tod und darüber hinaus ausgesetzt war.

Sylvia Plaths Ruhm kam v. a. nach ihrem Tod, als Ted Hughes sich ihres Nachlasses annahm, und sie wurde zur Ikone z. T. militanter Feministinnen.

35 Jahre lang hat Ted Hughes zu allen Anschuldigungen geschwiegen, erst zehn Monate vor seinem Tod erschienen im Band Birthday Letters 88 Gedichte, die nun zur hauptsächlichen Quelle für Connie Palmens Roman Du sagst es wurden, in dem sie Ted Hughes das Wort für seine Darstellung der Geschichte erteilt.

Ich habe mich nicht ganz leichtgetan, in den Roman hineinzufinden, und ich war zunächst skeptisch, ob ein Autor überhaupt das Recht hat, sich in dieser Weise in das Drama einer realen Beziehung einzumischen. Doch je mehr ich gelesen habe, desto mehr hat mich der Roman gefangengenommen und desto sicherer war ich, dass Connie Palmen, die mich bereits mit I.M. begeistert hat, genau die richtige dafür ist, denn sie versucht nicht, in Hughes‘ Monolog die Schuldfrage abschließend zu klären. Ihr Ziel war es, in diesem poetisch anmutenden Judasroman „den Verrat nachzuempfinden, statt den Verrat zu beschreiben“. Das ist ihr bestens gelungen.

„Wer Selbstmord begeht, will immer zwei töten“, heißt es in Arthur Millers Theaterstück After the Fall, in dem er den Selbstmord Marilyn Monroes zu verarbeiten versuchte. Auf Sylvia Plath und Ted Hughes trifft das sicherlich zu.

Connie Palmen: Du sagst es. Diogenes 2016
www.diogenes.ch