Willa Cather: Lucy Gayheart

  Was bleibt

 

Zu ihrem 150. Geburtstag beschenkt der Verlag Manesse die amerikanische Autorin Willa Cather (1873 – 1947) und sein Publikum mit einer wunderschönen Neuausgabe ihres elften Romans Lucy Gayheart im bekannt kleinen Format mit bunter Fadenheftung und Lesebändchen. Über 60 Jahre alt und bereits mit dem Pulitzer-Preis dekoriert war die Autorin 1935 beim Erscheinen ihres vorletzten Romans, mehr als dreimal so alt wie ihre Protagonistin.

Erinnerungen
Bereits zu Beginn erfahren wir, dass Lucy Gayheart für die Bewohnerinnen und Bewohner ihres fiktiven Heimatstädtchens Haverford, Nebraska, nur noch als schöne Erinnerung weiterlebt. Gerne denken sie an den Wirbelwind zurück, der unbekümmert, heiter, charmant, voller Romantik war. Im Winter liebte sie das Schlittschuhlaufen auf dem zugefrorenen Platte River, eine Vorliebe, die so gut zu ihrem Wesen passte wie das Schaukeln zu Theodor Fontanes Effi Briest. Gelegentlich schloss sich ihr der acht Jahre ältere, vermögende Kleinstadtbankier Harry Gordon an, ein junger Mann, der eine bessere Partie hätte machen können, doch wie alle Haverforder dem Zauber Lucys seit langem erlegen war und allgemein als ihr zukünftiger Ehemann galt.

Foto: © B. Busch. Cover: © Manesse

Eine Begegnung, die alles verändert
In den Weihnachtferien 1901 war Lucy, die inzwischen im entfernten Chicago Klavier studierte und Musikunterricht erteilte, zurück in Haverford. Ungezwungen, fast noch kindlich glitt sie mit Harry über den zugefrorenen Fluss, aber etwas hatte sich verändert. Nun freute sie sich mehr als sonst auf die Rückkehr in die Großstadt, nicht nur wegen ihres eigenen Zimmers, dank dem sie „frei wie ein junger Mann kommen und gehen“ (S. 32/33) konnte, sondern auch wegen eines Vorstellungstermins beim bekannten Bariton Clement Sebastian, der eine Klavierbegleitung für seine Übungsstunden suchte. Ein Besuch seines Konzertes im letzten Herbst hatte sie spontan für diesen knapp fünfzigjährigen, verheirateten Künstler entflammt, überwältigt von seiner ausdrucksstarken Vortragsweise des Schubert‘schen Liedguts und seiner schwermütigen Ausstrahlung. Verändert kehrte sie an diesem Abend in ihr Zimmer zurück:

Vom ersten Tag an war sie in Chicago glücklich gewesen und hatte sich für vom Schicksal begünstigt gehalten, weil sie aus ihrem kleinen Heimatort in die große Stadt hatte fliehen können […]. Aber jene Zeiten lagen weit zurück. An dem Abend, als sie zum ersten Mal Clement Sebastian gehört hatte, begann für sie ein neues Leben. Zuvor hatte sie nur mit Nichtigkeiten und Träumereien herumgespielt. (S. 113/114)

Von nun an hing Lucys Glückseligkeit von der Anwesenheit dieses Mannes in der Stadt ab, pendelnd zwischen Hoffen und Bangen. Über ein Jahr – bis zur Weihnachtszeit 1902 – folgt man lesend und bangend ihrem Schicksal in Chicago und Haverford und schließlich, im dritten Teil des Romans, den Gedanken des nachdenklichen, veränderten Harry Gordon von 1927, die das Buch äußerst gekonnt abrunden.

Fußspuren
Begeistert und ergriffen habe ich diesen modernen, überhaupt nicht verstaubten Klassiker über drei Menschen mit völlig unterschiedlicher Beziehung zur Zeit gelesen. Während Sebastian der Vergangenheit nachhängt, träumt Lucy von der Zukunft und will Harry die Gegenwart beherrschen. Obwohl von zarter Melancholie durchzogen, ist es dank Willa Cathers überragender Erzählkunst kein trauriges Buch. Mit wunderbaren Bildern aus der Musik und der Natur Nebraskas, in denen sich die Stimmungen und das Gefühlsleben der Haupt- und Nebenfiguren spiegeln, erzählt sie völlig ohne Kitsch eine zu Herzen gehende Geschichte über hochfliegende Träume. Sie wird die Zeit ebenso überdauern wie die sorgsam von Harry gehüteten Fußabdrücke der übermütigen Dreizehnjährigen im noch nicht festen Beton vor ihrem Haus.

Willa Cather: Lucy Gayheart. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Elisabeth Schnack. Für die Neuausgabe durchgesehen von Susann Ostwald. Nachwort von Alexa Hennig von Lange. Manesse Verlag 2023
www.penguin.de/Verlag/Manesse

Lina Nordquist: Mein Herz ist eine Krähe

  Endloses Elend

Seit 2016 stellt die Redaktion des schwedischen Bonniers Buchklub eine Liste mit zwölf schwedischen oder ins Schwedische übersetzten Titeln von hoher sprachlicher Qualität zusammen, die sich für ein breites „Årets bok„. Zwei der Siegertitel habe ich mit großer Freude gelesen: 2017 erhielt Alex Schulman den Preis für Glöm mig, 2021 Ann-Helén Laestadius für Stöld, in deutscher Übersetzung Das Leuchten der Rentiere. Meine Erwartungen waren daher beim Gewinnertitel von 2022 Dit du går, följer jag, dem Debüt der 1977 geborenen Physiologie-Professorin und schwedischen Parlamentsabgeordneten Lina Nordquist, im Diogenes Verlag als Mein Herz ist eine Krähe erschienen, hoch.

Zwei Frauenleben
Unni und Kåra, die sich kapitelweise als Ich-Erzählerinnen abwechseln, stehen im Mittelpunkt des Romans. Obwohl sie sich nie begegnen, sind ihre Schicksale eng miteinander verbunden. Beiden droht aus unterschiedlichen Gründen die Zwangseinweisung in eine Irrenanstalt, beide leben, allerdings zu unterschiedlichen Zeiten, in derselben Bauernkate in Hälsingland, die sie schließlich verlassen, und beide lieben, wenn auch auf unterschiedliche Weise, den selben Mann: Roar. Er ist der dritte, leider jedoch stumme Protagonist.

Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Diogenes

Unni
1897 muss Unni, die wegen ihrer Heilkunde von der Kirche und der Justiz verfolgt wird, aus dem norwegischen Trondheim fliehen. Zusammen mit ihrem einjährigen unehelichen Sohn Roar und ihrem Geliebten Armod wandert sie bis ins schwedische Hälsingland. Dort beziehen sie eine leerstehende Bauernkate auf einer sonnigen Waldlichtung, die sie „Frieden“ nennen, doch der kehrt nicht ein. Erdrückende Schulden beim Waldbauern, Wetterkapriolen, schwierige Böden, furchtbare Hungerperioden, Elend, Tod und unvorstellbare Gewalt lassen Unni oft verzweifeln, „Herbstbangen“, „Winterdarben“ und „Frühlingshunger“ (S. 136) wechseln sich in Endlosschleife ab:

Es nahm kein Ende. (S. 319)

Kåra
Über 70 Jahre später bereiten Roars Schwiegertochter Kåra und dessen Witwe
Bricken seine Beerdigung vor. Kåra, psychisch krank seit Kindertagen, inzwischen verwitwet, hat einst geheiratet, um der Einweisung in eine Anstalt zu entgehen. Sie ist abhängig von Psychopharmaka, angstgestört, missmutig und selbstmitleidig, verabscheut die freundliche Schwiegermutter, geht bei Menschen wie Tieren über Leichen und streut wiederholt Zweifel an der Zuverlässigkeit ihrer Erzählung. Was also ist wahr an ihrer angeblichen Liebesbeziehung mit Roar?

Ein zwiespältiges Fazit
Legt man die Kriterien für das „Årets bok“ zugrunde, so erfüllt Mein Herz ist eine Krähe die sprachlichen Anforderung klar. Lina Nordquist beschreibt die ebenso atemberaubend schöne wie lebensbedrohliche Natur, Stimmungen und Licht poetisch, bildstark und lebendig. Auch die Schilderung der existentiellen Nöte Unnis hat mir, bevor sie in der zweiten Romanhälfte zu gehäuft und zu detailliert brutal wurde, gefallen. Bei den Wendungen der beiden Erzählstränge, beim Übermaß an Dramatik, bei der Logik, der klischeehaften, statischen Charakterzeichnung und beim Plot hat der Roman jedoch für mich ernüchternde Schwächen und die zweite Hälfte fällt deutlich gegen die erste ab. Selbst wenn man über diverse Zufälle hinwegsieht, handeln die Figuren an entscheidenden Stellen weder zu ihren körperlichen Möglichkeiten noch zu ihrer charakterlichen Beschreibung passend. Schade, denn mit dem Interesse von Lina Nordquist an sozialen und gesundheitspolitischen Fragen und am Schicksal stigmatisierter Frauen früher und heute wäre mehr möglich gewesen. Dafür hätte es allerdings mehr Tiefe, Subtilität und Glaubwürdigkeit, dafür weniger Effekthascherei und Holzhammer gebraucht.

Lina Nordquist: Mein Herz ist eine Krähe. Aus dem Schwedischen von Stefan Pluschkat. Diogenes 2023
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezensionen zu Romanen, die in Schweden als „Årets bok“ ausgezeichnet wurden:

2017
2021

 

Joseph O’Connor: In meines Vaters Haus

  Ein literarischer Thriller mit wahrem Kern

Während eines Irland-Urlaubs 2016 entdeckte ich beim Besuch des Museums „The Old Barracks“ in Cahersiveen am Ring of Kerry eine Erinnerungstafel für den irischen Priester Hugh O’Flaherty, verehrt für seinen Widerstandskampf gegen die Wehrmacht während der Besetzung Roms zwischen September 1943 und Juni 1944. Auf dem Friedhof des Städtchens liegt das Grab dieses beeindruckenden Mannes, der mit einer Gruppe mutiger Gleichgesinnter mehrere Tausend Juden, aus italienischen Kriegsgefangenenlager geflüchtete alliierte Soldaten und andere Verfolgte vor der SS versteckte. Bekannt war er mir aus dem amerikanischen Fernsehfilm Im Wendekreis des Kreuzes von 1983 mit Gregory Peck in der Hauptrolle und Christopher Plummer als dessen Gegenspieler Standartenführer Herbert Kappler.

Links: Gedenktafel im Museum von Cahersiveen, rechts: Grab von Hugh O’Faherty auf dem Friedhof Cahersiveen, © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © C.H.Beck

Keine Biografie
Inspiriert vom Leben Hugh O’Flahertys, aber ausdrücklich keine Biografie, ist der Roman In meines Vaters Haus von dessen irischem Landsmann Joseph O’Connor:

Obwohl reale Personen und Ereignisse […] mich inspiriert haben, handelt es sich in erster Linie um einen Roman. Bei Fakten, Charakterisierungen und Chronologie habe ich mir Freiheiten herausgenommen. (Vorbehalt, Bibliografie, Danksagung S. 379)

Entsprechend sind in diesem als literarischer Thriller angelegten Buch sowohl der Haupthandlungsstrang, die Vorbereitung, der Countdown und die Durchführung einer Rendimento genannten Aktion in der Heiligabendnacht 1943, als auch die authentisch wirkenden Dokumente dazwischen nahezu vollständig fiktiv.

Ein Spiel auf Leben und Tod
Romankulisse ist das von der Wehrmacht besetzte, vom berüchtigten Gestapo-Chef Obersturmbannführer Paul Hartmann regierte Rom. Ihm untersteht die Stadt, nicht aber der Vatikan als neutrale Enklave, weshalb er der Widerstandsgruppe um den Monsignore Hugh O’Flaherty, die sich in ihrem engsten Kern als Chor tarnt, trotz des Drucks von Adolf Hitler nicht beikommt. Hartmann schäumt vor Wut, es beginnt ein Katz- und Mausspiel auf Leben und Tod.

Ein eingeschworener Chor
Mitglieder des engsten Kreises um den Priester sind die jung verwitwete Contessa Giovanna Landini, die Frau des irischen Gesandten Delia Kiernan, der britische Botschafter Sir D’Arcy Osborne und sein Diener John May, der italienische Kioskbesitzer und Kommunist Enzo Angelucci, die barbituratabhängige Journalistin Marianna de Vries und der britische Major Sam Derry. Trotz ihrer ethnischen, sozialen, intellektuellen und politischen Verschiedenheit einen sie die Freundschaft mit Hugh O’Flaherty und ihre gemeinsame Mission. Abwechselnd berichten sie rückblickend in den frühen 1960er-Jahren, wie sie den von Güte und Glauben durchdrungenen, unkonventionellen Mann kennenlernten, und berichten aus ihrer Sicht vom Rendimento.

Lebendige Charaktere und viel Sprachwitz
Joseph O’Connor trägt bei den Wendungen in der Weihnachtsnacht dick auf und beschreibt jeden von Hugh O’Flahertys Schritten durch gespenstige Keller, unterirdische Tunnel, dunkle Seitenstraßen und Hinterhöfe, über den Tiber und an den Wachen vorbei. Als Nicht-Thrillerleserin war mir diese Schilderung in Summe zu viel. Großartig sind jedoch die Figurenzeichnungen, die jede Person mit einer eigenen, unverwechselbaren Stimme lebendig werden lassen, und der überbordende Sprachwitz, selbst in Situationen von höchster Gefahr.

In meines Vaters Haus ist eine spannende Lektüre über ein in Deutschland wenig bekanntes Stück Kriegsgeschichte mit einem ebenso beeindruckenden wie sympathischen Helden, fiktional erzählt und im Kern doch wahr. Es ist der erste Band einer Rome Escape Line Trilogie, die hoffentlich bald eine Fortsetzung findet.

Joseph O’Connor: In meines Vaters Haus. Aus dem Englischen von Susann Urban. C.H.Beck 2023
www.chbeck.de

Alex Schulman: Endstation Malma

  Wenn Familie kein Schutzraum ist

Wo der Schwede Alex Schulman als Autor draufsteht, ist zuverlässig das Thema dysfunktionale Familie drin. Obwohl es sich bei seinem sechsten Roman Endstation Malma eindeutig um Fiktion handelt, sind viele Splitter und Spuren aus seinen autobiografischen Werken zu finden. Sie zu entdecken, hat mir beim Lesen Freude gemacht, notwendig zum Verständnis ist dies jedoch nicht.

Alles läuft in Malma zusammen
Drei Generationen nehmen den Zug ins abgelegene, verlassene Örtchen Malma, mehrere Stunden von Stockholm entfernt. Sie reisen nicht gleichzeitig, wie man zunächst glaubt, sondern im Abstand vieler Jahre. Drei Namen stehen abwechselnd über den 28 Kapiteln: Harriet, Oskar und Yana. In den 1970er-Jahren fährt Harriet mit ihrem Vater Bo zu einem Begräbnis dorthin, 2001 ist Harriets Ehe am Ende, trotzdem überredet sie ihren Mann Oskar, sie nach Malma zu begleiten, und etwa fünfzig Jahre nach der ersten Fahrt versucht deren Tochter Yana dort, Antworten auf ihre Fragen zu finden. Mit den Perspektivwechseln verschwimmen – sicher vom Autor beabsichtigt – Generationen und Zeitebenen, alles scheint parallel zu verlaufen und man braucht beim Lesen viel Konzentration. Harriets Ur-Katastrophe, als beide Eltern bei der Scheidung ihre Schwester präferierten, zerstörte sie, ließ sie den falschen, da ebenfalls traumatisierten Partner wählen und setzte sich generationenübergreifend fort. Was wird aus einem verschmähten Kind? Wie stark prägt die Kindheit unser Verhalten? Welchen Folgen hat es, wenn Väter ihre Liebe nicht zeigen können und Mütter verschwinden? Wann verliert man sein Kind? Und: Welches Geheimnis liegt in Malma begraben?

Foto: © B. Busch. Cover: © dtv

Düster, aber nicht hoffnungslos
Alex Schulman, Bestsellerautor in Schweden und mittlerweile vielfach übersetzt, Blogger, Podcaster und Regisseur seines eigenen Theaterstücks am Königlichen Dramatischen Theater Stockholm, verhehlt nicht, dass sein Schreiben selbsttherapeutische Bedeutung hat. Harriets Mantra „You are not alone“ vermag hoffentlich Betroffene aus desolaten Familien stützen. Mich als Nicht-Betroffene setzt die Schulmansche Literatur Erfahrungen aus, die ich sonst eher meiden würde, lässt mich in eine dunkle, verstörende Welt blicken und schafft Verständnis für Verhaltensmuster traumatisierter Menschen. Was Alex Schulmans Bücher über andere, nicht weniger düster-dramatische Kindheits-Literatur hinaushebt, ist sein außergewöhnlich scharfer Blick für kindliche Verletzlichkeit und Sensibilität und die  lebenslang offenen Wunden durch Nichtbeachtung und Zurückweisung. Weder Harriets Taktik der beständigen Rückschau, noch Oskars Versuch, die Vergangenheit abzuhaken, die Opferrolle abzustreifen und in die Zukunft zu blicken, vermag zu befreien, und so wird das Trauma an die Tochter Yana weitergereicht. Dass bei ihr zuletzt zarte Hoffnung auf Versöhnung aufkeimt, ist der Lichtblick im Roman.

Alex Schulman auf der Frankfurter Buchmesse 2023. © B. Busch

Puzzlestein für Puzzlestein
Man kann Endstation Malma die auffällige Konstruktion vorwerfen oder das offensichtliche Bestreben, alle Leserinnen und Leser für das Thema zu gewinnen, auch mit Einsatz von Thriller-Elementen. Nichts davon hat mich gestört. Mir gefallen die Virtuosität, mit der Alex Schulman die Puzzlesteine ineinanderfügt, seine Fähigkeit, schleichendes Unbehagen zu erzeugen und sein eleganter Stil. Vorzüglich gelingt der Übersetzerin Hanna Granz die Übertragung der klaren, wohlklingenden Melodie des schwedischen Originals. Wie gut allerdings, dass den unerträglichen Schockmomenten und verstörenden Grausamkeiten so wunderbare Beobachtungen aus dem Zugfenster wie diese gegenüberstehen:

Aus dem Lautsprecher eine Durchsage, der Streckenabschnitt vor ihnen sei eingleisig, sie müssten auf einen entgegenkommenden Zug warten. Sie stehen inmitten einer Wiese, die Blumen reichen den Leuten bis zum Kinn. Wenn der Sommer noch ein paar Zentimeter ansteigt, ertrinken sie. (S. 16)

Ein Lese-Highlight!

Alex Schulman: Endstation Malma. Aus dem Schwedischen von Hanna Granz. dtv 2023
www.dtv.de

 

Weitere Rezensionen zu Büchern von Alex Schulman auf diesem Blog:

  Schulman  

Julie Otsuka: Solange wir schwimmen

  Überall Risse

2011 brachte ihr zweiter Roman The Buddha in the Attic der 1962 in Kalifornien als Kind japanisch-stämmiger Eltern geborenen Julie Otsuka den internationalen Durchbruch. Auch ich war 2012 begeistert von der deutschen Übersetzung Wovon wir träumten. Einerseits interessierte mich die Thematik der Japanerinnen, die in den 1920er-Jahren als Bräute für die japanischen Einwanderer in die USA kamen, andererseits erzeugten die Erzählweise aus der Wir-Perspektive, die trotzdem Raum für Einzelschicksale ließ, und der besondere Rhythmus einen ungeheuren Sog.

In dieser Wir-Perspektive, die Julie Otsuka perfekt beherrscht, ist auch die erste Hälfte ihres dritten Romans Solange wir schwimmen verfasst, erneut ausgezeichnet übersetzt von Katja Scholtz.

Im ersten Kapitel,Das Schwimmbad unter der Erde“, berichtet ein Chor aus Stammgästen eines unterirdischen Swimmingpools von der Leidenschaft für das Schwimmen, von unterschiedlichen Schwimm-Typen, die man selbst bei jedem Schwimmbadbesuch trifft, von strikten Regeln und eingefahrenen Routinen. Noch ist Alice nur eine unter vielen:

Eine von uns – Alice, eine pensionierte Labortechnikerin in einem frühen Stadium von Demenz – kommt her, weil sie schon immer hergekommen ist. Und auch wenn sie sich vielleicht nicht an die Nummer ihres Schließfachs erinnert und daran, wo sie ihr Handtuch hingelegt hat – sobald sie ins Wasser gleitet, weiß sie, was zu tun ist. (S. 9)

„Der Riss“ auf dem Beckengrund, der sich allmählich vervielfacht, unterbricht in Kapitel zwei jäh die Idylle unter der Erde, im Schwimmkollektiv macht sich Verunsicherung breit, Gerüche, Hypothesen und Antithesen kochen hoch. In der Mitte des nur knapp 160 Seiten umfassenden Romans wird das Bad geschlossen, als letzte steigt Alice aus dem Wasser.

In der allgemeinen Trauer trifft der Bruch ihrer Alltagsroutine Alice besonders hart. Auch durch das Buch geht ein Riss und im dritten Kapitel, „Diem Perdidi“, wechselt die Erzählperspektive von „wir“ zum „sie“. Nun erzählt Alice‘ Tochter über ihre Mutter: was diese noch weiß, und welche Erinnerungen ihr aufgrund des Risses im Kopf verlorengegangen sind. Der Humor der ersten beiden Kapitel weicht der Tragik. Diese Rückblicke der Schriftsteller-Tochter haben mir gut gefallen.

Dann allerdings folgte in Kapitel vier, „Belavista“, mein persönlicher Riss, denn in der direkten Ansprache des Pflegeheims an die neue Bewohnerin Alice hat das Buch mich leider verloren. Dieser Abschnitt strotzt vor unerträglichem, überspitztem Zynismus und machte mich wütend. Der geschäftsmäßige Ton der „gewinnorientierte[n] Langzeit-Pflegeeinrichtung“ (S. 88 ) schürt Ängste und setzt Angehörige von Heimbewohnerinnen und -bewohnern unter Rechtfertigungsdruck. Keinerlei Berücksichtigung findet hier, dass Alice für ihre eigene, sehr geliebte Mutter genau diese Einrichtung wählte, und dass nicht jede auf den ersten Blick abschreckende Maßnahme im Umgang mit Dementen falsch ist.

Entsprechend hat mich das abschließende fünfte Kapitel, „EuroNeuro“, geschrieben in einer von sich selbst distanzierenden Du-Perspektive, kaum mehr erreicht. Die Krokodilstränen einer schuldbehafteten Tochter, die jahrelang wenig Kontakt zur Mutter hatte und nun mit ihrem Zu-Spät-Kommen hadert, ließen mich vergleichsweise kalt. Die auf dem Buchrücken postulierte „Liebe einer Tochter“ konnte ich selten entdecken, eher schon berührte mich die stille, hilflose Trauer des Vaters beim allmählichen Verschwinden seiner Frau.

Schade, denn ich hatte mich sehr auf den neuen Roman von Julie Otsuka gefreut. Zwar hat er mit der sprachlichen Verknappung, den wechselnden Erzählperspektiven und dem unverwechselbaren Rhythmus stilistisch meine Erwartungen erfüllt, inhaltlich jedoch leider in den letzten beiden Teilen nicht.

Julie Otsuka: Solange wir schwimmen. Aus dem amerikanischen Englisch von Katja Scholtz. mare 2023
www.mare.de

Vigdis Hjorth: Die Wahrheiten meiner Mutter

  Schwarzes Schaf wider Willen

Vigdis Hjorth, geboren 1959 in Oslo, gehört zu den wichtigsten Gegenwartsautorinnen Norwegens, vielfach ausgezeichnet und übersetzt. Ihr 2016 erschienener Roman Arv og miljø, deutsch Bergljots Familie (2019), veranlasste ihre Schwester zu einem „Gegenroman“ und wurde in Norwegen ebenso bejubelt wie kontrovers diskutiert. Der literarisch aufbereitete Einblick in die eigene Familien mit dem Vorwurf väterlichen Missbrauchs löste bei mir gleichermaßen Sog und Unbehagen über diese Art der „Virkelighetslitteratur“ aus und beschäftigt mich noch immer.

Obwohl das neue Buch Die Wahrheiten meiner Mutter mit dem deutlich drastischeren Originaltitel Er mor død (ohne Fragezeichen), wieder hervorragend übersetzt von Gabriele Haefs, nicht autofiktional ist, weist es doch Parallelen auf. Erneut geht es um Uneinigkeit über die gemeinsame Familiengeschichte und die Gründe für einen Bruch. Zugleich greift die Autorin Aspekte der Debatte um Arv og miljø auf: Dürfen private Erfahrungen und Familieninterna in Kunstwerken verhandelt werden und haben alle Kunstwerke einen autobiografischen Kern?

Das Verhältnis eines Werkes zur Wirklichkeit ist uninteressant, das Verhältnis eines Werkes zur Wahrheit ist entscheidend, der Wahrheitswert eines Werkes liegt nicht in seinem Verhältnis zur Wirklichkeit, sondern in seiner Wirkung auf die, die es betrachten. (S. 312)

Flucht
Die bildende Künstlerin Johanna Hauk verteidigt die Kunstfreiheit im Roman vehement. Sie hat vor 30 Jahren ihren Mann, ihre Eltern, ihre Schwester Ruth und ihr Jurastudium zurückgelassen und ist dem Kunstlehrer Mark, der ihrem  zweiten Ehemann, nach Utah gefolgt. Inzwischen stellt sie überall auf der Welt erfolgreich ihre Bilder aus. Ihre Eltern haben Mark und ihren Sohn John nie kennengelernt. Als Johanna nicht zur Beerdigung des Vaters kam, dann aber bei einer Ausstellung in Oslo ihre Triptychen „Kind und Mutter“ gezeigt wurden, die die Familie als Provokation auffasste, brach der Kontakt gänzlich ab.

Foto: © B. Busch. Cover: © S. Fischer

Rückkehr
Nun ist sie, inzwischen verwitwet, erstmals zur Vorbereitung einer Retrospektive in ihre Heimatstadt zurückgekehrt und hofft auf ein Gespräch mit ihrer betagten Mutter. Doch die hebt das Telefon nicht ab, antwortet nicht auf Textnachrichten. Verhindert die Schwester, wie Johanna sich einzureden versucht, die Kontaktaufnahme?

Je mehr Mutter und Schwester sich verweigern, desto obsessiver werden Johannas Bemühungen. Sie beobachtet die Wohnung der Mutter, schleicht sich ins Treppenhaus, folgt ihr, wenn sie mit Ruth das Haus verlässt, und filzt ihren Müll.

Zugleich kehren Kindheitserinnerungen zurück. Wann übernahm die zuvor zugewandte Mutter die spöttisch-ablehnende Haltung des Vaters zum Zeichentalent der Tochter? Immer verzweifelter sucht Johanna nach Beweisen, dass der Schmerz der Mutter lange vor der Flucht der Tochter begann. Hat sie nicht ihre Qualen durch eine immer größere Anpassung an den dominanten Vater kompensiert, die sie auch ihren Töchtern auferlegte? Doch was ist Erinnerung, was Fantasie?

Mutters Mysterium ist mein Mysterium und das Rätsel meines Daseins, und ich fühle, dass ich nur in der Annäherung an dieses Mysterium eine Form von existenzieller Erlösung erreichen kann. (S. 360)

Eine Hütte im Wald wird zu Johannas Flucht- und Ruhepunkt.

Ein packender Monolog
In knappen Sequenzen mit manchmal nur einem oder wenigen kurzen Sätzen pro Seite folgen wir der Ich-Erzählerin auf der Suche nach Erlösung. Immer wieder zitiert sie Henrik Ibsen, Søren Kierkegaard, Marguerite Duras oder die Bibel, reflektiert Muttersein und Familiendynamik. Parallelen zur grandiosen Natur rund um die Hütte drängen sich auf.

Trotz kleinerer Längen im Mittelteil hat mich dieser 400 Seiten umfassende, präzise formulierte, in einem furiosen Finale mündende innere Monolog begeistert. Zu Recht stand der Roman 2023 auf der Longlist zum International Booker Prize.

 

Interview und Lesung mit Vigdis Hjorth am 24.10.2023 im Literaturhaus Stuttgart. Moderation: Annette Bühler-Dietrich, Deutsche Lesung: Marit Beyer. © B. Busch

Vigdis Hjorth: Die Wahrheiten meiner Mutter. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. S. Fischer 2023
www.fischerverlage.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Vigdis Hjorth auf diesem Blog:
Hjorth

Victoria Kielland: Meine Männer

Von Faszination zu Überdruss

Die 1881 aus der mittelnorwegischen Region Trondheim in die USA ausgewanderte Belle Gunness gilt als eine der berüchtigsten Serienmörderinnen ihrer Zeit. Ihre Geschichte diente schon häufig als Stoff für Unterhaltungsliteratur, Feuilleton, Spielfilme und Dokumentationen. Nun hat die 1985 geborene norwegische Autorin Victoria Kielland ihr Leben als Vorbild für den Roman Meine Männer gewählt, weder als Biografie noch als True Crime, sondern, wie sie selbst sagt, als „eine literarische Fantasie, frei inspiriert von tatsächlichen Geschehnissen“ (S. 187)

Von Brynhild…
Unvorstellbare Gewalt erfährt die 1859 als Brynhild geborene Frau in Kiellands Roman. 17-jährig hat sie als Dienstmädchen eine Liaison mit dem Hoferben und wird schwanger. Sie verliert das Kind durch seine Tritte mit Lederstiefeln in ihren Bauch.

… zu Bella…
Traumatisiert und unwillig, die Armut auf dem elterlichen Hof zu ertragen, bricht sie zu ihrer Schwester Nellie nach Chicago auf. Nach dem Zerwürfnis mit ihr und der Heirat mit dem Landsmann Mads Sørensen nennt sie sich Bella Sørensen. Kurz nachdem das Paar mehrere Pflegekinder aufgenommen hat, beginnt die Reihe mysteriöser Todesfälle in ihrem Umfeld, zunächst Pflegekinder und zwei Ehemänner.

Belle Gunness 1904. © Gemeinfrei.

… und schließlich zu Belle
Als zweifache Witwe sucht sie, inzwischen Belle Gunness, gezielt vermögende Männer in der norwegisch-sprachigen Zeitung Skandinaven. Mit herzzerreißenden Liebesbriefen lockt sie ihre Opfer auf ihren Hof in La Porte, Indiana. Nach einem Brand 1908 werden Teile von etwa 30 zerstückelten Leichen sowie drei tote Kinder und eine Frauenleiche ohne Kopf gefunden.

Der Roman beantwortet die bis heute ungeklärte Frage, ob es sich bei der Frauenleiche um Belle handelt, die ihrem langjährigen Hofknecht Ray Lamphere zum Opfer fiel, oder ob ihr die Flucht gelang: Zu Beginn sitzt sie in der „Stadt der Engel, Kalifornien, 1915“ am Kamin und sinnt:

… wer mit ganzem Sein liebt, wird die Liebe nicht überleben. (S. 12)

Enttäuschte Erwartungen
Meine Männer
ist nach einem Kurzgeschichtenband und einem Roman das dritte Buch der vor allem für ihren besonderen Schreibstil mit den „kiellandesken Sätzen“ (Jury des Stig Sæterbakken Memoral Award) von der Literaturkritik gefeierten Autorin. Tatsächlich hat mich diese außergewöhnliche Erzählweise in der Leseprobe zunächst begeistert und zusammen mit dem auffälligen Cover überzeugt. Die Schilderung von Brynhilds die gesellschaftlichen Grenzen überschreitender Affäre, ihr Ehrgeiz, ihre Zweifel, ihr Glühen, die „Millionen magischer Momente“ (S. 22) in ihrer Dachkammer, das Pendeln zwischen Genuss, Gewalt, Hoffnung und Angst haben mir gut gefallen. Allerdings wurde mir der Stil in der Folge zunehmend zu verschwurbelt und schien mir immer unpassender zur Handlung,  l’art pour l’art in pseudo-bedeutungsschwangeren Phrasen, über deren Entschlüsselung ich nicht mehr vergeblich rätseln wollte. Das Übermaß an Metaphern und geschraubten Satzkonstrukten mit der ständige Wiederholung der Begriffe „Ritzen“ und „Spalten“ hat mich irgendwann nur noch genervt und ich war froh, als ich die 184 Seiten beendet hatte. Auch das Cover erschließt sich mir im Nachhinein nicht, obwohl der Schmetterling in einem für den Text typischen Satz vorkommt:

Und die anhaltendste Bewegung war weder Sehnsucht noch Liebe, sondern das Schlagen der Schmetterlingsflügel im Garten, war der Tod, das Auge, das dauernd Blickkontakt aufnahm, das anhaltendste, ewige Flimmern. (S. 157)

Wer hier die Faszination der Literaturkritik teilt, trifft mit dem Roman die richtige Wahl. Mir hat das Buch leider nicht die erhoffte Einsicht in die Psyche einer Serienmörderin eröffnet und ich war insgesamt sehr enttäuscht.

Victoria Kielland: Meine Männer. Aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger. Tropen 2023
www.klett-cotta.de

Toni Morrison: Sehr blaue Augen

  Selbsthass als Folge von Rassismus

Was geschieht Anfang der 1940er-Jahre mit schwarzen Mädchen in Lorain, Ohio, dem Geburtsort der Autorin Toni Morrison (1931 – 2019), wenn Shirley Temples blonde Locken und blaue Augen als ultimatives Schönheitsideal gelten? Wenn die Bonbonverpackung ein ebensolches Kind ziert, sie beim Einkaufen übersehen werden und die Lehrerin hellere Kinder bevorzugt? Wenn die eigene Mutter sie für hässlich hält, während sie die Kinder ihrer weißen Arbeitgeberfamilien vergöttert? Wenn sie zu Weihnachten blonde, blauäugige Babypuppen bekommen?

Foto: © B. Busch. Cover: © Rowohlt

Claudia, Frieda, Pecola
Ins Zentrum ihres Debütromans Sehr blaue Augen, erstmals 1970 als The Bluest Eye erschienen und 2023 in deutscher Neuübersetzung von Tanja Handels im Verlag Rowohlt wieder aufgelegt, stellt die 1993 als erste schwarze Frau mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Toni Morrison drei Mädchen. Jede leidet auf ihre Art unter dem Trauma ihrer vermeintlichen Hässlichkeit. Claudia Mac Teer, die temperamentvolle Neunjährige und Ich-Erzählerin der ein Jahr umfassenden Rahmenhandlung, entzieht sich dem allgemeinen Zauber, zerstört die verhassten Puppen und würde in ihrer Wut am liebsten dasselbe mit weißen Mädchen tun. Ihre um ein Jahr ältere, besonnenere Schwester Frieda verehrt zwar Shirley Temple, kommt aber dank ihres Elternhauses besser zurecht als die elfjährige Pecola Breedlove, die aus weit ärmlicheren, liebloseren Verhältnissen stammt und in einem heruntergekommenen Ladenlokal ein freudloses, einsames Dasein fristet:

Sie wohnten dort, weil sie arm und Schwarz waren, und sie blieben dort, weil sie sich für hässlich hielten. Ihre Armut war althergebracht und lähmend, aber keineswegs einzigartig. Ihre Hässlichkeit hingegen schon. Niemand hätte sie davon überzeugen können, dass sie nicht auf schonungslose und aggressive Weise hässlich waren. (S. 58)

Für die permanent gedemütigte Pecola, die im Laufe des Romans – wie man sofort erfährt – von ihrem eigenen Vater ein Baby bekommt, wird der Wunsch nach blauen Augen zur Obsession:

Schon vor geraumer Zeit war Pecola zu dem Schluss gekommen, wenn nur ihre Augen anders wären, […], genauer gesagt: schön, dann wäre auch sie selbst ganz anders. […] Jeden Abend, ausnahmslos, betete sie um blaue Augen. (S. 67/68)

Unterschiedliche Zeitebenen und Erzählperspektiven
In die Rahmenhandlung eingeschoben sind Einblicke in Lebensläufe von Erwachsenen, rechtlosen schwarzen Frauen und Männer, die erlebte Ohnmacht in Gewalt gegen ihre Frauen und Kinder ummünzen.

Der schwarzen Lebenswirklichkeit stellt Toni Morrison kurze Textschnipsel aus einer US-Fibel über die Bilderbuchwelt einer weißen Mittelschichtfamilie gegenüber.

Ein Roman mit Erkenntnisgewinn
Nicht „bequeme Ausflucht ins Mitleid“ (S. 11) wollte Toni Morrison laut ihrem Vorwort von 2008 auslösen, sondern die schwarze Leserschaft „zu einer Reflexion ihrer eigenen Rolle“  (S. 11) zwingen. Im ebenso exzellenten Nachwort schildert die afrodeutsche Autorin Alice Hasters, wie das bei ihr gelang, als ihr die Mutter mit 13 Jahren den Roman gab:

Das Buch setzte meiner Sehnsucht, weißer auszusehen, etwas entgegen. So blieb es bei einem heimlichen Wunsch, den ich mit meinem Spiegelbild teilte, und wuchs nicht weiter in ein verzweifeltes Verlangen, das meinen Alltag diktierte. (S. 266)

Obwohl ich nicht zur Haupt-Zielgruppe gehöre, hat mir dieser gar nicht plakative Roman, der zum aufmerksamen Lesen und Nachdenken zwingt, großen Erkenntnisgewinn beschert. Nicht nur als Signal gegenüber der weißen Bevölkerung, wie ich bisher dachte, sondern als Aufforderung zu schwarzem Selbstbewusstsein war der Slogan „Black is beautiful“ der Bürgerrechtsbewegung ab 1966 gedacht. Die in der Neuübersetzung gewählte Großschreibung des Adjektivs „schwarz“ schafft in meinen Augen allerdings neue Unterschiede anstatt Diskriminierung abzubauen. Dass aber, wie Claudia und Frieda erkennen, für manche Blumen der Boden nicht taugt und deshalb ausgetauscht oder verändert werden muss, ist die zweifellos zeitlose Quintessenz dieses herausragenden modernen Klassikers.

Toni Morrison: Sehr blaue Augen. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Mit einem Nachwort von Alice Hasters. Rowohlt 2023
www.rowohlt.de

 

Weitere Rezensionen zu Büchern von Literaturnobelpreisträgerinnen und -preisträgern auf diesem Blog:

1909
1920
1926
1932
1954
2017
2021

Michela Marzano: Falls ich da war, habe ich nichts gesehen

  Vergessen ist keine Lösung

Seit September 2022 regiert mit Giorgia Meloni in Italien die am weitesten rechts stehende Politikerin seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Wie alle Ultrarechten weltweit kämpft sie für ein nationalistisch-identitäres Weltbild sowie gegen Migration, vaterlandslose Linke, Aufweichung des traditionellen Familienbilds und Genderideologie.

Bereits kurz vor der Wahl von 2022 erschien in Italien Stirpe e vergogna, in der deutschen Übersetzung von 2023 Falls ich da war, habe ich nichts gesehen. Die italienische, in Frankreich lebende und lehrende, 1970 in Rom geborene Philosophin, Autorin und ehemalige Abgeordnete des Partito Democratico Michela Marzano nimmt darin den Ausgang der Wahl vorweg und erklärt, wie es zu einer Regierung kam, die „nichts als eine postmoderne Version des Neofaschismus ist“ (S. 263):

Es wurde niemals wirklich aufgeräumt. (S. 232)

Kollektives Gedächtnis? Eher kollektives Vergessen. (S. 233)

Eine schockierende Entdeckung
Im Jahr 2019 entdeckte Michela Marzano zufällig, dass das in ihrer Familie sorgsam gepflegte, von ihr nie angezweifelte Narrativ der linken Orientierung auf einer Lüge beruht: Nicht nur war ihr Großvater Arturo Marzano (1897 – 1976) Mitglied der Duce-Partei, was vielleicht für einen Richter und Staatsanwalt noch erklärlich wäre, er gehörte vielmehr zu deren allerersten Anhängern und war als Teil der berüchtigten Squadristi am Marsch auf Rom am 28.10.1922 beteiligt. Nach dem Krieg nur kurzzeitig aus dem Staatsdienst entfernt und ab Ende 1949 wieder als Staatsanwalt tätig, setzte er sich in den 1950er-Jahren als Abgeordneter der national-monarchistischen Partei gezielt für das Vergessen ein:

Die Gnade […] muss die Erinnerung an die jüngste Vergangenheit in eine undurchdringliche Finsternis des Vergessens hüllen, sie in die tiefsten Abgründe der Amnesie stürzen […]. (S. 251)

Collage: © B. Busch. Cover: © Eichborn Verlag

Doch nicht allein Interesse am Großvater trieb Michela Marzano bei ihren Recherchen an:

Als ich anfing zu schreiben, wollte ich da nicht eigentlich mein eigenes Leben erforschen, die Gewaltausbrüche und die Angst meines Vaters ergründen, […], um meiner eigenen Wahrheit auf die Spur zu kommen? Den Schmerz verstehen, den ich seit meiner Kindheit in mir trage und dessen Konturen trotz all meiner Versuche, ihn zu ergründen, immer unscharf geblieben sind? (S. 44)

Besonders die schwierige Beziehung zu ihrem Vater, dem linksliberalen Wirtschaftsprofessor Ferruccio Marzano mit dem fünften, lange totgeschwiegenen Vornamen Benito, und ihre eigene, von Versagensängsten, Magersucht, Suizidversuchen, 20-jähriger Psychotherapie und fehlendem Mut zur Mutterschaft geprägte Biografie, durchziehen das Buch in seinen vier Teilen „Schande“, „Schuld“, „Vergessen“ und „Vergebung“. Überwiegend liest man ein (auto-)biografisches Sachbuch, gelegentliche ergänzt durch Dialoge, die so oder ähnlich stattgefunden haben könnten.

Fehlende Puzzleteile
Trotz aller Forschung in den reichlich vorhandenen großväterlichen Hinterlassenschaften sowie in Archiven bleibt das Bild doch unvollständig. Keine Hinweise fanden sich leider auf die Beweggründe des Großvaters für seinen frühen Anschluss an Mussolini, die mich sehr interessiert hätten, wohingegen mir der autobiografische Teil manchmal zu redundant war.

Die Grundaussagen des Buches zur transgenerationalen Traumatisierung und zu den Auswirkungen versuchter Geschichtstilgung auf die Gegenwart gelten über die Grenzen Italiens hinaus. Dass man dazu noch viel über die italienische Geschichte ab 1914 erfährt, unter anderem, weil der deutschen Ausgabe nicht die italienische Originalfassung, sondern die um Ergänzungen für Nicht-Italiener angereicherte, von der Autorin selbst ins Französische übersetzte Version zugrunde liegt, macht das mit viel persönlicher Betroffenheit, in Gendersprache verfasste Buch umso lesenswerter.

Michela Marzano: Falls ich da war, habe ich nichts gesehen. Übersetzung aus dem Französischen von Lina Robertz. Eichborn 2023
www.luebbe.de/eichborn

Monika Helfer: Die Jungfrau

  Am längeren Hebel

Es gibt Herzensbücher, andere, die mir nicht gefallen und viele Abstufungen dazwischen. Eine weitere Kategorie ist glücklicherweise eher selten: die, deren Lektüre ich bedauere, weil sie mir eine geschätzte Autorin oder einen liebgewordenen Autor verleiden. Zuletzt ist mir das 2020 bei Das Gewicht der Worte von Pascal Mercier passiert und nun leider mit Die Jungfrau von Monika Helfer. Dabei sind beide Bücher stilistisch großartig und Monika Helfer glänzt erneut durch maximale Verdichtung, geniale Zeit- und Gedankencollagen, packende Reflexionen über das Schreiben und ihren gewohnt lakonischen Ton. Anders jedoch als in ihren autofiktionalen Familienromanen Die Bagage und Vati, die ich begeistert gelesen habe, hat mich das kleine Buch über ihre fiktive, aus mehreren Vorbildern zusammengesetzte Jugendfreundin Gloria nach starkem Beginn zunehmend abgestoßen.

Eine ambivalente Beziehung
Die Motivation für die ungleiche Mädchenfreundschaft, so man sie überhaupt als solche bezeichnen kann, war von Beginn an gänzlich verschieden. Die begüterte, talentierte, hübsche und vaterlos aufwachsende Gloria brauchte ein ihr unterlegenes, manipulierbares Publikum und wollte mit Hilfe der Ich-Erzählerin Moni der Einsamkeit mit ihrer psychisch kranken Mutter entkommen. Für Moni dagegen bot Glorias feudale Umgebung Glanz und Fluchtmöglichkeit aus häuslicher Enge und Armut. Dafür opferte sie ihre Freiheit und andere Freundschaften und war zwischen 13 und 18 Jahren fast jeden Tag in Glorias feudaler Villa, dem „Geisterhaus“ (S. 79), „friedlichen Märchenungeheuer“ (S. 59) und „prächtigen Hausmonster“ (S. 71). Faszination, Neid und Wut hielten sich die Waage, gerne nutzte sie Gloria als Telefonseelsorgerin während ihrer missglückten Hochzeitsreise und ärgert sich gleichzeitig bis heute, sie „immer vorgelassen“ (S. 32) zu haben.

Ein Flashback
Monis frühe erste Ehe und Mutterschaft ließen den Kontakt einschlafen, erst an ihrem 70. Geburtstag erreicht sie ein Brief von Glorias Nichte mit der Bitte um einen Besuch. Die ehemalige Freundin ist in einem erbärmlichen Zustand, ihr Leben krachend gescheitert, abgebrochenes Schauspielstudium, Rückkehr nach Hause, kränkelnd seit dem Tod der Mutter vor 30 Jahren. Nicht einmal ihre Jungfräulichkeit hat sie verloren, wie sie Moni anvertraut, verbunden mit einer Bitte:

Ja, Moni, schreib eine Seite über mich, denn wenn ich sterbe, ist dann noch etwas von mir da. (S. 17)

In Moni flammt mit dem Wiedersehen alte Wut erneut auf:

Während ich mit Wut auf die Tastatur klopfe, ärgere ich mich über Gloria nicht weniger, als ich mich damals geärgert hatte. […] Wofür man sich vor fünfzig Jahren rächen wollte, das ist nicht verziehen. (S. 84)

Mangelnde Größe
Spätestens hier hatte mich der Roman, fiktional oder nicht, verloren. Dass die jugendliche Moni Glorias Bedürftigkeit inmitten ihrer Reichtümer nicht erkennt, ist verständlich. Aber dass sie beim Anblick der gescheiterten Gloria auftrumpft und nur einzelne Höhepunkte ihres Scheiterns aufzählt, um sie ihren eigenen Erfolgen gegenüberzustellen, hat mich abgestoßen. Denn anders als der Titel vermuten lässt, steht nicht Gloria im Mittelpunkt, sondern Moni: ihre Befreiung aus der ersten Ehe, die zweite Ehe mit dem Schriftsteller Michael Köhlmeier, die vier Kinder und ihre späten schriftstellerischen Höhenflüge. So interessant ich diese Passagen fand, so wenig kann ich das Nachkarten einer doch zweifellos klugen Frau verstehen. Warum akzeptiert sie widerwillig Glorias Wunsch, um ihn dann zu konterkarieren?

Weitere autofiktionale Romane von Monika Helfer mag ich nun nicht mehr lesen. Sollte sie das Genre wechseln, mache ich vielleicht einen neuen Versuch.

Monika Helfer: Die Jungfrau. Hanser 2023
www.hanser-literaturverlage.de

 

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