Roy Jacobsen: Die Unsichtbaren

  Ein starkes Stück Norwegen

Alle drei Teile der norwegischen Insel-Saga von Roy Jacobsen hat der Verlag C.H. Beck 2019 in einem Band vereinigt: Die Unsichtbaren, Weißes Meer und Die Augen der Rigel, wobei der erste Buchtitel Namensgeber für die Gesamtausgabe wurde. Dieser erste Teil erschien im Original 2013, dann 2014 im Osburg Verlag auf Deutsch und 2015 unter dem Titel In jenen hellen Nächten im Insel Verlag, wo ich ihn 2017 für mich entdeckt habe. Teil zwei und drei, ursprünglich von 2015 und 2017, sind nun erstmals auf Deutsch erschienen.

Die Unsichtbaren
Dass die Norweger nicht immer so reich und privilegiert wie heute lebten, erfährt man im ersten Teils der Barrøy-Saga. Auf einer fiktiven Insel dieses Namens vor der nordnorwegischen Helgelandküste, kaum einen Kilometer lang und einen halben breit, lebt zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Eigentümerfamilie Barrøy: Vater Hans, seine Frau Maria, deren einziges Kind Ingrid, das beim Einsetzen der Geschichte im Jahr 1913 drei Jahre alt ist, Hans‘ geistig behinderte Schwester Barbro und sein Vater Martin.

In kurzen Kapiteln ist man hautnah dabei, wenn sie dem menschenfeindlichen Klima mit Stürmen, Eis, manchmal auch Hitze und Trockenheit, trotzen. Sie leben von dem, was die karge Landschaft hergibt, Fisch, Torf, Eiderdaunen, Enteneier, Milch, Schafsfleisch, Kartoffeln und Treibgut. Alles andere tauschen sie bei ihren Ausflügen zum zwei Ruderstunden entfernten Handelskontor ein. Die Jahreszeiten bestimmen den Lebensrhythmus und die ersten Monate jedes neuen Jahres verbringt Hans beim ebenso kräftezehrenden wie gefährlichen Fischfang auf den Lofoten. Zusammenhalt ist das Zauberwort, das ein Überleben in dieser unwirtlichen Umgebung erst ermöglicht. Die Wortkargheit der Inselbewohner wird durch indirekte Rede und die monotone Wiederholung des Verbs „sagte“ hervorgehoben, nicht unbedingt schön, aber sehr eindrücklich. Nichts wird besprochen, sondern einfach nur getan, sei es, dass die Führung vom Vater auf den Sohn übergeht, die Frauen eigene Stühle bekommen oder ein Kai gebaut und die Insel an die Milchroute angeschlossen wird, wodurch die Bewohner erstmals ein Stück weit aus ihrer Unsichtbarkeit gerissen werden.

Weißes Meer
Blieben Barrøy und seine Bewohner vom Inferno des Ersten Weltkriegs noch weitgehend unberührt, so kommt der Zweite Weltkrieg in Gestalt von Flüchtlingen aus der Finnmark, angeschwemmten Ertrunkenen und des schwerverletzten russischen Kriegsgefangenen Alexander auf die Insel. Ingrid, inzwischen Eigentümerin von Barrøy und zeitweise alleine dort, rettet ihn, auch wenn dafür die Todesstrafe droht.

In diesem zweiten Teil habe ich viel über die deutsche Besatzung Norwegens erfahren, zum Teil parallel nachgelesen, um die Handlung zu verstehen. Über die Zwangsevakuierung von 50 000 Bewohnern der von der Wehrmacht in Schutt und Asche gelegten Finnmark wusste ich vorher nichts, ebenso wenig über den Untergang des von den Deutschen requirierten und zum Gefangenentransporter umfunktionierten norwegischen Frachters Rigel, den britische Bomber am 27.11.1944 versenkten. Mit etwa 2500 Toten, die meisten russische Kriegsgefangene, war es die größte norwegische Schiffskatastrophe.

Die Augen der Rigel
Teil drei führt Ingrid im ersten Nachkriegssommer 1946 weg von Barrøy und auf der Suche nach Alexander durch ein kaum befriedetes Nachkriegs-Norwegen. Sie begegnet ehemaligen Grenzlotsen, Partisanen, Kollaborateuren und Mitläufern, Menschen, die sich nicht erinnern möchten, die ausweichen, die sie heimschicken möchten. Zu Fuß, mit der Eisenbahn, in Bussen und Schiffen kämpft sie sich mit ihrer kleinen Tochter vor dem Bauch Hunderte von Kilometern über das „verworrene Schlachtfeld des Friedens“, sehr gut nachzuverfolgen auf den beiden Landkarten vorn und hinten im Buch, die nun plötzlich einen Sinn bekamen.

Auch hier war vieles neu und interessant für mich, beispielsweise hatte ich noch nie vom früheren deutschen Konzentrationslager Mysen gehört, nach dem Krieg ein Sonderlager für „displaced persons“ aus Osteuropa.

Über 600 Seiten und keine zuviel
Alle drei Teile haben mir auf ihre Art sehr gut gefallen, Die Unsichtbaren wegen der starken Naturbeschreibungen und Charakterzeichnungen am besten. Hier spürt man, dass Roy Jacobsen die Sommer seiner Kindheit auf einer ebensolchen Insel, der Heimat seiner Mutter, verbrachte und lange in Nordnorwegen lebte. Die Liebesgeschichte in Weißes Meer ist zwar nicht Norwegen-typisch, dafür kommt aber hier der zeitgeschichtliche Hintergrund besonders gut zum Tragen. In Die Augen der Rigel haben mich Ingrids beharrliche Suche und ihre Begegnungen mit den Menschen im Nachkriegs-Norwegen sehr bewegt, über die Jacobsen sich nie zum Richter aufschwingt.

Auch die Endeckung diese unvergesslichen Leseerlebnisses verdanke ich dem Gastlandauftritt Norwegens auf der Frankfurter Buchmesse 2019.

Roy Jacobsen: Die Unsichtbaren. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann.  C.H. Beck 2019
www.chbeck.de

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