Mireille Zindel: Kreuzfahrt

Leben Nummer zwei oder Glück ist kein Zustand

Meret ist vierzig, hat mit Dres einen familienfreundlichen, zupackenden Mann, der sie liebt, und zwei aufgeweckte Jungs von drei und vier Jahren. Finanziell ist die Familie gut gestellt, objektiv sind alle Voraussetzungen für ein glückliches Familienleben gegeben, und doch fühlt sich Meret seit der Geburt des zweiten Kindes verzagt, ausgelaugt, überfordert, verkraftet die Verantwortung nicht und fühlt sich so in Anspruch genommen, dass sie keine eigenen Bedürfnisse mehr hat. Sie leidet darunter, kein eigenes, unabhängiges Leben mehr zu haben und den alleinigen Preis für die Familie zu bezahlen.

Während des Standurlaubs im italienischen Spotorno bei glühender Hitze trifft sie Jan, einen schwedischen Expat, der mit seiner Frau Romy und den beiden kleinen Söhnen in Zürich in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft wohnt. Jan und Romy sind Weltenbummler, heute hier morgen dort, und an jedem Ort erfindet sich Romy neu. In ihrem Blog schafft sie sich ein Leben, wie sie es gerne führen würde. Jan dagegen ist beruflich erfolgreich, reist durch die Welt und trainiert intensiv Marathon.

Ein Jahr umfasst die Zeitspanne des Romans, der aus einem Brief von Meret an Jan besteht, und in dem wir nicht erfahren, ob die geschildert Beziehung Realität oder Fantasie ist. Ich habe mich manchmal gefragt, ob der Roman Eine Frau von vierzig Jahren von Vita Sackwell-West, den Meret zu Beginn liest, und in dem eine vierzigjährige Witwe aus ihrem inhaltsleeren Alltag ausbricht und sich unkonventionell verliebt, der Auslöser für Merets tatsächlichen oder erträumten Ehebruch ist. Auf jeden Fall ist die Affäre von Anfang an zum Scheitern verurteilt, denn „wir hängen zu acht drin“. Für Meret ist es eine Rückkehr in die Zeit vor Dres und den Kindern: „… wir waren nicht mehr Vater, Mutter oder Ehepartner, wir waren wieder diejenigen, die wir gewesen waren, bevor das Leben so viele Forderungen an uns gestellt hatte.“

Als Meret nach einem Jahr nach Sotorno zurückkehrt, ist sie eine andere, das hat mich neben dem wunderbaren Stil der Autorin besonders begeistert. Obwohl mir keine der Figuren des Vier-Personen-Stücks sympathisch war und ich mich, vielleicht weil ich fast eine Generation älter bin, absolut nicht in sie hineinversetzen konnte, hat mich der Roman von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt. Die strickte Ich-Perspektive verhindert es, die Gedanken der anderen drei Beteiligten zu erfahren, was für mich einen zusätzlichen Reiz ausmacht. Die Stimmung (nicht der Inhalt) des Romans und das Lebensgefühl der Dreißig- bis Vierzigjährigen hat mich an Die Glücklichen von Kristine Bilkau erinnert, ein Buch, das ich mit der gleichen Faszination gelesen haben.

Unnötig fand ich den titelgebenden, häppchenweise eingestreuten Bericht einer Bekannten von Meret über deren Affäre mit einem Mannschaftsoffizier während einer Kreuzfahrt. Was mir dagegen ausgesprochen gut gefällt, ist die Umschlaggestaltung mit den vier im Meer treibenden, nach den Protagonisten benannten Inseln. Die Verbindungen zwischen ihnen kommen wunderbar zur Geltung und ich habe sie mir beim Lesen immer wieder angeschaut. Außerdem liegt das Buch dank des etwas kleineren Formats sehr gut in der Hand und wirkt mit dem Lesebändchen hochwertig.

Für mich ist die Autorin Mireille Zindel eine Entdeckung und ich freue mich auf weitere Romane von ihr!

Mireille Zindel: Kreuzfahrt. Kein & Aber 2016
keinundaber.ch

Harlan Coben: Kein Sterbenswort

Ein Wettlauf gegen die Zeit

David Beck ist Kinderarzt in einer Klinik für sozial Schwache.  Vor acht Jahren hat er seine Frau Elisabeth kurz nach der Hochzeit durch ein Verbrechen verloren. Sie waren zur Feier ihres „Kusstages“ an einen einsamen See gefahren, David wurde bewusslos geschlagen und seine Frau entführt. Tage später fand man ihre Leiche, die ihr Vater identifiziert hat. Der Mord wurde einem Serientäter zugeschrieben.

David hat sich von diesem Verlust nie erholt, zumal er und Elisabeth seit ihrem siebten Lebensjahr unzertrennlich waren.

Doch nun erhält David plötzlich in der Klinik eine Mail, die Einzelheiten ihrer Beziehung enthält, die nur Elisabeth kennen kann. Der Zusatz: „Kein Sterbenswort – Sie beobachten dich“. Als David mit Nachforschungen beginnt, stößt er auf Ungereimtheiten und fehlende Akten. Gleichzeitig ist ihm das FBI auf den Fersen, denn man hat am See zwei alte Leichen gefunden und glaubt nicht mehr an die Täterschaft des Serienmörders. David taucht unter.

Selten ist es mir so schwer gefallen, nicht auf die letzten Seiten zu spicken. Harlan Coben schafft es meisterhaft, Tempo und Spannung zu erzeugen. Andererseits ist der Thriller sehr konstruiert, enthält viele Klischees und konzentriert sich vollkommen auf die Haupthandlung, was mir für eine Fünf-Sterne-Bewertung zu wenig ist. Für einen verregneten Urlaubstag ist das Buch jedoch genau richtig!

Harlan Coben: Kein Sterbenswort. Goldmann 2015
www.randomhouse.de

Michel Bussi: Das Mädchen mit den blauen Augen

Emilie Vitral oder Lyse-Rose de Carville?

Michel Bussi, Geograf und Politologe an der Universität von Rouen, ist inzwischen ein vielprämierter Autor. Seine Bücher fallen bei mir in die Gattung „Hängematte“, was bedeutet, dass ich stilistisch keine allzu großen Höhenflüge erwarte, aber spannend und gekonnt unterhalten werden will.

Das Mädchen mit den blauen Augen beginnt, dass es dramatischer nicht geht: Am 23.12.1980 stürzt ein aus Istanbul kommender Airbus im Schneesturm  am Mont Terrible im französischen Jura ab. 168 Passagiere und Crewmitglieder sterben, doch wie durch ein Wunder überlebt ein weiblicher Säugling unverletzt.

Da das Kind nicht identifiziert werden kann – wir befinden uns in der Zeit vor Einführung von DNA-Tests – kämpfen zwei mögliche Großelternpaar um die vermeintliche Enkelin: die superreiche Unternehmerfamilie de Carville und die in bescheidenen Verhältnissen lebende Familie Vitral, Besitzer eines Imbisswagens. Ein Gericht entscheidet aufgrund von Indizien für die Familie Vitral, was die Carvilles nie akzeptieren. Die verhinderte Großmutter Mathilde de Carville beauftragt einen Privatdetektiv, der bis zum 18. Geburtstag des Kindes weiterermitteln soll…

In einer zweiten Zeitebene treffen wir die beiden Familien und die inzwischen fast 18-Jährige 1998 wieder.

Eine unterhaltsame, spannende Geschichte mit Krimielementen, nicht immer ganz glaubwürdig, aber mit einem absoluten Auflösungs-Highlight.

Michel Bussi: Das Mädchen mit den blauen Augen. Rütten & Loening 2014
www.aufbau-verlag.de

Barbara McClintock: Adèle und Simon in Amerika

Ein nostalgisches Suchbilderbuch

Dieses nostalgische Bilderbuch spielt während einer USA-Reise der Geschwister Adèle und Simon mit ihrer Tante Cécile zu Beginn es 20. Jahrhunderts. Zuerst werden die Koffer gepackt und alle mitgenommenen Gegenstände sind gut zu erkennen. Dann geht es los. Doch leider verliert der schusselige Simon an jedem Ort einen Gegenstand. In New York, Boston, Chicago, North Dakota, Washington, San Francisco, Denver, Santa Fee, Lubbock, New Orleans und St. Louis, die man alle auf der Karte finden kann, bleibt jeweils ein Gegenstand zurück, den es zu finden gilt.

Barbara McClintock hat ein hübsches Suchbilderbuch geschrieben und farbenfroh und detailliert bebildert. Leider holpert der Text an einigen Stellen, was vielleicht auch an der Übersetzung liegen mag. Trotzdem werden kleine Entdecker und ihre erwachsenen Begleiter ihren Spaß beim Suchen haben und erleichtert sein, wenn nach der Rückkehr viele kleine Päckchen zu Hause ankommen, weil die vorausschauende Tante alles mit Namen und Adresse versehen hat.

Barbara McClintock: Adèle und Simon in Amerika. Jacoby & Stuart 2009
www.jacobystuart.de

Paddy Richardson: Komm, spiel mit mir

Familientrauma

Der zweite Krimi der Neuseeländerin Paddy Richardson, Komm, spiel mit mir, stand in Neuseeland wochenlang auf Platz 1 der Bestsellerliste und konnte mich deutlich mehr überzeugen als ihr erster, Der Frauenfänger.

Bei einem großen Schulpicknick am See verschwindet 1988 die vierjährige Gemma spurlos. Ihre Familie, Minna, Dave, die 14-jährige Stephanie und die Zwillingsbrüder bleiben traumatisiert und jeder mit seinen eigenen Schuldgefühlen zurück. Schließlich bricht die Familie auseinander.

2005 ist Stephanie eine fast fertige Psychiaterin, lebt in Dunedin und möchte anderen helfen, nachdem sie sich selbst nicht helfen konnte. Sie lebt wie eine Einsiedlerin, ist bindungsunfähig, ein Workoholic und verdrängt das Erlebte.

Ihrer neuen Patientin Beth kommt Stepanie näher, als sie es als deren Psychiaterin dürfte. Durch sie erkennt sie plötzlich eine Spur zu Gemmas Verschwinden und macht sich auf eine Reise, um den Fall doch noch aufzuklären. Dabei findet sie nicht nur wieder einen Draht zu ihrer Mutter, sie gerät auch in höchste Gefahr…

Der Krimi ist spannend bis zum dramatischen Showdown, psychologisch einfühlsam und größtenteils stimmig. Gut gefallen hat mir, dass Paddy Richardson neben dem Fall an sich auch ausführlich darauf eingeht, was mit Familien und speziell Geschwistern passiert, wenn ein Kind verschwindet.

Paddy Richardson: Komm, spiel mit mir. Knaur 2014
www.droemer-knaur.de

Paddy Richardson: Der Frauenfänger

Ein psychologischer Krimi aus Neuseeland

Dieser erste Krimi der Neuseeländerin Paddy Richardson erschien bereits früher unter dem Titel Der Vogelbrunnen. Laut Klappentext handelt es sich um einen Thriller, für mich ist es eher ein psychologischer Krimi.

Die junge, verwitwete Journalistin Claire lebt mit ihrer pubertierenden Tochter Annie in Dunedin, Neuseeland. Obwohl sie ein schlechtes Gefühl dabei hat, nimmt sie aus finanziellen Gründen das lukrative Angebot an, eine Biografie über einen berüchtigten Serientäter zu schreiben, der Überfälle auf Frauen in deren Wohnungen verübt hat. Travis Crill, der „Frauenjäger“, kommt ihr bei den Interviews bedrohlich nah – bis zum alptraumhaften Showdown.

Paddy Richardson spielt gekonnt mit psychologischen Effekten und beschreibt auch eine interessanten Mutter-Tochter-Beziehung, trotzdem konnte mich der Krimi nicht ganz überzeugen.

Paddy Richardson: Der Frauenfänger. Knaur 2012
www.droemer-knaur.de

Anne Tyler: Der leuchtend blaue Faden

Eine ganz normale Familie

Anne Tyler, geboren 1941, lebt in Baltimore, dem Handlungsort ihres 20. Romans, Der leuchtend blaue Faden, der 2015 auf der Bestenliste für den Man Booker Preis stand. Auch er handelt von ihrem bevorzugten Sujet: der Familie.

Drei Generationen der Familie Whitshank bevölkern den Roman, der von den 1920er-Jahren bis ins Jahr 2012 reicht. Junior Whitshank, ältestes Familienmitglied, gründete trotz Wirtschaftskrise mit großer Willenskraft und Fleiß ein Bauunternehmen. Der penible Handwerker konnte sich schließlich seinen Lebenstraum erfüllen und in das von ihm für eine andere Familie gebaute Haus in einer besseren Gegend von Baltimore selber einziehen, zusammen mit seiner linkischen, anhänglichen aber ungeliebten Frau Linnie Mae und den beiden Kindern Merrick und Red. Nach seinem und Linnie Maes Tod bezieht Red, der auch die Firma übernimmt, das Haus mit seiner Frau Abby und den Kindern Amanda, Jeannie, Denny und Stem, letzterer ein Adoptivsohn. Während die beiden Töchter beruflich reüssieren und Stem in die Firma einsteigt, bleibt Denny das schwarze Schaf. Er kommt und geht wann er will und beansprucht laut Meinung seiner Schwestern die gesamte Aufmerksamkeit der Eltern.

Als Red herzkrank und fast taub ist und Abby erste Anzeichen einer Demenz zeigt, stehen die Zeichen auf Veränderung und die Kinder versammeln sich, um die Zukunft zu planen.

Anne Tylers Roman erzählt ohne Klischees und in nicht-chronologischer Art und Weise von einer ganz normalen amerikanischen Mittelstandsfamilie, die auf den ersten Blick glücklich scheint, deren Verwerfungen und kleine Katastrophen sich erst beim genaueren Hinschauen offenbaren. Sie zeigt aber auch, dass es immer weitergeht, und schafft es, aus einer an und für sich unspektakulären Familiengeschichte einen interessanten Roman zu machen, den man trotz einiger Längen nicht mehr aus der Hand legen kann und dessen Personal einem schnell vertraut wird. Sie seziert gekonnt und respektvoll das familiäre Beziehungsgeflecht, ohne dabei jemals eine ihrer mit viel Empathie geschilderten Figuren bloßzustellen.

Anne Tyler: Der leuchtend blaue Faden. Kein & Aber 2015

Kirsten Boie: Alhambra

Eine Zeitreise ins Jahr 1492

Kirsten Boie ist für mich eine der größten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen der Gegenwart, vielleicht sogar die größte. Besonders beeindruckt mich immer wieder, dass sie für alle Altersklassen schreiben kann, vom Bilderbuch bis zum älteren Jugendlichen, und welch großes Themenspektrum sie abdeckt.

In ihrem Jugendroman Alhambra für ca. 12- bis 14-Jährige beginnt alles ganz harmlos mit einer Klassenreise nach Granada. Boston ist ein stiller Außenseiter, der Mühe hat, sich mit seinen Klassenkameraden zu arrangieren.  Am Abend nach dem Besuch der Alhambra bummelt Boston alleine über den Basar, um nach einem Mitbringsel für seine Mutter zu suchen. Als er eine alte Kachel anfasst, wird er ins Spanien des Jahres 1492 katapultiert: Die katholischen Könige haben soeben Granada von den Mauren befreit und ein Judenedikt und die Inquisition eingeleitet, Christoph Columbus fordert die Ausrüstung einer Seeflotte und die Prinzessin Johanna wartet auf ihren zukünftigen Ehemann Philipp den Schönen. Mitten dort hinein stolpert Boston – eine mehr als gefährliche, aber auch hochspannende Zeitreise. Aber wie kann er zurückkehren?

Das Buch ist eine Mischung aus sehr gut gemachtem Geschichtsunterricht und Abenteuerroman, spannend, gut recherchiert und mit sehr aktuellen Bezügen. Das Nachwort und die das alphabetische Verzeichnis historischer Personen, Orte und Begriffe hilft beim Verstehen der nicht immer ganz leichten historischen Zusammenhänge.

Kirsten Boie: Alhambra. Oetinger 2007
www.oetinger.de

Leonie Ossowski: Die schöne Gegenwart

Neustart mit 69 Jahren

Nele Ungureit, 69 Jahre alt, steht über Nacht vor den Scherben ihrer Ehe. Nach über 40 gemeinsamen Jahren, in denen sie mit ihrem Mann Fred ein großes Möbelhaus aufgebaut hat, wendet der sich einer jüngeren Angestellten zu, die nahtlos Neles Platz in Beruf und Haus einnimmt.

Nele wird gut versorgt in eine neue Wohnung umgepflanzt und Fred „zahlt mehr, als er muss“. Die beiden Kinder haben keine innige Beziehung zur Mutter, für die immer Fred und die Firma an erster Stelle gestanden haben.

Kann es das gewesen sein? Nele kommt der Zufall zur Hilfe: Die zufällige Bekanntschaft mit einer Altersheimbewohnerin und ein überraschendes Erbe lassen Neles Kämpfergeist erwachen und sie startet noch einmal voll durch…

Ein unterhaltsamer Roman zum aktuellen Thema „Wohnen im Alter“, allerdings für mich mit zu vielen Klischees belastet.

Leonie Ossowski: Die schöne Gegenwart. Piper 2004
www.piper.de

Mirjam Pressler: Rosengift

Liebesroman mit Krimihandlung und Psychogramm

In dieser raffinierten Mischung aus Krimi, Liebesroman und Psychogramm gerät das perfekt organisierte Singledasein der erfolgreichen und selbstbewussten Krimiautorin Lisa Bratt völlig aus dem Gleichgewicht. Ein obdachloses, alkoholkrankes Mädchen, das sie gegen besseres Wissen bei sich aufnimmt, und ein neuer Geliebter, für den sie sogar ihre Unabhängigkeit aufgeben könnte, bringen sie so weit, dass sie am Ende nur noch die Notbremse ziehen kann…

Die Suche nach den Gründen für ihr Handeln und Scheitern hat mich beim Lesen von Lisas schonungslosem Bericht durchweg gut unterhalten und mit einem raffinierten Schluss überrascht.

Mirjam Pressler kannte ich bisher nur als Kinder- und Jugendbuchautorin sowie als Übersetzerin der Tagebücher von Anne Frank. Hier zeigt sie, dass sie durchaus auch für Erwachsene schreiben kann.

Mirjam Pressler: Rosengift. Bloomsbury Berlin 2004
www.piper.de/berlin-verlag