Donal Ryan: Die Gesichter der Wahrheit

Ein irisches Stimmenpotpourri

Grund für die irische Finanzkrise 2008 waren eine Aufblähung des Finanzsektors durch den Kapitalzufluss ausländischer Unternehmen und riskante Immobilieninvestments. Zunächst verdienten die meisten Iren mit, dann kam der jähe Zusammenbruch, der von einigen als die schlimmste Zeit seit der großen Hungersnot in den 1840er-Jahren beschrieben wird.

In seinem zweiten Roman, Die Gesichter der Wahrheit, gibt der irische Schriftsteller Donal Ryan der Krise ein Gesicht, genauer gesagt 21 Gesichter. Diese 21 verschiedenen Protagonisten leben in einem Dorf in der Mitte Irlands, im County Tipperary, nicht weit von Limerick, wo auch der Autor zu Hause ist. In 21 Kapiteln erzählen sie von dem Strudel, in den die Krise sie gerissen hat, und von den Veränderungen im Dorf: „Es liegt was in der Luft, man merkt es daran, wie die Leute sich begegnen, mit grimmigen Gesichtern und funkelnden Augen, entweder voller Hektik oder zusammengedrängt in Grüppchen, die leise sprechen oder zu Boden schauen.“ Am Anfang scheinen es 21 lose Fäden zu sein, doch je länger man liest, desto mehr verwebt Donal Ryan sie zu einem Ganzen, zu einem bunten Teppich von Schicksalen, die aus der Bahn geraten sind, so sehr, dass am Ende ein Mord und eine Kindesentführung zu beklagen sind.

Ich habe diesen Roman während einer Irland-Rundreise gelesen und habe dabei ganz andere Menschen kennengelernt, als die freundlich lächelnden, völlige Ruhe ausstrahlenden Gastgeberinnen unserer B&Bs. Raue, wütende Stimmen sind dabei, depressive, anklagende und solche mit einer derben, sexualisierten und oft auch sehr fantasievollen Sprache. Mein Favorit für letzteres ist die Bezeichnung „Teekannen-Taliban“ für die Tratschweiber des Dorfes. Alle, die hier zu Wort kommen, haben es verdient, dass wir ihnen zuhören, und der 1976 in diesem Landstrich geborene Donal Ryan hat für sein Stimmungsbild eines irischen Dorfes zu Recht 2012 den Irish Book Award sowie 2013 den Guardian First Book Award erhalten und stand außerdem 2013 auf der Longlist des Man Booker Prize.

Donal Ryan: Die Gesichter der Wahrheit. Diogenes 2016
www.diogenes.ch

Henning Mankell: Die schwedischen Gummistiefel

Auch Menschen haben Tragebalken, die zerbrechen

Mag sein, dass ein Teil meiner Begeisterung für dieses Buch einerseits meiner Verehrung für Henning Mankell und andererseits meiner Liebe zu Schweden und zur Schärenlandschaft geschuldet ist. Mankells Tod im Oktober 2015 hat mich erschüttert und das Wissen, hier seinen letzten Roman in Händen zu halten, der von so tiefer Melancholie durchzogen ist, hat mich stark bewegt. Die Themen Einsamkeit, Alter und Tod stehen im Mittelpunkt, viel mehr als die eigentliche Handlung, und mit dem Wissen um Mankells schwere Erkrankung lesen sich die Gedanken und Gefühle seines Protagonisten Fredrik Welin mit einer selten empfundenen tiefen Intensität.

Fast alle Bücher von Henning Mankell haben mich begeistert, seine Wallander-Krimis natürlich, seine Kinderbücher und von seinen Afrika-Romanen vor allem Der Chronist der Winde. Besonders gut gefallen hat mir aber Die italienischen Schuhe, erschienen 2006, der Roman über einen einsamen älteren Chirurgen, der sich nach einem nicht wiedergutzumachenden Kunstfehler auf eine Schäreninsel zurückzieht und dort noch einmal mit seiner Vergangenheit konfrontiert wird. Nun hat Mankell als letztes Buch eine Fortsetzung dazu geschrieben, die acht Jahre später spielt und auch unabhängig gelesen werden kann.

Fredrik Welin, der mittlerweile 70jährige Schäreneremit, verliert in einer Nacht zu Beginn des Romans durch den Brand seines Hauses nahezu seinen ganzen Besitz. Retten kann er lediglich zwei linke Gummistiefel. Er ist ein alter, gebrochener Mann, der sich verzweifelt bemüht, neue schwedische Gummistiefel zu kaufen, wie man sie früher an jeder Ecke bekommen konnte, und der die chinesischen Produkte, die sich überall ausgebreitet haben, zutiefst ablehnt. Er, der „die neue Zeit“ in seinen Augen nur noch wird „streifen können“, fragt sich, ob sich ein Neuanfang, ein Neubau seines großelterlichen Hauses überhaupt noch lohnt. In seinen Gedanken hängt er mehr der Vergangenheit nach, jeder noch so kleine Anlass löst Erinnerungen an seine Großeltern, seinen Vater, seine Jugend aus, und die Angst vor körperlichem und geistigem Verfall, vor Siechtum und Tod lähmt ihn.

Doch Welin bleibt auf seiner Insel, haust in einem alten Wohnwagen und einem Zelt, trifft eine jüngere Journalistin, in die er sich zu verlieben glaubt, immer in der Hoffnung, dem Alter damit ein Schnippchen zu schlagen. Und dann ist da noch seine Tochter Louise, von deren Existenz er erst wenige Jahre zuvor erfahren hat, und die er kaum kennt. Mit ihr, der mir unsympathischsten Figur in einem Roman, in dem es kaum mir wirklich sympathische Figuren gibt, auch nicht Welin, kommt ein Stück Lebensmut zurück und der Entschluss zum Neubau.

Im letzten der vier Kapitel, von denen eines Welin zur Rettung seiner schwangeren Tochter sogar nach Paris führt, finden sich dann deutliche Spuren des begnadeten Krimiautors Mankell, wenn es um die Suche nach dem Brandstifter geht. Der hat inzwischen dreimal zugeschlagen und Welins Gedankengänge haben mich frappierend an Kurt Wallander erinnert.

Ein für mich großartiges Abschiedsbuch voller Melancholie, voller grandioser Naturbeschreibungen und den tröstlichen Schlusssätzen:

„Mittlerweile war es spät im August.
Bald würde der Herbst kommen.
Aber die Dunkelheit schreckte mich nicht mehr.“

Henning Mankell: Die schwedischen Gummistiefel. Zsolnay 2016
www.hanser-literaturverlage.de

Petra Gabriel: Die Gefangene des Kardinals

Eine Frau in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges

Auch der zweite historische Roman der geborenen Stuttgarterin Petra Gabriel spielt in Südbaden, allerdings dieses Mal nicht wie Zeit des Lavendels im 16., sondern im Falle von Die Gefangene des Kardinals im 17. Jahrhundert.

Es ist das Jahr 1638 mitten im Dreißigjährigen Krieg. In Laufenburg am Rhein muss Johanna, die Tochter des Bürgermeisters, erleben, wie schwedische Truppen unter dem Befehl des Herzogs von Weimar ihre Familie ermorden. Sie selber wird vergewaltigt und verstummt.

Als Junge verkleidet, um weiteren Nachstellungen zu entgehen, wird sie Schreiber im Dienst von Bernhard von Weimar. Aus Rache für das Schicksal ihrer Familie  versorgt sie die katholischen Widerstandskämpfer mit geheimen Informationen.

Doch wie kaum anders zu erwarten, verliebt Johanna sich in Bernhard von Weimar und dieser, als er die Verkleidungsposse durchschaut hat, auch in sie. Als Johanna schwanger wird, wird sie zum Spielball der Politik und Kardinal Richelieu möchte mit ihrer Geiselnahme die Herausgabe der bedeutenden Festung Breisach erpressen…

Ein historischer Roman für die Hängematte und für alle, die die Kombination von historischen Fakten und dramatischer (Liebes-)Geschichte mögen.

Petra Gabriel: Die Gefangene des Kardinals. Piper 2003
www.piper.de

Petra Gabriel: Zeit des Lavendels

Ein historischer Roman aus der Zeit der Reformation

Zum Reformationsjubiläum 2017 passt der historische Roman Zeit des Lavendels von Petra Gabriel, in dem es um das dramatische Schicksal einer jungen Frau Mitte des 16. Jahrhunderts geht. Der Bauernkrieg ist kaum 20 Jahre vorbei, die Buntschuhler noch in den Wäldern, Luthers Lehren faszinieren immer mehr Menschen, obwohl die katholische Kirche die „Ketzer“ verfolgt, und die Hexenverfolgungen sind auf ihrem Höhepunkt.

Im Mittelpunkt des Romans steht Katharina, ein Findelkind, das im weltlichen Damenstift Seggingen aufgezogen wurde. Als sie wegen ihrer Heilkünste als Hexe „entlarvt“ wird, muss sie zur Schwester der Äbtissin des Stifts ins reformierte, tolerante Basel fliehen. Dort verfällt sie dem Diakon, Frauenheld und Bösewicht Thomas Leimer, der mit den Protestanten sympathisiert. Es bedarf zahlreicher Verwicklungen und Schicksalsschläge, ehe es für Katharina zu einem Happy End kommt.

Ich habe bei der Lektüre wieder einmal festgestellt, dass historische Romane dieser Art nicht mein Ding sind, weder in sprachlicher Sicht noch mit der klaren Gut-Böse-Zuordnung. Außerdem bin ich mit der Figur der Katharina und ihren Entscheidung nicht recht warm geworden. Wer aber gerne historische Romane mit einer Liebesgeschichte liest, wird mit diesem Buch wahrscheinlich glücklicher als ich.

Petra Gabriel: Zeit des Lavendels. Bastei Lübbe 2002
www.luebbe.de/bastei-luebbe

Heinrich Böll: Irisches Tagebuch

Eine Insel und ihre Bewohner

Auf einer dreiwöchigen Rundreise durch Irland haben wir Heinrich Bölls Klassiker Irisches Tagebuch als Vorleselektüre während längerer Autofahrten gewählt, und soweit die Straßen nicht zu holprig zum Lesen waren, war es die perfekte Unterhaltung. Auch wenn es Bölls in 18 Miniaturen beschriebenes Irland so heute natürlich nicht mehr gibt, ja nicht einmal das im nachgestellten Essay 13 Jahre bzw. „gefühlte eineinhalb Jahrhunderte später“, so erkennt man doch auch heute vieles von dem, was er mit so scharfsinniger Beobachtungsgabe hochliterarisch beschreibt, wieder.

Nach seinem ersten Besuch 1954 reiste Böll immer wieder mit seiner Familie nach Irland, speziell auf die größte, ganz im Westen gelegene Insel Achill Island, und erwarb dort 1958 ein Cottage. Nachdem einzelne Kapitel bereits in der FAZ erschienen waren, brachte der Verlag Kiepenheuer und Witsch 1957 das ganze Buch heraus. 1961 erschien es als Nummer eins der dtv-Taschenbücher, wo es mit weit über eine Million verkaufter Exemplare heute in der 62. Auflage vorliegt.

Mal heiter, mal nachdenklich, aber immer sehr persönlich sind die 18 Kapitel und der nachgestellte  Essay von einer großen, spürbaren Liebe zu dieser Landschaft und ihren Bewohnern geprägt, die sich auf uns als Leser bzw. Zuhörer übertragen hat. Bölls Erlebnisse und Reflexionen waren eine zusätzliche Motivation, dem Land wie er mit allen Sinnen zu begegnen. Dass es Böll aber nicht nur um eine Darstellung Irlands ging, zeigt sich in den gezogenen Vergleichen zum Nachkriegs-Deutschland in der Zeit des Wirtschaftswunders, ein politisch sehr spannender Aspekt des Buches.

Kein Wunder, dass dieser Klassiker der Reiseliteratur die Wahrnehmung Irlands durch die Deutschen seit fast 60 Jahren maßgeblich mitgeprägt hat!

Heinrich Böll: Irisches Tagebuch. dtv 2016
www.dtv.de

Christopher Kloeble: Die unsterbliche Familie Salz

Eine Familie mit Schatten

Bevor Lola Rosa Salz im Jahr 1990 85-jährig ins Schattenreich des Komas hinübergleitet, in dem sie bis zu ihrem Tod im Alter von 110 Jahren verharren wird, ist ihr Leben geprägt von Schatten – vorhandenen und fehlenden – und vom Leipziger Hotel Fürstenhof.

Ihre Geschichte und die Geschichte der Familie Salz erzählen verschiedene Stimmen und jede Perspektive hat ihren eigenen Stil und ihre eigene Erzählweise, mal auktorial, mal in der Ich- oder Du-Form. Das macht die Lektüre einerseits abwechslungsreich, andererseits fand ich es auf die Dauer von 440 Seiten ermüdend. Auch das an sich sehr interessante und fantasievoll bearbeitete Motiv „Schatten“, das in allen Facetten beleuchtet wird bis hin zum Schatten der schattenblinden Enkelin Emma, der sogar ein eigenes Kapitel aus seiner Ich-Perspektive beisteuert, wurde mir irgendwann zu viel. Weniger wäre in beiden Fällen mehr gewesen und ich hätte dann mehr als 3,5, wegen des durchaus erkennbaren Schreibtalents von Christopher Kloeble auf vier aufgerundete Sterne vergeben.

Den ersten Teil über ihre Kindheit, die mit dem Dahinsiechen der Mutter und ihrem Tod unter für Lola folgenreichen Umständen endet, erzählt die Protagonistin selber. Im zweiten Teil erfahren wir von Lolas Mann, dem Schauspieler Alfons Ervig, von Lolas Odyssee mit zwei Kleinkindern in den letzten beiden Jahren des Zweiten Weltkriegs, ihrer Weigerung, beim verhassten Vater im Fürstenhof Hilfe zu suchen und von ihrem Erlebnis mit dem „Mann ohne Schatten“, das sie für immer traumatisierte. Die Auswirkungen dieser Traumatisierung bekommt vor allem die Tochter Aveline zu spüren, die fast daran zugrunde geht und über die Jahre 1959/60 mit ihrer Mutter erzählt. Über die Zeit der Wende, als das unter Aufsicht des DDR-Staats stehende Hotel Fürstenhof in Leipzig wieder an Lola übergeht, die nun die Zeit der Rache für ihr widerfahrenes Unrecht gekommen sieht, erzählt der Schatten der Enkelin Emma. Im fünften Teil berichtet Emma selber aus dem Jahr 2015, dem Jahr, in dem Lola nach ihrem Fall ins Koma ein zweites Mal stirbt, und mit dem sechsten Teil von Emmas Tochter aus dem Jahr 2027 schließt der Roman.

Die einzelnen Abschnitte haben mir unterschiedlich gut gefallen. Inhaltlich war für mich der Kriegsteil am interessantesten und emotional anrührendsten, stilistisch fand ich die mit viel Sprachwitz gespickte Erzählweise von Emmas Schatten besonders gelungen.

Insgesamt eine Lektüre, die ich nicht bereut habe, die aber aus den genannten Gründen Luft nach oben hat.

Christopher Kloeble: Die unsterbliche Familie Salz. dtv 2016
www.dtv.de

Berit Bach: Aufregung um Knuffel

Das süßeste, klügste und wunderbarste Pony der Welt

Zur Mädchen-Pferde-Reihe Lotta & Knuffel von Berit Bach für kleine Erstleserinnen ab Ende der ersten Klasse gehört der auch unabhängig problemlos zu lesende Band Aufregung um Knuffel. Knuffel, Lottas geliebtes Pony, das sie einst vor dem Schlachter gerettet hat, mag zuerst einfach nicht über Hindernisse springen und ist dann plötzlich spurlos verschwunden. Hat es ihr übelgenommen, dass sie ihm keinen Apfel gegeben hat? Oder hängt sein Verschwinden mit dem Zirkus Herkules zusammen, zu dem es früher gehört hat und der gerade wieder in der Stadt gastiert? Zusammen mit ihrer Reiterfreundin Lena macht Lotta sich auf die Suche.

Das Erstleserbuch ist mit seiner großen Fibelschrift, der geringen Textmenge, den kurzen Zeilen im Flattersatz und den sehr gut zum Text passenden Illustrationen mit den ausdrucksstarken Gesichtern von Dorothea Tust gut für kleine Pferdefreundinnen geeignet.

Schade, dass es das Buch nur noch antiquarisch zu kaufen gibt!

Berit Bach: Aufregung um Knuffel. arsEdition 2010
www.arsedition.de

Inge Meyer-Dietrich: Der kleine Drache und der Monsterhund

Zusammen stark

Für absolute Leseanfänger sind die Erstleserbücher der ersten Lesestufe nach der Silbenmethode aus der Reihe Leserabe sehr empfehlenswert. Die große Fibelschrift, kurze Textabschnitte mit maximal sieben kurzen Zeilen im Flattersatz, überwiegend ein- und zweisilbige Wörter und die farblich abgesetzen Silben machen das Lesenlernen einfach und verhelfen den Leseanfängern zu ersten Erfolgserlebnissen. Durch die farbige Aufteilung der Wörter in Buchstabengruppen werden die Wörter strukturiert und ihr Sinn ist leichter zu erfassen. Mit Hilfe der Rätselfragen am Ende des Buches können die Kinder ihr Leseverständnis zusätzlich testen.

Ein inhaltlich besonders gelungener Band aus dieser Reihe, die in einer Kooperation zwischen dem Ravensburger Buchverlag und dem Mildenberger Verlag erscheint, ist Der kleine Drache und der Monsterhund von Inge Meyer-Dietrich, wunderbar textunterstützend illustriert von Almud Kunert.

Das kleine Drachenmädchen Fuego wird eingeschult. Schule wäre so schön, wenn sie auf dem Schulweg nicht an einem Monsterhund vorbei müsste. Vor lauter Schreck kann sie jedes Mal weder Feuer speien noch fliegen und kommt zu spät. Erst als sich herausstellt, dass ihr neuer Freund und Banknachbar Alev die gleiche Angst hat, zeichnet sich eine Lösung des Problems ab. Denn es wäre doch gelacht, wenn die beiden aufgeweckten Drachenkinder zusammen ihre Angst nicht  besiegen könnten!

Ein ausgesprochen hübsches, empfehlenswertes Erstleserbuch.

Inge Meyer-Dietrich: Der kleine Drache und der Monsterhund. Ravensburger Buchverlage 2015
www.ravensburger.de

Alex Capus: Eine Frage der Zeit

Das Schicksal der Götzen

Elena Ferrante: Meine geniale Freundin

Vom Entkommen und Verschwinden

2011 in Italien erschienen, ist der erste der auf insgesamt auf vier Bände angelegten Neapolitanischen Saga der Kindheit und Jugend der beiden Protagonistinnen Elena und Lila gewidmet. Elena hat sich nach 60 Jahren der Freundschaft entschlossen, ihre gemeinsame Geschichte niederzuschreiben, anzuschreiben gegen das Vergessen, denn Lila ist im Alter von 66 Jahren plötzlich verschwunden, hat sich in Luft aufgelöst, ohne eine einzige Spur zu hinterlassen, ihr Leben einfach auslöschend.

Die beiden sehr unterschiedlichen Mädchen wachsen in den 1950- und 60er-Jahren im Rione auf, einem armen Stadtteil Neapels, in dem ein „Klima abstrakter Spannungen“ herrscht, „wo jedes Gesicht und jede Straße krankhaft blass geblieben waren“ und wo die Kinder das Meer noch nie gesehen haben. Armut, Gewalt, Tod, die Camorra, uralte Fehden und Bildungsferne bestimmen den Alltag. Schon bald sind die beiden Freundinnen entschlossen, diesem Leben irgendwann zu entkommen. Bildung wäre ein Weg aus dem Ghetto, doch gerade der hochbegabten Lila bleibt dieser Weg durch die Sturheit und Ignoranz ihrer Eltern verwehrt. Die Eltern der ebenfalls begabten Ich-Erzählerin Elena trauen sich dagegen nicht, gegen die Lehrerin aufzubegehren, so dass Elena die Mittelschule, später sogar das Gymnasium, die „Schule für die feinen Leute“, besuchen darf. Lila versucht zunächst, am Latein- und Griechischstudium ihrer Freundin teilzuhaben, erkennt aber irgendwann die Aussichtslosigkeit und träumt nun davon, die Schusterwerkstatt des Vaters und Bruders zu einer exklusiven Schuhfabrik zu machen. Doch es gibt noch einen anderen Weg, das Beste aus dem Rione zu machen: eine vergleichsweise reiche Heirat, mit der die 16-jährige Lila zur „Jacqueline Kennedy des Rione“ wird. Elena aber ist dies zu wenig. Sie, die sich im Vergleich zu ihrer Freundin als bebrilltes, unattraktives Mädchen mit muffigen Gebrauchtbüchern empfindet, möchte dem Rione, der Welt ihrer Eltern,ö ganz und gar entkommen.

Was haben deutsche Kritiker diesem Roman, der weltweit auf vielen Bestsellerlisten stand und steht und im Ausland hochgelobt wurde, nicht alles vorgeworfen: Trivialität, Marketing-Theater, Hochmütigkeit der Ich-Erzählerin, fehlende Poetik und vieles mehr. Sicher, den Hype um die nur als Phantom existierende Autorin, „die große Unbekannte der Gegenwartsliteratur“, finde ich auch überzogen, aber die anderen Kritikpunkte kann ich ganz und gar nicht teilen. Für mich ist Meine geniale Freundin ein ausgezeichneter, gehobener Unterhaltungsroman, kitschfrei und in einer schnörkellosen, aber bildreichen Sprache verfasst, eine sehr dichte Milieustudie über eine fast archaisch anmutende Gesellschaft, eine Freundschaftsgeschichte mit allen Facetten des Themas Freundschaft, eine sehr gelungene Pubertätsgeschichte, ein Roman über Bildung und eine Emanzipationsgeschichte in einer Umgebung von Machos.

Klar, dass ich auch den nächsten Band lesen werde, nicht nur wegen des Cliffhangers am Ende!

Elena Ferrante: Meine geniale Freundin. Suhrkamp 2016
www.suhrkamp.de