Ulrich Trebbin: Die unsichtbare Guillotine

  Vergangenheit und Zukunft der Stadelheimer Guillotine

Ich halte es für richtig, die Guillotine von Stadelheim der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Deshalb habe ich hier ihre Geschichte aufgeschrieben […]. (S. 16)

Am 22.02.1943 wurden im Gefängnis München-Stadelheim die Mitglieder der Weißen Rose Hans und Sophie Scholl sowie Christoph Probst guillotiniert. Ihre Hinrichtung basierte auf dreien der etwa 2600 Todesurteile, die der fanatische nationalsozialistische Präsident des Volksgerichtshofes Roland Freisler während seiner zweijährigen Amtszeit verhängte. Es waren drei von 11.000 vollstreckten Todesurteilen während der Zeit des Dritten Reichs, drei der über 3000 Exekutionen des Scharfrichters Johann Reichhart und drei der gut 1.300 zwischen 1855 und 1945 mit der Stadelheimer Guillotine durchgeführte Tötungen.

Joseph-Ignace Guillotin (1738-1814)

Opfer, Scharfrichter, Konstrukteure
Der Hörfunkautor und Online-Journalist beim Bayerischen Rundfunk Ulrich Trebbin zeichnet in seinem trotz des enormen Faktenreichtums hervorragend zu lesenden Sachbuch Die unsichtbare Guillotine nicht nur die Geschichte der Stadelheimer Guillotine, ihrer Opfer und Scharfrichter und das immer wieder veränderte Procedere der Hinrichtungen nach. Er widmet sich auch den Gründen, die zu ihrer Einführung in Bayern führten, beschreibt die Vorläufer der berüchtigten französischen Revolutionsguillotine und die 1789 vom französischen Arzt und Politiker Joseph Ignace Guillotin vorgeschlagene, vom Sekretär der Akademie für Chirurgie Antoine Louis entworfene und schließlich vom in Paris lebenden deutschen Klavierbauer Tobias Schmidt gebaute Guillotine, auf der während der 14-monatigen Terrorherrschaft der Französischen Revolution zwischen 16.600 und 40.000 Menschen wie am Fließband starben.

1855 vom Münchner Mechanikus Johann Mannhardt mit einigen technischen Neuerungen angefertigt, löste die Stadelheimer Fallschwertmaschine, die fortan durch Bayern reiste, die „störanfälligen“ Enthauptungen per Schwert durch oft angetrunkene Scharfrichter ab. Da Todesurteile auf Mordfälle beschränkt blieben, fanden unter dem Stadelheimer Fallbeil in den 77 Jahren bis 1932 „nur“ 125 Verurteilte den Tod. Einige aufsehenerregende Fälle werden im Buch aufgegriffen und im ausführlichen Anhang finden sich alle Namen, Sterbedaten, Hinrichtungsorte und Vergehen aus dieser Zeit. Um ein Vielfaches höher war die Zahl der Opfer zwischen 1933 und 1945: knapp 1.200 lassen sich nachweisen, nun oft aufgrund politischer „Delikte“:

An die Stelle der Grundrechte des Einzelnen tritt die Wahrung der „völkischen Gemeinschaftsordnung“, und an die Stelle von Recht, Strafe, Sühne und Gerechtigkeit treten Vernichtung, Rache, Anmaßung, Entehrung und biologistischer Wahn. (S. 110)

Wider die Zensur
Die Forderung, die „in Bayern kaum existierende Erinnerungsarbeit an die Hinrichtungsopfer“ (S. 192) durch die Präsentation der Stadelheimer Guillotine in einer einbettenden Ausstellung zu verbessern, um „ein Bewusstsein zu entwickeln, sowohl für die Barbarei als auch für die seither errungenen Werte“ (S. 196), ist nach allen Richtungen wohlüberlegt und mit konkreten Vorschlägen untermauert. Von ihrer Existenz im Depot des Bayerischen Nationalmuseums erfuhr die staunende Öffentlichkeit erst durch einen sehr empfehlenswerten Beitrag Ulrich Trebbins im Bayerischen Rundfunk 2014, vorher galt sie als verschollen. Zu sehen war sie seit 1945 nur bei einer Ausstellung zum 100. Geburtstag des Komikers Karl Valentin 1982 in Erinnerung an dessen schwarz-humorige Hinrichtungssketche, allerdings damals noch ohne Wissen um ihre genaue Geschichte. Höchste Zeit also für eine neue Diskussion über die Zukunft dieses herausragenden Geschichtsdokuments:

Die Entscheidung, welche Exponate ausgestellt werden, sollten – wie sonst auch – Kuratorinnen treffen und nicht Politiker, denn wenn der Staat schon vorab Verbote ausspricht, ist das nichts anderes als Paternalismus und Zensur. Und beides darf in einem freien und demokratischen Land keine Option sein. (S. 201)

Ulrich Trebbin: Die unsichtbare Guillotine. Pustet 2023
www.verlag-pustet.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Ulrich Trebbin auf diesem Blog:

Sarah Winman: Lichte Tage

  Bruchstellen und Beulen

Wer waren wir, Ellis, ich und Annie? So oft habe ich versucht, uns zu erklären, aber jedes Mal bin ich gescheitert. Wir waren alles, und dann zerbrachen wir. (S. 218)

Im vielversprechenden epilogartigen Eingangskapitel von 1950 wählt die unglücklich verheiratete, schwangere Dora Judd in einem Akt erster Auflehnung gegen ihren Mann Len als Tombolapreis statt des von ihm präferierten Whiskys eine Reproduktion von van Goghs berühmtem Sonnenblumengemälde. Dieses Bild, im Ausschnitt auf dem wunderschönen Cover zu sehen, und sein Entstehungsort, die Provence, sind für Dora, später für ihren Sohn Ellis und dessen Freund Michael,  die Verkörperung von Licht, Farbe, Hingabe, Hoffnung, Inspiration und Freiheit.

Umkehr
46 Jahre danach ist aus Ellis ein „verwahrloster Eremit“ (S. 86) geworden, der in Oxford mehr dahinvegetiert als lebt. Seine Künstlerambitionen fielen dem frühen Tod Doras zum Opfer, stattdessen entfernt er nachts als Tin Man, so der Originaltitel des 2017 erschienenen Romans, Blechmann, Beulen aus Autokarosserien. Die größte Beule seines Lebens ist der Unfalltod seiner Frau Annie 1991 nach 13 Jahren Ehe. Von ihm übrig ist „[…]nichts als ein Körper, der all seine Energie dafür aufwandte, vor etwas zu fliehen, was sich nicht in Worte fassen ließ.“ (S. 36)

Längst hängt Doras Sonnenblumenbild nicht mehr im Haus seines Vaters, wo inzwischen die empathische Carol mit ihm zusammenlebt. Als Ellis, wachgerüttelt durch eine Krankschreibung, sein Leben noch einmal ändern will und auf dem Dachboden nach der Reproduktion sucht, findet er dort auch einen vergessenen Karton mit Michaels Gedankenbuch.

Michaels Sicht
Während im ersten Teil Ellis sein Leben, seine Ehe und die besondere Freundschaft mit Michael bilanziert, spiegeln Michaels Notizen, begonnen in einer schwierigen Lebensphase 1989, seine Sicht auf den Zweierbund, auf eine Provencereise der beiden Neunzehnjährigen, als plötzlich ein ganz anderes Leben möglich schien, und die Zeit ab 1976, als sie mit Annie zum Trio wurden.

© B. Busch

Licht und Schatten
Reduziert auf die reine Romanhandlung, hat mir die natürliche, sprachsensible Ausführung über die verschiedenen Facetten von Liebe und Freundschaft in Lichte Tage durchaus zugesagt, allerdings nicht die Gesamtumsetzung. Anscheinend hat die 1964 geborene britische Schauspielerin und Autorin Sarah Winman dem Stoff für ihren dritten Roman zu Unrecht misstraut und ihn mit überflüssiger Dramatik hart an der Kitschgrenze sowie plump eingestreuten Informationen zu van Gogh und einem Gedicht von Walt Whitman angereichert. Den Figurenzeichnungen fehlen Grautöne, es hakt bei der Gewichtung einzelner Szenen und vor allem Annie bleibt als Charakter enttäuschend blass. Zwar sorgen die sprunghaften Zeitwechsel für angenehme Abwechslung, aber die oftmals platten Dialoge hielten mich auf Distanz. Poetische Landschaftsbeschreibungen aus der Provence kontrastieren mit Fäkalausdrücken und fragwürdigen Sprachbildern, etwa die „erschöpfte Schwalbe, die sanft vom Himmel fällt“ (S. 194): Entweder sie plumpst oder sie gleitet sanft. Inwiefern dies ebenso wie unpassende Adjektive und unklare Bezüge von Pronomina an der Übersetzung oder am Originaltext liegt, kann ich nicht entscheiden:

Ich hatte akzeptiert, dass ich nicht der Schlüssel zu seinem Schloss war. Sie sollte erst später kommen. (S. 155)

Ein sorgfältigeres Lektorat wäre dringend erforderlich gewesen, auch bei der verwirrenden Namensverwechslung ausgerechnet im ersten Satz: „Carol“ statt „Dora“.

Sein Publikum wird Lichte Tage bei Fans gefühlvoller Liebes- und Schicksalsromane garantiert finden. Für mich hat das durchaus interessante Buch über biografische Bruchstellen jedoch leider Potential verschenkt.

Sarah Winman: Lichte Tage. Aus dem Englischen von Elina Baumbach. Klett-Cotta 2023
www.klett-cotta.de

Janet Lewis: Draußen die Welt

  Ein Bollwerk gegen die ethische Wildnis

Zwei Morgen flachen Wiesenlandes im ländlichen Kalifornien zwischen dem Küstengebirge und dem südlichen Ende der Bucht von San Francisco bewirtschaftet die Familie Perrault am Ende der 1920er- und Beginn der 1930er-Jahre. Ihr Mittelpunkt und unumstrittene Herrin über Küche, Haus und Garten ist Mary Perrault, eine geborene Schottin und späte Mutter Anfang 50. Sie kümmert sich um die vier Kinder von der pubertierenden Melanie bis zum dreijährigen Jamie, engagiert sich in der Gemeinde und hat für alle stets ein offenes Ohr und einen Platz an ihrem Tisch. Ihre Aufgaben erfüllt sie mit Fleiß, Disziplin, fröhlicher Gelassenheit und Freude:

Es herrschte ein großer Friede in ihrem Herzen, Freundschaft, Geborgenheit, Zufriedenheit. (S. 22)

Ein Vorbild an Resilienz
Stabilität verleiht der warmherzigen, lebensklugen und selbstreflektierten Frau ein innerer moralischer Kompass. Statt Ermahnungen und Strenge sind Vorbildhaftigkeit, Liebe, Sicherheit und Geborgenheit Grundpfeiler ihrer Erziehungsarbeit. Vertrauensvoll gewährt sie ihren Kindern Freiheiten, schreitet selten ein, freut sich über ihre Selbstständigkeit und lässt Melanie ihr Glück außerhalb der Farm suchen.

Dabei ist Mary keineswegs naiv und blind für äußere Bedrohungen und fürchtet „eine Gesellschaft ohne gemeinsame Werte, eine ethische Wildnis, erwachsen aus der Wildnis der Natur“ (S. 362). Denn die Katastrofen häufen sich: eine Verkehrstragödie, die Auswirkungen der großen Depression 1929, menschengemachte Umweltprobleme, ein Kapitalverbrechen und die Lynchjustiz eines entfesselten Mobs. Ihnen setzt sie entgegen, was in ihrer Macht steht: die Atmosphäre ihrer Küche, „warm, vertraut und geborgen.“ (S. 364)

Spülen muss man trotzdem
Die US-Amerikanerin Janet Lewis (1899 – 1998) schrieb neben Lyrik auch eine Trilogie über historische Justizfälle und das 1943 erschienene Against a Darkening Sky. Während der Originaltitel die Gefährdung des Perraultschen Mikrokosmos thematisiert, hebt der ebenso gut passende deutsche Titel Draußen die Welt auf Marys Bestrebungen ab, durch Integrität, Empathie und Zuverlässigkeit ein Bollwerk gegen eben diese Stürme zu errichten. Dazu passen das Geschirrtuch auf dem sehr gelungenen Cover und Marys Gedanken bei der Küchenarbeit:

Trotz Krieg, Mord und plötzlichem Tod, dachte sie bei sich, spülen muss man trotzdem. (S. 361)

© B. Busch

Gegen den Lärm der Welt
Dass der Roman erst 80 Jahre nach seinem Erscheinen ins Deutsche übersetzt wurde, erstaunt mich sehr. Es mag daran liegen, dass er – anders als zunächst von mir erwartet – nur am Rande die großen Themen der Weltwirtschaftskrise wie Bankencrash, Arbeitslosigkeit und Verelendung beschreibt. Stattdessen ist es ein Buch über eine Frau, die den Krisen der Welt gelassen und mit den ihr zur Verfügung stehenden Waffen entgegentritt, sich nie beklagt und schlechte Nachrichten nur ungern ins Haus lässt:

Sie wünschte alle Zeitungen von ganzem Herzen zum Teufel. Eine Zeitung mit ihren riesigen Schlagzeilen auf dem Tisch war wie jemand im Raum, der die ganze Zeit hysterisch kreischte. (S. 362)

Eine große Beobachterin
Neben Mary Perrault steht im Mittelpunkt des Romans die Natur, die die Lyrikerin Janet Lewis sehr blumig und ausführlich beschreibt, ausgezeichnet übersetzt von Sylvia Spatz: Landschaft, Pflanzen, Wetterereignisse, den Wechsel der Jahreszeiten, Kaninchen, die Bucht von San Francisco und vieles mehr.

Für mich sind Draußen die Welt und seine Verfasserin Janet Lewis eine echte Entdeckung. Geduldigen Leserinnen und Lesern empfehle ich den ruhig erzählten modernen Klassiker, der ohne große Emotionen und dramatische Wendungen auskommt, als angenehm entschleunigende Lektüre.

Janet Lewis: Draußen die Welt. Aus dem amerikanischen Englisch von Sylvia Spatz. dtv 2023
www.dtv.de

Claudia Piñeiro: Kathedralen

  Lange Schatten eines Todes

An manchen Orten fällt das Überleben besonders schwer – in der Wüste, auf einer unbewohnten Insel, auf einem Berggipfel, auf dem Mars, in einem Land, in dem Krieg herrscht, im Urwald. Oder in meiner Familie. (S. 61)

Ein 30 Jahre zurückliegender Todesfall ist Dreh- und Angelpunkt des Romans Kathedralen, 2020 eine der meistverkauften Neuerscheinungen Argentiniens. Mit viel Wut hat die politisch engagierte, 1960 in Buenos Aires geborene Autorin und Journalistin Claudia Piñeiro das Buch geschrieben, das trotz des im Mittelpunkt stehenden Verbrechens kein Krimi ist, eher schon ein belletristisches Debattenbuch mit deutlicher Positionierung mittels krasser Charaktergestaltung.

Sieben schwer vom Tod der 17-jährigen Ana Sardá betroffene Personen kommen mit sprachlich hervorragend unterscheidbaren Stimmen zu Wort, ein großer Pluspunkt des Romans, der auch dem Übersetzer Peter Kultzen zu verdanken ist. Bei allen hinterließ der Fund der zerstückelten, verbrannten Leiche der jüngsten der drei Sardá-Schwestern auf einer Müllhalde tiefe Spuren. Die Familie aus der gebildeten, streng katholischen Mittelschicht zerbrach daran.  

Jeder hat seine eigene Kathedrale
Bei der mittleren Schwester Lía überwiegen Wut und Ratlosigkeit. Nie verziehen ihr ihre strenggläubige Mutter und ihre älteste Schwester Carmen die Abkehr vom Glauben ausgerechnet während der Totenwache. 9000 Kilometer von Buenos Aires entfernt führt sie inzwischen eine Buchhandlung in Santiago de Compostela, nur mit dem Vater in Briefkontakt. Ihre Kathedralen sind die Bücher.

© Kathedrale von Santiago de Compostela: A. Pape, © Gesamtbild: B. Busch

Mateo leidet unter seinen fanatisch katholischen Eltern Carmen und Julián, liebt dagegen seinen Großvater Alfredo, der ihn zu einer Reise zu den Kathedralen Europas ermuntert und ihm drei Briefe mitgibt: für ihn, für Lía und für beide gemeinsam. Seine Kathedrale besteht aus Fragezeichen.

Höchst anrührend ist Marcela, Anas beste, in unverbrüchlicher Treue verbundene Freundin. Seitdem ihr in Anas Todesnacht in einer Kirche eine Statue des Heiligen Gabriel auf den Kopf fiel, leidet sie unter anterograder Amnesie, einem Totalverlust des Kurzzeitgedächtnisses. Obwohl sie sich an alles vor dem Unfall perfekt erinnert, gilt sie als unbrauchbare Zeugin. Erst als ihr der todkranke Alfredo endlich zuhört, kommt Bewegung in die Aufklärung. Ihre Kathedralen sind ihre Notizhefte.

Elmer zweifelte als damals junger Polizist die Theorie des Sexualverbrechens mit Vertuschungsmord erfolglos an. Seine Kathedrale ist die Ermittlungsarbeit.

Für Carmen verließ Julián das Priesterseminar, seine Berufung hielt dem Begehren nicht stand. Seine Kathedrale ist die Stärke seiner Frau, mit der er seine Schwäche kompensiert.

Carmen ist stolz auf ihren radikalen Glauben, ihre Kathedrale, und fühlt sich durch ihn unangreifbar und erhaben.

Alfredo gab die Suche nach dem Mörder seines „Kückens“ nie auf. Er ist froh, kurz vor seinem Tod die Wahrheit bis zu einem für ihn erträglichen Maß erfahren zu haben. Seine Kathedrale besteht aus Lieblingswörtern wie „Lía“ und „Mateo“, die er gerne vereint sehen möchte.

Ein starkes gesellschaftliches Plädoyer
Dass Claudia Piñeiros Figuren kaum Grautöne aufweisen, hat mich wegen ihrer Stimmigkeit nicht übermäßig gestört hat. Kathedralen ist für mich keine Abrechnung mit dem Katholizismus, wohl aber mit dessen selbstgerechter, unbarmherziger, scheinheilig-heuchlerischer Ausübung und der blinden Ergebenheit des Staates gegenüber der Institution Kirche.

Krimifans kämen zwar beim sehr ausführlich geschilderten grauenhaften Tathergang auf ihre Kosten, doch passt die frühe Absehbarkeit nicht zu diesem Genre. Mich haben die Enthüllungen trotzdem bis zum Schluss gefesselt, weshalb ich den gesellschafts- und kirchenkritischen Roman mit Gewinn gelesen habe.

Claudia Piñeiro: Kathedralen. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Unionsverlag 2023
www.unionsverlag.com

Nils Freytag & Silke Schlichtmann: Lesen ist doof

  Bilder sagen mehr als Worte

Laut der repräsentativen Markt-Media-Studie „best for planning 2021“, bei der mehr als 30.000 Personen ab 14 Jahren in Einzelinterviews befragt wurden, liegt das Bücherlesen in Deutschland nur noch auf Rang 13 der Freizeitbeschäftigungen. 25,5 Prozent der Befragten lesen seltener als einmal pro Monat, weitere 24,1 Prozent sogar nie.

Dafür muss es Gründe geben. Die Kinderbuchautorin Silke Schlichtmann und ihr Mann, der Historiker Nils Freytag, haben sich in ihrem ersten gemeinsamen Buch auf die Suche begeben, warum die Hälfte der Befragten Lesen offenbar doof findet. 20 Sätze, die gegen das Lesen sprechen könnten, haben sie in ihrem hübschen kleinen Büchlein zusammengestellt, alle beginnend mit „Lesen ist doof, weil…“. Widerlegt werden sie auf der gegenüberliegenden Seite nicht mit Worten, sondern mittels Pinsel und Stift von namhaften Illustratorinnen und Illustratoren.

Alles Vorurteile!
Ist Lesen wirklich eine ernste Angelegenheit, wenn man dabei so herrlich lachen kann wie der Junge auf der Illustration von Henrike Wilson? Und ist es tatsächlich so anstrengend, wenn doch der von Kathrin Schärer gezeichnete Hase dabei entspannt im Liegestuhl lümmelt, ganz im Gegensatz zu den schwitzenden Sportlern um ihn herum? Wie passt kann Lesen langweilig sein, wenn das von Ulrike Möltgen abgebildete Mädchen sogar beim Überqueren der Straße die Augen nicht vom Buch abwendet? Paul Maar lässt das Sams gar einem ungläubigen Leser auf die Schulter tippen – von wegen alles erfunden! Drei der Illustrationen stammen von Künstlerinnen, die bereits Silke Schlichtmanns Kinderbuchhelden ausgezeichnet ins Bild gesetzt haben: Susanne Göhlich die Pernilla-Bände, Ulrike Möltgen den Bluma-Roman und Maja Bohn die Mattis-Reihe. Sie und alle anderen, Erhard Dietl, Julia Dürr, Cornelia Funke, Sybille Hein, Felicitas Horstschäfer, Ulf K., Regina Kehn, Ute Krause, Daniela Kulot, Axel Scheffler, Marei Schweitzer, Susanne Strasser, Julie Völk und Sabine Wilharm, schaffen es spielend, die Aussagen zu konterkarieren, humorvoll, überraschend und entwaffnend logisch.

© B. Busch

Ein prima Geschenkbuch
Als Leseratte habe ich mich bestens amüsiert und diebisch gefreut, wie trefflich sich die Argumente der Lesemuffel widerlegen lassen, und wer erst einmal über sich selbst lachen kann, hat den ersten Schritt zur Leserin oder zum Leser vielleicht bereits gemacht. Ob Bücherfan oder nicht, die hintersinnig-witzige Zusammenstellung eignet sich bestens für Groß und Klein ab etwa sechs Jahren und liefert garantiert gleichermaßen Stoff zum Diskutieren wie zum Nachdenken.

Noch ein nicht ganz uneigennütziger Vorschlag zum Schluss: Wie wäre es mit einer Fortsetzung zum ebenso wichtigen Thema „Vorlesen“, schließlich wurde Silke Schlichtmann für ihre Kinderveranstaltungen 2019 als Lesekünstlerin des Jahres ausgezeichnet? Vielleicht heißt es ja dann irgendwann auch: Vorlesen ist doof! Wetten, dass sich auch diese Behauptung spielend als falsch entlarven lässt?

Nils Freitag & Silke Schlichtmann: Lesen ist doof. Hanser 2023
www.hanser-literaturverlage.de

 

Weitere Rezensionen zu Kinderbüchern von Silke Schlichtmann auf diesem Blog:

             

Trude Teige: Als Großmutter im Regen tanzte

  Vergangenheit, die kleben bleibt

Weißt du, manchmal gibt es etwas, das vererbt wird, auch wenn man gar nicht weiß, dass es existiert. (S. 68)

Zwei lange verschwiegene Themen aus der norwegischen und deutschen Geschichte verschränkt die norwegische Journalistin und Autorin Trude Teige in ihrem Familienroman Als Großmutter im Regen tanzte: das Schicksal der sogenannten „Tyskerjenter“, Norwegerinnen, die sich während des Zweiten Weltkriegs in deutsche Soldaten verliebten, als Landesverräterinnen galten und bei der Auswanderung ausgebürgert wurden, und den beispiellosen Massensuizid beim Einzug der marodierenden, plündernden und vergewaltigenden Roten Armee Ende April/Anfang Mai 1945 in der vorpommerschen Kleinstadt Demmin mit Hunderten Zivilopfern.

Drei Frauengenerationen, zwei Zeitebenen
Drei Frauen aus drei Generationen stehen im Mittelpunkt dieses bereits 2015 in Norwegen erschienenen und dort zum Bestseller avancierten Romans: die Großmutter Tekla, die Mutter Lilla und die vaterlose Enkelin Juni. Erzählt wird kapitelweise in zwei Ebenen aus den Jahren 1945 bis 1946 und in der Jetzt-Zeit, unterscheidbar durch verschiedene Schriftarten. In der Gegenwart tritt Juni als Ich-Erzählerin auf, in der früheren Zeitebene erfahren wir in personaler Erzählweise vom Schicksal der jungen Tekla, die sich in den deutschen Soldaten Otto Adler verliebte, ihm über das norwegische Ausreiselager Mandal ins zerstörte Deutschland folgte und im Sommer 1945 in seiner zerstörten, traumatisierten Heimatstadt Demmin ankam.

Vererbte Traumata
Juni wiederum flieht schwanger und planlos drei Jahre nach dem Tod der Großeltern und kurz nachdem ihre Mutter verstarb vor ihrem gewalttätigen Mann Jahn in das Familienhäuschen auf einer Schäre vor Kragerø. Dort stößt sie auf ein Foto Teklas mit einem deutschen Soldaten, auf die großelterliche Heiratsurkunde, die nicht zum Geburtsdatum Lillas passt, auf Briefe und andere Dokumente, die ein tiefgreifendes Familiengeheimnis erahnen lassen. Zusammen mit dem frisch geschiedenen, gutaussehenden jungen Historiker Georg, der just auf die Schäre gezogen ist, reist Juni nach Deutschland, um Licht ins Familiendunkel zu bringen. Was sie schließlich herausfindet, überrascht, denn es enthüllt nicht nur das bewegende Schicksal ihrer Großmutter, sondern wirft auch ein neues Bild auf das zerrüttete Verhältnis zwischen Tekla und Lilla, Lillas psychische Probleme sowie Junis angespannte Mutter-Beziehung und ihre Alltagsschwierigkeiten.

© B. Busch

In der Form nicht mein Roman
Trude Teige hat für diesen von tatsächlichen Geschehnissen und ähnlich gelebten Leben inspirierten Roman gründlich recherchiert, so dass ich von den Schilderungen der hochinteressanten historischen Umstände zweifellos profitiert und den Roman in Teilen daher auch gern gelesen habe. Formal ist Als Großmutter im Regen tanzte allerdings leider genau die Art „leichter Frauenroman“, die mir gar nicht liegt. Hätte ich mich nicht von den Themen blenden lassen, am Titel wäre es zu erahnen gewesen. Weder konnte mich die sprachliche Qualität mit den vielen kurzen Hauptsätzen überzeugen, noch die teilweise sehr konstruierte Handlung mit den inzwischen überstrapazierten Überraschungsfunden, dem neuen Inselbewohner oder Teklas zufälligem Hineinstolpern in einen Entnazifizierungsprozess. Am meisten gestört haben mich allerdings die aufgesetzten, dadurch hölzernen Dialoge, die statt der Interaktion der Sprechenden der Belehrung der Leserschaft dienen. Außerdem traut die Autorin ihrem Publikum anscheinend wenig zu, wenn sie durch interessante Parallelen im Schicksal der drei Frauen anschaulich illustrierten Themen unnötigerweise zusätzlich wortreich erklärt und berührende Momente damit zerredet. Wen dies jedoch nicht stört, wird an dem flott geschriebenen, leicht sentimentalen Unterhaltungsroman sicher mehr Freude haben als ich.

Trude Teige: Als Großmutter im Regen tanzte. Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob. Fischer 2023
www.fischerverlage.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen mit dem Thema „Deutschenmädchen“ auf diesem Blog:

 

Katja Reider & Meike Teichmann: Hier kommt Finni Fuchs

  Alltagsgeschichten vom Fuchskind

 

Finni Fuchs ist ein Frühaufsteher, Pech für Papa und Mama, die gerne ausgeschlafen hätten. Seufzend steht Papa Fuchs schließlich auf und ein weiterer abenteuerlicher Tag im Leben des kleinen Fuchskinds kann beginnen, denn:

Na bitte, also hat Papa doch ausgeschlafen! (S. 9)

© B. Busch

Ein unternehmungslustiges Füchslein
In fünf Kapiteln begleiten wir Finni beim Aufstehen, in den Kindergarten, beim Einkaufen mit dem Vater, beim Kuchenbacken mit der Mutter für den Besuch von Oma und Opa und beim Zubettgehen. In allen Situationen können sich Kinder ab zwei Jahren bestens wiederfinden, denn die kleinen Szenen kommen mitten aus ihrem kindlichen Alltag: Da fällt das Frühstücksbrot vom Hochstuhl, gibt es einen dicken morgendlichen Abschiedskuss von den Eltern, stürzt der Bauklotzturm von Lulu Dachs und Flocke Hase um, braucht Finni nach einem Unfall an der Rutsche ein Pflaster, bekommt er ein leckeres Probierstück an der Käsetheke (aber leider bei den Keksen), wird der Kuchenteig gleich zweimal verkostet und fließen Tränen, als der Kuchen vor Oma auf dem Boden landet. Und natürlich ist Finni nach einem solch ereignisreichen Tag kein bisschen müde – oder vielleicht doch?

© B. Busch

Bilderbuch- und Vorlesespaß für Klein und Groß
Hier kommt Finni Fuchs
ist eine fröhliche Bildergeschichte, bei der die kleinen Zuhörerinnen und Zuhörer durch Fragen zum Mitmachen und zum Benennen von ihnen bestens vertrauten Gegenständen animiert werden. Die ausdrucksstarken Gesichter der Familie Fuchs und Finnis kleiner Kameradinnen und Kameraden verschiedener Tiergattungen spiegeln ihre Gefühle gut erkennbar wider. Katja Reider hat ihre Texte zu jedem der mal doppelseitigen, mal einseitigen, mal kleineren Bilder der Zielgruppe ab zwei Jahren im Umfang angepasst, wobei ich meinem genau zweijährigen Test-Kind das Geschehen zunächst lieber erzählt habe. Mit Ausnahme der Szene, in der Finni heimlich eine Packung Bonbons in Papas Einkaufswagen schmuggelt, konnte der Zweijährige alle Begebenheiten verstehen und Parallelen zum eigenen Alltag ziehen. Trotzdem werden auch Drei- und Vierjährige ihren Spaß beim Entdecken haben, nur ist auch für ihre kleinen Hände die niedliche Finni-Ausstanzfigur zum Ankleiden aus zu dünnem Papier gemacht. Die vielen Details auf den Bildern von Meike Teichmann laden zum genauen Hinschauen wie auch zum Weitererzählen ein und sind dank der ausreichenden Weißflächen gut zu erkennen. Ihre Freude an den liebevollen, mit viel Humor grundierten Texten und Illustrationen werden auch die Vorleserinnen und Vorlesern haben, denn sie können sich bestens in ihrem turbulenten Alltag mit einem unternehmungslustigen, wissbegierigen Kleinkind wiedererkennen und mit den Fuchseltern aufatmen, wenn es heißt:

Schlaf schön, Finni! Morgen ist ein neuer Tag – mit Mama und Papa und allen, die du lieb hast. (S. 44)

Katja Reider & Meike Teichmann: Hier kommt Finni Fuchs. Esslinger 2023
www.thienemann-esslinger.de

 

Weitere Rezension zu einem Bilderbuch von Katja Reider auf diesem Blog:

Sabrina Janesch: Sibir

  Dschinns der Vergangenheit und Gegenwart

Inspiriert von der eigenen Familiengeschichte erzählt die 1985 in Niedersachsen als Tochter eines 1945 nach Zentralasien deportierten Zivilgefangenen und einer Polin geborene Autorin Sabrina Janesch vom Schicksal der Russlanddeutschen und ihrer Nachkommen, von Auswanderung, Umsiedlung, Vertreibung, Enteignung, Verschleppung, Befreiung und Rückkehr. In zwei Erzählsträngen, 1945/46 und 1990/91, verwebt sie zwei Kindheiten: Josef Ambacher wurde 1945 als Zehnjähriger nach Sibirien, genauer Kasachstan, verschleppt, seine Tochter Leila lebt im gleichen Alter 1990/91 in Mühlheide, Niedersachsen, und wächst mit seinen Geschichten auf:

Wofür mein Vater keine Worte fand, das kleidete er in Geschichten. (S. 15)

Ich hing an den Geschichten meines Vaters wie an einem Tropf […] (S. 17)

In der Rahmenhandlung erzählt die erwachsene Leila von ihrem Bemühen, die Geschichten des inzwischen über 80-jährigen, zunehmend dementen Vaters zu bewahren.

Kasachstan
Ursprünglich aus dem Egerland stammend, wanderte die Familie Ambacher im 18. Jahrhundert wie viele andere nach Galizien aus, wurde von den Nationalsozialisten „heim ins Reich“ geholt und im zuvor polnischen Wartheland angesiedelt, bevor sie auf der Flucht von der Roten Armee aufgegriffen und in die Verbannung nach Zentralasien geschickt wurde. Zusammen mit den Großeltern und der Tante – der kleine Bruder verstarb auf dem Transport, die Mutter verschwand spurlos – verbrachte Josef zehn Jahre in einem Dorf mit Deportierten verschiedenster Nationalitäten unter der Aufsicht des Dorfsowjets in der lebensfeindlichen Steppe. Hunger, Mangel an allem, extreme Wetterverhältnisse, Ausgestoßensein, Angst vor den Gulags, aber auch Abenteuer, die Begegnung mit der kasachischen Kultur, ein zugewandter russischer Lehrer und sein kasachischer Freund Tachawi bestimmten Josefs Leben bis zur Ausreise 1955 nach Deutschland. Allgegenwärtig war die Trauer um den Verlust der Mutter:

Wenn er auf den Beinen war und umherlief, konnte er die Gedanken an die Mutter manchmal für eine Weile abschütteln. Seine Traurigkeit wanderte langsamer durch den Raum als er selbst… (S. 120/121)

© B. Busch

Mühlheide
35 Jahre nach den Zivilgefangenen kamen die Spätaussiedler nach Deutschland, für die Siedlungsbewohnerinnen und –bewohner am Rande von Mühlheide bedeutete dies eine schwierige Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit, Berührungsängste und Schuldgefühle. Aus kindlicher Ich-Perspektive erzählt Leila von Menschen, die „jeder Vorstellung von Beheimatung und Zuhause misstrauen“ (S. 247), ihrer Freundschaft mit Arnold, isolierten Siedlungskindern und ihrer Grenzwallfunktion zwischen Türken und „Normalos“ im Klassenzimmer, ihrem Konflikt mit dem ehemaligen SS-Mann Tartter und vom Spätaussiedlerjungen Pascha, der ihr Duo zum Trio macht.

Ein wichtiger Teil der deutschen Geschichte
Herausragend in Sibir ist der Teil über Josefs Kindheit, das Aufwachsen unter Extrembedingungen, die man in jedem Wort fühlt. Gefallen hat mir auch, wie gekonnt Sabrina Janesch Sachinformationen über die historischen Bevölkerungsverschiebungen in den literarischen Text einbindet, wie sie fließend die beiden Kindheiten über Begriffe wie „Sturm“, „Hütte“, „Schuld“, „Freundschaft“, „Schule“ oder „Familie“ verwebt und sie in die anrührende Rahmenhandlung einbindet. Auch die sprachliche Qualität des Romans mit den eingeflochtenen deutsch-russisch-kasachischen Vokabelketten hat mich überzeugt. Allerdings hadere ich mit der Gewichtung der Erzählstränge, denn Leilas kindliche Klagen über ihre „schwere“ Kindheit, die dramatisch beschriebene Außenseitersituation der nachgeborenen Kinder 35 Jahre nach der Rückkehr der Eltern, die ich aus eigener Anschauung so nicht nachvollziehen kann, und der aufgebauschte Konflikt mit dem Tartter haben mich mehr genervt als ergriffen und dienen vor allem der Konstruktion von Parallelen. Empfehlenswert ist Sibir trotzdem. Mit mehr Kasachstan und weniger Mühlheide wäre es sogar ein Lieblingsbuch geworden.

Sabrina Janesch: Sibir. Rowohlt Berlin 2023
www.rowohlt.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman über Russlanddeutsche auf diesem Blog:

Knut Hamsun: Hunger

  Ein Schrei nach Brot und Anerkennung

70 Jahre nach seinem Tod sind die Werke des norwegischen Literaturnobelpreisträgers Knut Hamsun (1859 – 1952) seit dem Jahresbeginn 2023 gemeinfrei. In einer Neuübersetzung von Ulrich Sonnenberg erschien pünktlich dazu sein Debütroman Hunger, basierend auf der Urfassung von 1890, bevor Knut Hamsun ihn unter dem Einfluss der in späteren Jahren von ihm bedingungslos bewunderten und verinnerlichten Nazi-Ideologie mehrfach überarbeitete. Trotz meiner Liebe zur norwegischen Literatur hatte ich aus diesem Grund bisher Berührungsängste zu seinem Werk. Die wunderschöne Neuausgabe mit dem schlichten Cover in Schleifpapiermanier und der schmucklosen, plakativen Schrift sowie das Wissen um die große Bedeutung seines Werks für spätere Autoren haben mich nun doch bewogen, Hunger zu lesen, das ihm den literarischen Durchbruch bescherte.

Gezeichnet von einer Stadt
In vier mit „Stück“  überschriebenen Kapiteln folgen wir einem mittellosen, hungernden Journalisten und Schriftsteller durch die Straßen Kristianias, dem heutigen Oslo:

Es war zu der Zeit, als ich hungrig in Kristiania umherging, dieser sonderbaren Stadt, die niemand verlässt, bevor er von ihr gezeichnet worden ist. (1. Satz, S. 5)

© B. Busch

Jedes „Stück“ markiert einen neuen Tiefpunkt, während die positiven Momente, in denen der namenlose Ich-Erzähler zu etwas Geld kommt, ausgespart bleiben. Zunehmend zerlumpt, ohne Besitztümer und in immer prekäreren Quartieren hausend kommt er mit jeder Episode dem Wahnsinn wie dem Tod näher. Dabei ist er unfähig, sein Schicksal zu wenden, gibt das wenige Geld, an das er gelegentlich kommt, aus Gründen der Ehre und um über seine Not hinwegzutäuschen verschwenderisch ab und schwankt zwischen Größenwahn und schamhafter Unterwürfigkeit. Nur selten wird der innere Monolog für die wilden Lügengeschichten unterbrochen, die er bei seinen zufälligen Begegnungen erzählt. Nicht immer ist klar, ob diese Zusammentreffen in der Realität oder in seiner Fantasie stattfinden, weshalb das Werk manchen als Vorstufe des absurden Theaters gilt.

Ein Roman ohne Plot
Nicht nur an Brot mangelt es dem Hungerhelden, auch wenn der tagelange Nahrungsentzug ihm immer mehr zusetzt. Gleichzeitig dürstet er nach Wahrnehmung seiner Person, nach Anteilnahme, Anerkennung und Zuwendung. Selten habe ich Einsamkeit in einem Roman so greifbar beschrieben gefunden. Es ist mir deshalb ein Rätsel, warum Astrid Lindgren, wie Felicitas Hoppe im Nachwort ausführt, ihn als „hinreißend lustiges Buch über den Hunger“ beschreibt und beim Lesen vor Lachen „wimmerte“. Treffender wären für mich die Bezeichnungen „skurril“ und „aberwitzig“ für die Fantasiegeschichten, Worterfindungen, Gefühlsschwankungen und die Tatsache, dass der Ich-Erzähler am Ende auf einem Schiff nach Leeds anheuert, einer Stadt ohne Hafen. Ein Lachen wäre mir jedenfalls im Halse stecken geblieben. Eher schon hat mich der Hungerheld mit seinem deplatzierten Stolz, der ruinösen Ehrsucht und dem mangelnden Überlebensinstinkt zur Verzweiflung gebracht.

Ich staune selbst, dass der fehlende Plot, zahlreiche Wiederholungen, der Verzicht auf die Schilderung der gesellschaftlichen Umstände und von Sozialkritik, das Schweigen über die Vergangenheit des Protagonisten und seine geringe Weiterentwicklung mich kaum gestört haben. Vielleicht liegt es daran, dass Knut Hamsuns eigene Erfahrungen so authentisch spürbar sind und dass seine minutiöse Beobachtungsgabe, die geschärfte Wahrnehmung sowie die sprachliche Virtuosität, an der auch der Übersetzer großen Anteil hat, mich bei diesem Klassiker überzeugen

Knut Hamsun: Hunger. Nach der Erstausgabe von 1890 aus dem Norwegischen übersetzt von Ulrich Sonnenberg. Nachwort von Felicitas Hoppe. Manesse 2023
www.penguinrandomhouse.de

 

Rezensionen zu Romanen von Literaturnobelpreisträgerinnen und -trägern auf diesem Blog:

1909
1926
1932
1954
2017
2021

 

 

Eva Björg Ægisdóttir: Verschwiegen

  Die Vergangenheit ist nie vorbei

Das isländische Hafenstädtchen Akranes mit gut 7000 Einwohnern ist zwar durch den Bau eines Tunnels unter dem Hvalfjörður auf 30 Fahrminuten an Reyjavík herangerückt, hat jedoch seinen dörflichen Charakter bewahrt. Früh hat die junge Polizistin Elma die ungeliebte Enge mit der Freiheit in der Hauptstadt vertauscht und dort bis vor Kurzem mit ihrem Partner Davið gelebt. Nun ist sie nach einem privaten Desaster zurückgekehrt und tritt ihren Dienst bei der Kripo Akranes an, wieder ist es eine Flucht und Zweifel nagen ebenso an ihr wie Trauer und Wut.

Keine Schonfrist
Kaum haben die neuen Kolleginnen, Kollegen und ihr Chef Hörður sie freundlich begrüßt, wird eine Leiche am älteren der beiden Leuchttürme von Akranes gefunden: eine junge Frau, verheiratet, Mutter zweier Söhne im Grundschulalter, liegt tot auf den Klippen. Schnell wird ermittelt, dass es sich um Elísabet handelt, eine Pilotin aus Reykjavík, die früher in Akranes lebte und mit neun Jahren mit ihrer Mutter nach Reykjavík zog. Nach Aussagen ihres Mannes Eiríkur und anderer Zeugen besuchte die sehr verschlossene Frau ihr verhasstes Heimatstädtchens kaum.

Prägende Jahre
Unterbrochen wird die Schilderung der auf Hochtouren laufenden Ermittlungen durch verstörende Rückblenden in Elísabets Kindheit 1989 bis 1992 aus ihrer kindlichen Sicht. Was geschah vor 30 Jahren mit ihr? Was hat ihre Persönlichkeit geprägt?

Immer wieder stoßen Elma und ihr ebenso sympathischer 35-jähriger Kollege Sævar bei den Nachforschungen auf  Mitglieder derselben Familie: Vater Hendrik, Macho und angesehener Besitzer einer Immobilienfirma, seine scheue, traurige Frau Ása, den Sohn und designierten Nachfolger Bjarni, dessen selbstbewusste Frau Magnea und das schwarze Schaf, Hendriks gewalttätigen Bruder Tomás.

Nordic Noir
Während Elmas Wiedereinleben nicht immer sanft verläuft und alte Verletzungen erneut aufbrechen, wühlt sie sich immer tiefer in Elísabets Vergangenheit. Aber liegen die Gründe für ihre Ermordung wirklich in ihren frühen Jahren in Akranes oder doch im Hier und Heute? Was wollte Elísabet nachts am alten Leuchtturm und wo befindet sich ihr verschwundener Wagen?

© B. Busch

Gerne mehr
Gemordet wird im friedlichen Island hauptsächlich in Krimis. Mit der 1988 in Akranes geborenen und aufgewachsenen Autorin Eva Björg Ægisdóttir und ihrem in Island preisgekrönten Debüt Verschwiegen, dem Auftakt zu einer neuen Serie, gibt es nun eine weitere lesenswerte isländische Krimistimme.

Auch wenn die Vielzahl der Personen mit den ungewohnten Namen zu Beginn erschreckend wirkte, ließen sie sich doch erstaunlich schnell zuordnen. Kleinere Unstimmigkeiten, wenn das Ermittlerteam Verhören mehr Informationen entnimmt, als tatsächlich gesagt wurde, oder ein technisches Detail bei der Auflösung (Stichwort: Auto) haben mich nur kurz irritiert. Dafür hat mich die doppelte Spannung bezüglich des Mordfalls und Elmas Vergangenheit ausgezeichnet unterhalten und dem Team bin ich bei seinen Ermittlungen sehr gerne gefolgt. Die gelungenen Orts- und Charakterzeichnungen, die düstere Grundstimmung, eine zaghaft beginnende Liebesgeschichte, die Verbindungen zur Vergangenheit, die schwierige Situation des auch privat mit dem Ort und den Beteiligten verbundenen Ermittlerteams, gründliche Recherche statt oberflächlicher Rasanz, Elmas zwiespältiges Gefühl nach der Auflösung und das in allen Handlungssträngen wiederkehrende Motiv des Wegschauens haben mir sehr gut gefallen.

Schön, dass im August 2023 mit Verlogen bereits der zweite Band der Reihe erscheint.

Eva Björg Ægisdóttir: Verschwiegen. Aus dem Isländischen von Freyja Melsted. Kiepenheuer & Witsch 2022
www.kiwi-verlag.de