Martin Suter: Lila, Lila

Im Inneren des Literaturbetriebes

In Lila, Lila plaudert Martin Suter sozusagen aus dem Nähkästchen, denn es geht um den Literaturbetrieb.

David Kern, jung, sympathisch, etwas orientierungslos, jobbt als Aushilfe in einer Szenekneipe. Dort lernt er Marie, eine junge, literaturbegeisterte Frau kennen. Er verliebt sich in sie, hat aber keine Ahnung, wie er an die Angebetete herankommen soll. Da findet er durch Zufall in einem alten Nachttisch vom Trödler ein Manuskript mit einer wunderbaren Liebesgeschichte. Er zeigt es ihr, Marie schickt es an einen Verlag, David wird zum Shootingstar der deutschen Literatur und die Lawine ist nicht mehr aufzuhalten. Aber je größer der Erfolg, desto größer Davids Angst vor der Enttarnung. Sein Plan ist zwar aufgegangen und er hat Marie für sich gewonnen, aber kann eine Liebe Bestand haben, die auf einer Lüge gründet? Liebt ihn Marie wirklich, oder liebt sie nicht vielmehr das Bild, das sie von ihm hat? Und dann taucht auch noch jemand auf, der behauptet, er wäre der wahre Verfasser der Geschichte…

Wie fast immer bei Martin Suter hat mir der Roman beim Lesen großen Spaß gemacht. Seine sprachliche Präzision, der sympathische Held, mit dem gelitten habe, die beiden Liebesgeschichten, eine davon als „Buch im Buch“, die Spannung und die herrliche Satire auf den Literaturbetrieb haben mich niveauvoll unterhalten.

Martin Suter: Lila, Lila. Diogenes 2009
www.diogenes.ch

Simone Buchholz: Blaue Nacht

Offiziell kaltgestellt

Dies ist kein 08/15-Krimi, sonst wäre er nicht bei Suhrkamp erschienen und würde nicht die Krimi-Bestenliste der Zeit im Juni 2016 anführen. Außergewöhnliches Personal, ein sehr pointierter, lässiger Stil, geistreiche, oft sogar witzige Dialoge und eine durchdachte Handlung zeichnen ihn aus.

Dass es ein Band aus einer Serie ist, führt höchstens am Anfang zur Verwirrung, denn durch geschickt eingeschobene Rückblenden aus der Sicht der Protagonisten werden diese auch mit ihrem Vorleben vorgestellt und die Bausteine aus der Vergangenheit Stück für Stück nachgeliefert. Das liest zwar nicht ganz einfach, ein bisschen Konzentration ist hier schon gefragt, aber dieser Kunstgriff hat mir gut gefallen.

Im Mittelpunkt steht die Staatsanwältin Chastity Riley, die wegen erfolgreicher interner Korruptionsermittlungen und anderer Unangepasstheiten aus ihrer bis dahin geradlinigen Lebensbahn geworfen und zur Opferanwältin degradiert und in Sachen Ermittlungen offiziell kaltgestellt wurde. Nun betreut sie einen schwer malträtierten Unbekannten im Krankenhaus, den sie sowohl zum Reden bringen als auch beschützen soll. Je mehr Riley, nicht zuletzt dank Bier und Zigaretten, aus ihm herausbringt, desto klarer wird, dass er Verbindungen zu einer berüchtigten albanischen Kiezgröße hat, dem Lieblingsfeind ihres Ex-Kollegen Faller, und dass er über Drogengeschäfte der übelsten Art im Bilde ist. Klar, dass Riley voll in die Ermittlungen mit einsteigt…

Trotz aller positiven Aspekte des Buches und des fraglos interessanten Falles bin ich weder mit der Ich-Erzählerin Riley und ihrer „Familie“, den Kollegen und Freunden, noch mit deren exzessiven Rauch- und Trinkgewohnheiten warm geworden. Letzere haben mich sogar regelrecht genervt. Wer sich aber daran nicht stört und die Kiezatmosphäre mehr schätzt als ich, für den könnte Blaue Nacht genau die richtige Krimiempfehlung sein.

Simone Buchholz: Blaue Nacht. Suhrkamp 2016
www.suhrkamp.de

Arne Dahl: Tiefer Schmerz

Spuren in die Vergangenheit

Im vierten Band von Arne Dahls Reihe um das Stockholmer A-Team der Reichskriminalpolizei geht es um Frauenhandel in der Ukraine, NS-Forscher und die Verwicklung schwedischer Wissenschaftler und die organisierte Kriminalität in Italien.

Zu Beginn werden menschliche Knochen im Vielfraßkäfig in Stockholms Freizeitpark gefunden. Das Opfer wurde kopfunter an den Zaun gehängt. Immerhin hatte es noch die Zeit, die 5 Buchstaben „EPIVU“ in den Sand zu schreiben. Dieselben Buchstaben findet man bei einem 90-jährigen Hirnforscher und Nobelpreiskandidaten, einem ehemaligen jüdischen KZ-Häftling. Auch er wird ermordet aufgefunden, kopfunter aufgehängt auf einem jüdischen Friedhof, eine lange Nadel im Kopf. Aus anderen Städten Europas werden ähnliche Morde gemeldet. Wie hängen die Morde zusammen und warum wurden sie so überaus brutal verübt? Und wie passt das Verschwinden zweier Prostituierter aus einem Asylbewerberheim dazu?

Spuren führen nach Italien, wo ein Mitglied des A-Teams gerade verlängerte Ferien verbringt.

Wieder ein sehr spannender, anspruchsvoller, aber auch überaus brutaler Dahl-Krimi, bei dem es keine einfachen Lösungen gibt und alles seine Ursprünge in der Vergangenheit hat.

Arne Dahl: Tiefer Schmerz. Piper 2006
www.piper.de

Arne Dahl: Falsche Opfer

Das A-Team ist wieder da!

Nachdem die Stockholmer Sonderermittlergruppe für komplexe Fälle der schwedischen Reichskriminalpolizei am Ende des zweiten Bandes der Reihe, Böses Blut, wegen desaströser Leistungen aufgelöst und die Ermittler verstreut eingesetzt worden waren, erhält das sog. A-Team in diesem dritten Band eine neue Chance, denn es scheint eben doch nicht ohne sie zu gehen.

Inspektor Paul Hjelm und seine Kollegin Holm ermitteln zunächst in einem Kneipenmord zwischen rivalisierenden Fußballfans. Die Besucher der Szenekneipe verhalten sich fast alle sehr seltsam. Dann ereignet sich im Hochsicherheitsgefängnis Kumla ein Mord an einem führenden Drogendealer und es kommt zu einer Schießerei zwischen zwei Verbrecherbanden auf einem abgelegenen Industriegelände.

Mit dem Aufleben des A-Teams werden die Fäden langsam entwirrt. Denn irgendwie muss es eine Verbindung zwischen den Fällen geben, das wird klar, als sich herausstellt, dass das fast alle Beteiligten in der Kneipe anwesend waren…

Arne Dahl ist bei der Konstruktion seiner Krimis ein Perfektionist, der nichts dem Zufall überlässt, aber bezüglich der Konzentration keine geringen Anforderungen an seine Leser stellt. Er wird oft mit Henning Mankell verglichen, doch spielt bei ihm der Teamgedanke bei den Ermittlern eine viel größere Rolle. Beide, Dahl und Mankell, sind scharfe Kritiker der sozialen Zustände in Schweden, beide greifen aktuelle Themen der schwedischen Gesellschaft und Politik auf und beide gehen weit über das Krimigenre hinaus. In meiner Gunst hat Henning Mankell aber immer die Nase einen Tick vorn, vielleicht wegen meiner Sympathie für Wallander, wegen Arne Dahls noch größerer Brutalität oder weil Henning Mankells Wetterbeschreibungen einfach unübertroffen sind.

Arne Dahl: Falsche Opfer. Piper 2005
www.piper.de

Ann Rosman: Die Gefangene von Göteborg

Alt und Neu

Dies ist sicherlich kein gewöhnlicher skandinavischer Krimi, auch wenn
auf dem Buchrücken Vergleiche mit Henning Mankells Wallander-Reihe angestellt werden.

Mehr als die Hälfte von Die Gefangene von Göteborg, dem vierten Band der Reihe um die sympathische Göteborger Kriminalinspektorin Karin Adler, ist eher ein historischer Roman. Dabei geht es um das geschichtlich verbürgte Schicksal der adeligen, trotzdem in ärmlichen Verhältnissen lebenden Metta Charlotta Fock, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts beschuldigt wurde, ihren geistig zurückgebliebenen Mann und zwei ihrer Kinder vergiftet zu haben. Mächtige Männer führten die Anklage gegen die als zu selbstständig empfundene Frau, unterdrückten Beweismittel und konnten ihr erst nach jahrelanger Beugehaft als einzige Frau in der berüchtigten Festung
Carlsten auf der Insel Marstrand vor Göteborg ein Geständnis abpressen, das nach heutigem Wissen höchstwahrscheinlich falsch war. Am 7.11.1810 wurde sie hingerichtet.

Der etwas kleinere Teil des Krimis befasst sich mit einem aktuellen Verbrechen in derselben Familie 200 Jahre später. Nach dem Tod des alten Grafen Ekeblad soll gemäß dessen Testament der Familienbesitz unter seinen drei Kindern Carl-Henrik, Hugo und Maud aufgeteilt werden. Doch dann stellt der Älteste, Carl-Henrik, einen Antrag auf die Verlängerung des Fideikommisses: Der Besitz soll wegen seines herausragenden kulturellen Wertes in einer, selbstverständlich seiner Hand bleiben, die Geschwister leer ausgehen. Doch noch bevor der Bescheid der Prüfungskommission eintrifft, werden der Antragsteller und sein Sohn bei einem Maskenball in der Festung Carlsten ermordet. Kriminalinspektorin Karin Adler und ihr Team ermitteln im Kreis der illusteren Gäste.

Dass ich die Vorgängerbände dieses Krimis nicht kannte, hat an keiner Stelle
gestört. Allerdings hat es wegen der verschiedenen Zeitebenen und der
zahlreichen Personen einige Seiten gedauert, bis ich mich voll im Geschehen
orientiert hatte. Dann hat mich das Buch sehr gut unterhalten, vor allem der
akribisch recherchierte historische Teil. Beide Handlungsstränge sind gut
erzählt, jedoch steht die Spannung nicht so im Vordergrund, wie sonst bei
skandinavischen Krimis üblich.

Ann Rosman: Die Gefangene von Göteborg. Aufbau 2016
www.aufbau-verlag.de

Silke Schlichtmann: Pernilla oder Warum wir nicht in den sauren Apfel beißen mussten

Ganz normaler Familienwahnsinn

Wow, was für eine sympathische, nimmermüde achtjährige Buxtehuder Quasselstrippe, diese Pernilla Petersen, die uns auf knapp 300 Seiten erzählt, wie sie und ihre Brüder die Familie vor dem finanziellen Ruin und einem Umzug vom Haus in eine Vierzimmerwohnung bewahren.

Dabei sieht am Anfang alles ganz traurig aus: Der Vater, Bestattungsunternehmer Petersen, bekommt seit knapp drei Monaten keine Aufträge mehr und die Mutter, Krimiautorin, hat die Verleumdungsklage eines angeblich wegen ihres neuen Buches um seine Umsätze gebrachten Obstbauern am Hals. Kleinere Katastrophen wie ein Strafreferat über den Harz, Massennachwuchs beim vermeintlich männlichen Mäusepaar Ernie und Bert und ähnliches kommen dazu.

Doch Pernilla und ihre Brüder, der fünfzehnjährige Lars, der zehnjährige Ole und der einjährige Sten, lassen sich so leicht nicht unterkriegen. Eine Arbeitsgruppe mit dem Namen „Goslar go home“ wird gebildet und die Probleme werden systematisch – oder wie Pernilla sagt: multiperspektivisch – angegangen: Observierung der Bestatterkonkurrenz und Ermittlung und Auskundschaftung des klagenden Obstbauers. Jedes Kind stellt seine Talente in den Dienst der guten Sache, kleinere Projekte wie die Regenwurmrettung müssen erst mal auf die lange Bank geschoben werden und obwohl die Mission zwischendurch fast zur „Mission impossible“ wird, heißt es schließlich doch: Ende gut, alles gut!

Obwohl ich nicht zur Zielgruppe gehöre, hat mir das Lesen dieses vor Fantasie nur so sprühenden, fröhlichen Kinderbuchs um eine leicht skurrile Großfamilie einen Heidenspaß gemacht. Der Autorin merkt man eine geradezu überbordende Schreibfreude an, die sich in einer unglaublichen Zahl von Einfällen bis hin zum Buchtitel und den Kapitelüberschriften niederschlägt. Allein die Szenen am Frühstückstisch lohnen bereits das Lesen! Gut gefallen hat mir außerdem die für ein Kinderbuch durchaus anspruchsvolle Sprache. Da Pernilla neue Wörter sowie die Sprüche ihrer Oma Hilde gerne mit Erklärungen versehen weitergibt, dient das Buch so ganz nebenbei und unbemerkt auch der Erweiterung des kindlichen Wortschatzes.

Hervorheben möchte ich außerdem die wieder einmal hervorragend zum Text passenden, sehr ausdrucksstarken Illustrationen von Susanne Göhlich und die gewohnt wertige Herstellung durch den Hanser Verlag, die das Buch auch optisch zu einem Genuss machen.

Obwohl ich Band eins, Pernilla oder Wie die Beatles meine viel zu große Familie retteten, noch nicht kenne, war das Lesen problemlos möglich. Empfehlen möchte das Buch zum Vorlesen ab ca. sieben Jahren, zum Selberlesen für gute Leser beiderlei Geschlechts ab der dritten Klasse.

Silke Schlichtmann: Pernilla oder Warum wir nicht in den sauren Apfel beißen mussten. Hanser Kinderbuch 2016
www.hanser-literaturverlage.de

Andrea Maria Schenkel: Als die Liebe endlich war

Es gibt immer ein Gestern

Drei Handlungsstränge und zwei Zeitebenen, erzählt in sieben Teilen und einem kunstvollen Prolog, die sich erst nach und nach in Beziehung zueinander bringen lassen, bilden das Gerüst dieses ausgesprochen empfehlenswerten Romans.

Da ist zum einen das Schicksal der deutsch-jüdischen Familie, die 1938 zu viert nach Shanghai aufbricht, aber nur die Mutter Grete, der knapp zwölfjährige Carl und die drei Jahre jüngere Ina betreten schließlich in Genua das Schiff. Erwin, der jüdische Arzt und Familienvater, kann sich nicht entschließen, seine deutsche Heimat zu verlassen. Kurzentschlossen kehrt er um im festen Glauben, ihm, dem zum Katholizismus konvertierten Juden, würde nichts passieren. Während seine Frau und die Kinder die Kriegsjahre unter immer schwierigeren Bedingungen, aber mit Hilfe eines älteren Paares in der von Japanern besetzten Stadt verbringen, wird Erwin in Dachau interniert.

Im zweiten Handlungsstrang verbringt die junge Erna die ersten Kriegsjahre bei ihrer schillernden Tante Marga in München, einer Anhängerin der Nationalsozialisten und Wahrsagerin der besseren Kreise, die sich nebenbei ganz pragmatisch ein Zubrot durch Abtreibungen und als Kindsvermittlerin verdient. Dank ihrer Vermittlung wird Erna die Gehilfin des Arzt Dr. Sauer, bei dessen Experimenten sie in Dachau assistiert.

In drei Kapiteln dazwischen treffen wir Carl als alten Mann in New York. Er ist nach dem Krieg nicht mit seiner Mutter und der Schwester nach Deutschland zurückgekehrt, fühlt sich nicht an ein Land, eine Rasse oder einen Glauben gebunden, und hat mit Emmi eine deutsche, ebenfalls nach dem Krieg eingewanderte Frau gefunden, die ihm die Wärme, Geborgenheit und Liebe geschenkt hat, nach der er sich sehnte. Eigentlich möchte er nur einen ruhigen Lebensabend mit ihr verbringen, doch dann holt die Vergangenheit beide ein…

Hätte ich nur den Titel des Romans gehört, so hätte ich einen eher seichten Liebesroman vermutet und mich nicht weiter dafür interessiert. Zum Glück hat mich aber der Name Andrea Maria Schenkel neugierig gemacht, von deren erfolgreichen Krimis ich schon viel gehört hatte, und tatsächlich wurde ich sehr positiv überrascht. Der Stil und die Souveränität der Autorin haben mir überaus gut gefallen. Äußerst gekonnt, mit der nötigen Distanz und trotz des schwierigen Themas auch mit dem ein oder anderen Augenzwinkern erzählt sie die unterschiedlichen Lebensschicksale spannend und nachvollziehbar und verknüpft sie mit spielerischer Leichtigkeit.

Eine Geschichte mit Nachhall!

Andrea Maria Schenkel: Als die Liebe endlich war. Hoffmann und Campe 2016
www.hoffmann-und-campe.de

Linda Winterberg: Das Haus der verlorenen Kinder

Die Schatten der Vergangenheit

Dieses Buch hatte mich wegen des interessanten Themas sofort angesprochen. Über die sog. „Deutschenmädchen“ in Norwegen und den „Lebensbornverein“ hatte ich schon gehört, wusste aber nicht genau Bescheid. Hier habe ich in diesem Roman durchaus Neues erfahren, v. a. auch durch das interessante Nachwort der Verfasserin.

Exemplarisch für die jungen Norwegerinnen, die sich während des Zweiten Weltkriegs in deutsche Soldaten verliebten und von ihnen schwanger wurden, stehen die beiden Freundinnen Lisbet und Oda aus dem südnorwegischen Loshavn. Als die deutschen Besatzer 1941 in das malerisch an der Schärenküste gelegene Städtchen kommen, verliebt sich die besonnene Lisbet in den ruhigen Erich, die eher spontane, leichtsinnige Oda in den Draufgänger Günther. Beide Männer werden kurz darauf an die Ostfront versetzt, während die schwangeren Freundinnen, von ihren Familien verstoßen und von der norwegischen Gesellschaft als „Deutschenmädchen“ geächtet, in einem Heim des deutschen Lebensbornvereins nahe Oslo landen. Doch während das Kind der arischen Lisbet als „Zuchtkind“ ein hohes Ansehen genießt und mühelos Adoptionseltern im Deutschen Reich fände, kommt für Odas Tochter als Kind einer minderwertigen Halbsamin nur ein norwegisches Waisenhaus in Betracht. Beide Mütter möchten jedoch ihre Kinder behalten und Lisbet, die von Erich regelmäßig Liebesbriefe aus Russland erhält, träumt sogar von einer gemeinsamen Zukunft. Da verändert ein schrecklicher Streit zwischen den Freundinnen im Dezember 1942 mit einem Schlag alles…

Ein zweiter Handlungsstrang spielt 2005 in einem Altersheim mit NS-Vergangenheit in Wiesbaden und führt drei Personen zusammen, deren Leben von Verlusten geprägt sind: Marie, die junge Waise, die ein soziales Jahr in diesem Heim ableistet, dessen Foto sie in den Hinterlassenschaften ihrer Mutter gefunden hat, den jungen norwegischen Küchenhelfer Jan und Betty, eine charismatische Bewohnerin.

Die Zusammenhänge zwischen Lisbet, Oda, Marie, Jan und Betty werden wie in einem Puzzlespiel stückchenweise erkennbar. Der Roman entwickelt dadurch eine Spannung, der ich mich nicht entziehen konnte, auch wenn die Zufälle mir im Handlungsstrang der Jetzt-Zeit deutlich zu gehäuft waren. Hier wirkte mir vieles zu konstruiert. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft den Schreibstil. Die Handlung ist an sich schon sehr berührend und geht wirklich zu Herzen. Das Schicksal der Deutschenmädchen und die bis in die heutige Zeit reichenden Folgen, die gut herausgearbeitet werden,  berühren tief. Dass auch der Autorin das Schicksal ihrer Figuren sehr naheging, kann ich gut verstehen, trotzdem hätte ein etwas distanzierterer Stil mit weniger „Tränen in den Augen“ dem Roman sehr gut getan. Weniger  wäre an dieser Stelle eindeutig mehr gewesen.

Obwohl ich aufgrund der genannten Kritikpunkte nur drei Sterne vergeben kann, habe ich die Lektüre insgesamt nicht bereut und bin davon überzeugt, dass der Roman bei vielen vor allem Leserinnen Anklang finden wird.

Linda Winterberg: Das Haus der verlorenen Kinder. Aufbau 2016
www.aufbau-verlag.de

Ute Wegmann & Birgit Schössow: Dunkelgrün wie das Meer

Manchmal braucht es Blitz und Donner

Dunkelgrün wie das Meer ist ein thematisch, sprachlich und gestalterisch wunderbares Kinderbuch in hochwertiger Aufmachung, wie es das Feuilleton und Eltern lieben. Vielleicht greifen Kinder nicht spontan danach, denn es ist weder grellbunt, noch verspricht es die ganz große Spannung, aber wir sollten sie dazu ermutigen, es zu lesen, denn hier werden Gefühle thematisiert, die sicher jedes Kind schon einmal erlebt hat.

Die neunjährige Linn hat sich so auf die Ferien im Schiffhaus am Strand in Holland und auf ihre Freundin Smilla gefreut. Aber dann geht von Anfang an alles schief: Die Eltern, die sich kurz zuvor beim zehnten Hochzeitstag noch so liebhatten, streiten, weil der Vater während der ersten beiden Urlaubstage noch einmal zurück ins Büro muss, und die sonst so gemütliche Rückbank des Autos fühlt sich an „wie ein Fach im Kühlschrank“. Die Eltern sitzen in einer „Zornkabine, mit langen Gesichtern und einem Schweigen von der Größe eines Containerschiffs“. Kaum angekommen, muss Linn erkennen, dass die drei Jahre ältere Smilla eine neue beste Freundin hat und sie mit Verachtung straft. Mit der Mutter kann sie nicht reden, denn die führt endlose Handytelefonate, in denen sie sich über das Verhalten des Vaters beklagt, und weint, und in Linn wird die Angst vor einer Trennung der Eltern immer größer. Nichts ist wie im letzten Sommer, selbst die Wiese ist nicht so bunt und die Steine sind nicht so außergewöhnlich gemustert. Nicht einmal ihr altes Kindergartengutelaunelied kann Linn Trost spenden. Eindringlich schildert die kleine Ich-Erzählerin ihre Verlustängste und als Erwachsener ahnt man, dass neben den vordergründigen Sorgen um die Eltern und die Freundin auch eine Ahnung vom Ende der Kindheit heraufzieht.

Doch dann kommt erst einmal in Form eines ungeheuerlichen Gewitters buchstäblich Hilfe von oben. Hagel, Blitz und Donner reinigen nicht nur die Luft. Die Eltern vertragen sich wieder und Linn nimmt sich vor, sich am nächsten Tag mit Smilla auszusprechen…

Ich bin mir sicher, dass am Ende, als Linn endlich zwischen ihren Eltern im Bett liegt und der Urlaub richtig beginnt, nicht nur die Kinder, sondern auch die Erwachsenen aufatmen. Die tiefe Traurigkeit des Buches ist einer fröhlich-optimistischen Stimmung gewichen und wer wollte daran zweifeln, dass Linns Versöhnungsversuch mit der Freundin erfolgreich verläuft?

Ein leises, eindrucksvolles Kinderbuch für Mädchen ab acht mit einer perfekten Symbiose zwischen dem Text von Ute Wegmann und den in braun-orange-türkis gehaltenen Bildern von Birgit Schössow.

Ute Wegmann & Birgit Schössow: Dunkelgrün wie das Meer. dtv 2016
www.dtv.de

Isabel Allende: Das Siegel der Tage

Isabel Allende ganz privat

Als säße Isabel Allende hier an meinem Kaffeetisch erzählt sie über ihr Familienleben und die Zeit nach dem frühen Tod ihrer Tochter Paula 1992. Insofern ist Das Siegel der Tage die Fortsetzung ihres Romans Paula, geschrieben für ihre Tochter („Ich will dir erzählen, was seit 1993 aus uns geworden ist“), kein magischer Realismus wie in Das Geisterhaus, sondern eine detaillierte Beschreibung der Trauer und des Neubeginns.

Durch ihre gewohnt empathische Erzählweise, mal lustig, mal traurig, spannend und immer sehr direkt und ehrlich ist der Familienbericht leicht zu lesen. Isabel Allende lässt uns teilhaben am Entstehungsprozess ihrer Bücher, an ihrer Ehe, am Leben ihres Sohnes und ihrer Schwiegertochter, an den Enkel und an allem, was sie täglich bewegt. Ihre Meisterschaft zeigt sich für mich vor allem darin, dass das Buch trotz des überaus persönlichen Inhalts nie peinlich wirkt.

Eine empfehlenswerte Lektüre, auch wenn ich frühere Bücher von Isabel Allende noch mehr geschätzt habe.

Isabel Allende: Das Siegel der Tage. Suhrkamp 2009
www.suhrkamp.de