János Székely: Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann

  „Die Moral ist in jedem Zeitalter das, was der herrschenden Klasse nutzt“

Romane über Dachbodenfunde anlässlich der Auflösung elterlicher oder großelterlicher Häuser gehören nicht zu meinen bevorzugten Lektüren, allzu abgedroschen ist das Thema inzwischen. Ist die Entdeckung jedoch der Roman selbst, wie bei dem 70 Jahre lang verschollenen Manuskript Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann des Ungarn János Székely (1901 – 1958), wird es richtig spannend. Er verließ sein Heimatland 1918 auf der Flucht vor dem Weißen Terror des Horthy-Regimes, arbeitete erfolgreich als Drehbuchautor in Berlin, emigrierte 1938 nach Hollywood, erhielt 1940 einen Oscar, veröffentlichte 1946 seinen bekanntesten Roman Verlockung und ging während der McCarthy-Ära wie viele Kunstschaffende ins mexikanische Exil. Dort entstand höchstwahrscheinlich das Manuskript, dessen englische Fassung der Übersetzer und Autor Tony Kahn 2020 auf seinem Dachboden in Truro, Cape Cod, fand und Székelys Tochter Katherine Frohriep übergab. Nun ist es erstmals im Diogenes Verlag auf Deutsch erschienen, mit reichem Anhang und als Übersetzung der englischen Übersetzung, denn das ungarische Original ist weiterhin verschollen.

Götterdämmerung
Der Romans spielt hauptsächlich in einer heißen Sommernacht 1944, als die Ungarn, je nach Gesinnung, die endgültige Niederlage der deutschen Wehrmacht herbeisehnten oder fürchteten. Ergänzend gibt es ausführliche Rückblenden und einen kurzen Epilog über das weitere Schicksal der wichtigsten Personen.

Ein Bogen über sieben Jahrhunderte
1944 geht es dem bäuerlichen Stand genauso schlecht wie seit 700 Jahren, die Herren wechselten, nicht jedoch die elenden Bedingungen. Im fiktiven Dorf Kákásd gewährt der wortkarge Bauer János Garas zwei Zigeunern – die editorische Notiz erklärt die ausnahmsweise Verwendung dieses Begriffs – Unterschlupf vor den Nazi-Schergen und ihren ungarischen Handlangern. Die aufgeweckte junge Wanderzigeunerin Julka, mangels Alternativen zum Wahrsagen und zur Prostitution verdammt, und der eitel-überhebliche Zigeuner-Primas Marci Balogh VI lernten sich bei der Flucht aus einem KZ-Deportationszug kennen. Sie stellen sich Garas als Geschwister vor, Julka lebt fortan bei ihm im Haus und bezahlt dafür mit ihrem Körper, Marci, rasend verliebt, findet sich im Stall wieder, bis Garas ihm eine Stelle als Geiger im Bordell vermittelt. Während sich im Dreiecksverhältnis unter Garas‘ Dach die Vorzeichen allmählich ändern, zittert die unter dem Schutz des dekadenten, nur noch als Verwalter im ehemals familieneigenen Schloss beschäftigten Grafen Tamás Boncza stehende jüdische Familie Stern/Rosenberg um ihr Leben, beginnt Marci eine gefährliche Affäre mit Nusi, der Frau des neuen Schloss-Pächters, Nazi-Massenmörders und Vize-Ministers Lóránt Barankay und planen die Bauern, getrieben von jungen Kriegsrückkehrern, den ersten Streik seit 700 Jahren:

Man hatte ihnen befohlen, Menschen zu ermorden, die ihnen nichts getan hatten, sodass sich jetzt ihre Mordlust gegen die wandte, die ihnen jahrhundertelang nichts als Leid angetan hatten. (S. 276)

© B. Busch

Die Welt verstehen
János Székelys Verlockung gehört für mich zu den ganz großen, unvergesslichen Romanen der Weltliteratur. Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann reicht nicht ganz an dieses frühere Werk heran, fehlt ihm doch merklich ein Lektorat. Viel zu lang und quälend detailliert sind für mich die Kapitel über die Sexbesessenheit Marcis im ersten Teil und auch der interessante politische Diskurs in der zweiten Hälfte hätte von einer Straffung profitiert. Trotzdem ist auch dieser Roman unbedingt lesenswert. Er strahlt durch seine vielen Einzelschicksale und zeigt am Mikrokosmos eines Dorfes das Schicksal Europas:

[…] du kannst die Welt nicht verstehen, wenn du Kákásd nicht verstehst. (S. 438)

János Székely: Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann. Herausgegeben von Silvia Zanovello. Mit einem Nachwort von Sacha Batthyany und einer Erinnerung von Katherine Frohriep geb. Székely. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Diogenes 2023
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezension zu einem Roman von János Székely auf diesem Blog:

Ann-Helén Laestadius: Das Leuchten der Rentiere

  Kampf an allen Fronten

Schwedische Romane in deutscher Übersetzung sind zumeist entweder Krimis oder Wohlfühlliteratur aus einem vermeintlichen Sehnsuchtsland. Letzteres könnte man auch bei Das Leuchten der Rentiere vermuten, klingt der Titel doch nach intakter Natur und Polarlichtromantik, doch bewahrt der Blick auf den Originaltitel Stöld, Diebstahl, vor einem Irrtum. Der 2021 in Schweden erschienene erste Roman für Erwachsene der aus einer Sámifamilie stammenden, 1971 in Kiruna geborenen Journalistin und erfolgreichen Kinder- und Jugendbuchautorin Ann-Helén Laestadius kreist um die aktuelle Lebenssituation dieser schwedischen Minderheit. Der in ihrer Heimat zum Bestseller avancierte Roman greift die existenzgefährdenden Bedrohungen dieser auf Schweden, Norwegen, Finnland und Russland verteilten einzigen indigenen Bevölkerungsgruppe Europas auf und macht sie sichtbar:

Samisch zu sein bedeutete, seine Geschichte in sich zu tragen, als Kind vor dem schweren Rucksack zu stehen und sich zu entscheiden, ihn zu schultern oder nicht. (S. 213)

Ende der heilen Kinderwelt
Der Roman beginnt im Winter 2008 mit einem traumatischen Erlebnis, welches das behütete Aufwachsen der neunjährigen Sámi Elsa schlagartig beendet. Als sie zum ersten Mal alleine auf ihren neuen Skiern zum Rentiergehege ihrer Familie kommt, überrascht sie dort einen brutalen schwedischen Wilderer aus dem Nachbardorf, der ihr Rentierkalb Nástegallu getötet hat:

Alles hatte sich verändert, nachdem sie Nástegallu tot aufgefunden hatte. Als die Erwachsenen die brutale Realität nicht mehr verbergen konnten […] (S. 330)

Eingeschüchtert von seinen Drohungen, schweigt Elsa und die Polizei legt die Anzeige, wie so viele andere zuvor und danach, zu den Akten. Ihre Schuldgefühle wird sie nie wieder los:

Alles wäre anders gekommen, wenn ich mich getraut hätte, etwas zu sagen. (S. 416)

© Hintergrund: M. A. Busch, Gesamtbild: B. Busch

Zehn Jahre danach
Der zweite und dritte Buchteil spielen im Spätherbst 2018 und im Frühlingsommer 2019. Bei Elsas Rückkehr ins Dorf nach dem Abitur ist alles unverändert: Wilderer, vor allem der ihr bekannte Robert Isaksson, quälen und töten weiterhin Rentiere und handeln illegal mit ihrem Fleisch, weitgehend unbehelligt von der teils überforderten, teils desinteressierten Polizei, die die Taten zum Unverständnis der Sámi als Diebstähle, nicht als Morde betrachtet. Der Klimawandel bedroht die traditionelle Rentierwirtschaft genauso wie die Umweltzerstörung durch Bergbauunternehmen und die feindselige Unwissenheit der nicht-samischen Bevölkerungsmehrheit, trotz eigener samischer Schule sind Kinder wie Eltern strukturellem Rassismus ausgesetzt und die samische Kultur wird auf touristische Folklore reduziert. Psychische Erkrankungen und Selbstmorde sind alltäglich. Gleichzeitig wird Elsas Mutter als „Ringvu“, die nicht im samischen Sippenbuch steht, trotz aller Anstrengungen nie voll akzeptiert und Elsa, die für die Rentierherden brennt, von den patriarchalen Strukturen ausgebremst. Doch Elsa ist nicht mehr das kleine ängstliche Mädchen, sie möchte sich nie mehr einschüchtern lassen und kämpft trotz des Gegenwinds aus allen Richtungen für ihre eigene Zukunft und die ihrer Volksgruppe – bis auch sie an ihre Grenzen stößt…

Ruhig und einfühlsam erzählt
Ich habe Das Leuchten der Rentiere, das eine mir gänzlich unbekannte Seite Schwedens vorstellt, von Beginn an mit großer Begeisterung gelesen, zunächst vor allem wegen der faszinierenden Beschreibungen samischen Lebens und der Landschaft, später auch wegen der dramatisch zugespitzten Spannung. Sehr gekonnt verknüpft Ann-Helén Laestadius die hoffnungsvolle Entwicklungsgeschichte ihrer sympathischen Heldin mit dem weitgehend unbekannte Schicksal der Sámi und wirbt eindrucksvoll für deren berechtigte Interessen.

Ann-Helén Laestadius: Das Leuchten der Rentiere. Aus dem Schwedischen von Maike Barth und Dagmar Mißfeldt. Hoffmann und Campe 2022
hoffmann-und-campe.de

Percival Everett: Erschütterung

  Nicht das erwartete Highlight

Wenn man über das Wohlergehen des eigenen Kindes spricht, gibt es nur eine gute Nachricht: dass hundertprozentig alles in bester Ordnung ist. (S. 76)

Was aber, wenn es das plötzlich nicht mehr ist? Bei Zach Wells, dem schwarzen Ich-Erzähler und Professor für Geologie/Paläobiologie an einer kalifornischen Universität und seiner Frau Meg, Dozentin und Lyrikerin, schleicht das Unheil sich als böse Vorahnung ein. Einzig die Liebe zu seiner zwölfjährigen Tochter Sarah lenkte Zach bisher von seiner gepflegten Langeweile in Beruf und Ehe ab. Die kühle Distanziertheit und soziale Inkompetenz, die er gegenüber Studenten, Kollegen, seinem Job und seiner Frau an den Tag legt und auf die er sogar stolz zu sein scheint, steht im krassen Gegensatz zur Liebe zu seinem einzigen Kind. Doch nun muss der nüchterne, lösungsorientierte Wissenschaftler und bislang zynische, selbst-ironische Misanthrop akzeptieren, dass nichts und niemand seiner Tochter helfen kann. Sarah leidet an einer seltenen, durch einen Gendefekt ausgelösten neurologischen Erkrankung namens Batten-Syndrom, sie wird langsam vor den Augen ihrer hilflosen Eltern sterben.

„Ayúdame“
Parallel zur katastrophalen Diagnose erhält Zach eine ganz andere Nachricht: Beim Onlinekauf einer gebrauchten Jacke über Ebay findet er in deren Tasche einen Zettel mit dem Wort „Ayúdame“, „Hilf mir“. In einer Art Übersprungshandlung macht er, der seiner Tochter nicht helfen kann, sich auf die Suche nach dem anonymen Verfasser oder der Verfasserin und stößt auf verschleppte mexikanische Arbeitssklavinnen in New Mexico. Nicht eine plötzlich entflammte Empathie löst diese Hilfsbereitschaft aus, sondern der Wunsch, sich seiner eigenen Handlungsfähigkeit zu versichern.

© B. Busch

Von allem zu viel
Hätte es Percival Everett bei diesen beiden Handlungssträngen belassen, der beeindruckend unsentimentalen Krankheitsgeschichte und dem etwas übertrieben abenteuerlichen Krimi und Roadmovie um die Mexikanerinnen, der Roman hätte mir vermutlich deutlich besser gefallen. Doch Erschütterung  ist zusätzlich ein typisch amerikanischer College-Roman, der unter anderem dem dramatischen Schicksal einer jungen Professorenkollegin folgt, ein Roman um die sexuellen Fantasien eines Mannes in der Midlifekrise, Vater-Tochter- und Ehe-Geschichte sowie ein gesellschaftspolitisches Buch zu Themen wie Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Suizid und Kriminalität – auf gerade einmal 285 Seiten. Darüber hinaus packt Percival Everett so viel sprachliche Kabinettsstückchen hinein, dass ich irgendwann keine Lust mehr hatte, mir Gedanken über die Bedeutung der Einschübe zu Zachs Forschungen, zu kryptischen Kombinationen aus Zahlen und Buchstaben, zu lateinischen Zitaten oder dem nervtötenden „In New Mexico war es heißer“ zu machen, aus dem schließlich „In Texas war es genauso heiß“ wird. Als zusätzlicher Gag existieren drei Versionen des Buchs mit kleinen Abweichungen und leicht verändertem Schluss. Dies alles trug ihm das höchste Lob des Feuilletons ein, für mich war es jedoch eindeutig von allem zu viel.

Besser lesen als hören
Ich habe den Roman in erster Linie gehört, ungekürzt, auf zwei mp3-CDs in etwa neun Stunden, gelegentlich jedoch ergänzend ins Buch geschaut. Leider konnte mich Christian Brückner als Sprecher hier erstmals nicht überzeugen, passt doch seine Stimme für mich nicht zu einem schwarzen, vitalen Mitvierziger und gleich gar nicht zu einer Zwölfjährigen.

Schade, denn nach den allgemeinen Lobeshymnen hatte ich ein echtes Highlight erwartet. Ich werde dem 1956 geborenen, hochgelobten amerikanischen Vielschreiber Percival Everett trotzdem irgendwann eine zweite Chance geben, dann allerdings lesend.

Percival Everett: Erschütterung. Übersetzung: Nikolaus Stingl. [Sprecher:] Christian Brückner. Parlando 2022
www.argon-verlag.de

Verena Keßler: Die Gespenster von Demmin

  Ein herausragendes Debüt

In der vorpommerschen Kleinstadt Demmin kam es beim Einzug der Roten Armee im Frühjahr 1945 zu einem beispiellosen Massensuizid mit geschätzten 500 bis 1000 oder mehr Ziviltoten. Hier hat die 1988 in Hamburg geborene Autorin Verena Keßler ihren bereits 2020 erschienenen Debütroman angesiedelt, nicht als historischen Roman, sondern in der Gegenwart spielend, in der die Tragödie noch immer nachwirkt.


Zeitzeugen und Nachgeborene
In Nachbarhäusern leben die 90-jährige Lore Dohlberg und die 15-jährige Neuntklässlerin Larry mit ihrer alleinerziehenden Mutter. Kontakt gibt es kaum, doch beobachtet Frau Dohlberg das Mädchen bei waghalsigen Überlebensübungen in Vorbereitung auf eine Karriere als Kriegsreporterin und Larry sieht die alte Frau abends allein am Küchentisch.

Jung…
Die Mehrzahl der Abschnitte wird aus Larrys Ich-Perspektive erzählt. Wie für ausnahmslos alle im Roman spielt der Tod eine große Rolle in ihrem Leben. Sie und ihre Eltern sind gleich doppelt belastet: einerseits durch das generationenvererbte Kriegstrauma, andererseits durch den Tod ihres Bruders unmittelbar vor ihrer Geburt, an dem die Familie zerbrach. In ihrer Freizeit jobbt Larry ausgerechnet auf dem Friedhof, säubert Gräber und Wege, auch das Massengrab:

Es ist nicht so, dass ich das Massengrab gruselig finde. Und Angst hab ich schon gar nicht. Sind schließlich alle tot. Aber ich stell mir immer vor, dass die da unten kreuz und quer liegen, die Füße des einen im Gesicht des anderen, und dann bekomme ich so ein enges Gefühl und würde am liebsten ein Stück rennen, einfach nur, weil ich’s kann. (S. 21/22)

© B. Busch. Foto von Verena Keßler anlässlich der Lesung aus ihrem 2023 erschienenen zweiten Roman „Eva“ am 7. Mai 2023 in Ulm.

Über all das wird meist geschwiegen, und so braucht Larry ein Ventil in Form eines vorbereitenden Überlebenstrainings für die Kriegsreporterkarriere. Dazu schaut sie sich gruselige Dokus an, hängt kopfüber vom Baum, hält die Hand ins Eiswasser, sperrt sich ein oder liegt Probe in einem ausgehobenen Grab, immer gegen die Stoppuhr und mit dem Ziel der Schmerzunempfindlichkeit.

… und Alt
Während Larry von einer Zukunft außerhalb der verschlafenen Kleinstadt träumt, muss Frau Dohlberg, deren Abschnitte personal erzählt werden, für den Umzug ins Seniorenheim ihr Elternhaus ausräumen:

Das Haus klingt anders mit jedem Stück, das aus ihm verschwindet. (S. 166)

Umso heftiger kehren die Erinnerungen zurück:

Als sie die Augen schließt, sind sie wieder da, die Bilder. Jahrelang waren sie weg, jetzt kommen sie wieder, immer häufiger, rauschen vorbei, die Leichen im Fluss. (S. 15)

Trotzdem keine niederdrückende Lektüre
Überall in diesem Roman wird gestorben und getrauert, dennoch habe ich ihn nicht als niederdrückende Lektüre empfunden, nicht nur wegen der Hoffnungszeichen am Ende. Das liegt an Verena Keßlers sparsamer Erzählweise, die mit viel Empathie für jede Figur einerseits den tiefen Schmerz aufnimmt und das Grauen klug strukturiert häppchenweise enthüllt, andererseits an Larrys lässig-cool, oft zynisch und humorvoll erzählter Teenagerrebellion. Im Gegensatz zu Als Großmutter im Regen tanzte von Trude Teige, das ebenfalls vom Demmin-Trauma handelt, fehlt hier jeder Kitsch, sitzt jeder Satz, sind die Dialoge gelungen und wird nicht alles auserzählt und gedeutet, weshalb mich Die Gespenster von Demmin ungleich mehr berührt hat.

Ein höchst empfehlenswerter Debütroman über verdrängte Erinnerung, Sprachlosigkeit, Trauer, Tod und Einsamkeit, für Erwachsene und ältere Jugendliche gleichermaßen geeignet.

Verena Kessler: Die Gespenster von Demmin. dtv 2023
www.dtv.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman über Demmin auf diesem Blog:

Saša Stanišić: Wolf

  Ein „andersiger“ Kinderroman

Sätze, die meine Mutter mit «übrigens» beginnt, enden nicht gut für mich. (S. 11)

Die Skepsis des Ich-Erzählers Kemi ist berechtigt, denn auf das „Übrigens“ der Mutter zu Beginn des Kinderromans Wolf von Saša Stanišić folgt eine Horrorankündigung: eine Woche Ferienlager im Wald mit Schulkameraden, alternativ Ferienbetreuung in der Schule. Da letzteres für Kemi ausscheidet und die alleinerziehende Mutter keinerlei Diskussionsbereitschaft signalisiert, gibt es kein Entrinnen, trotz Kemis Aversion gegen Mücken, Zecken, Brennnesseln, Dickicht, Waldromantik, Lagerfeuer und die Natur allgemein. Ehrlich gibt er zu:

tter sind okay. Ist auch echt nicht einfach mit mir. (S. 15)

Zwei Außenseiter
Zusammen mit 40 Gleichaltrigen geht es im Bus nach Brandenburg, Begleitpersonal inklusive. Kemi macht aus seiner Abneigung sogleich kein Geheimnis:

«Ich freue mich auf nichts», sage ich gleich als Erster. «Ich lehne die Natur ab.» (S. 28)

Mit dieser Aussage verunsichert Kemi die Betreuerriege und festigt seine Reputation als notorischer Meckerer, der „alles mit Teilnehmerzahl größer eins verweigert“ (S. 107), stattdessen lieber liest und über die Börse diskutiert. Wäre da nicht Jörg mit seinen großen Ohren, dem uncoolen Rucksack und der altmodischen Ausdrucksweise, Kemi wäre das perfekte Mobbingopfer. So aber steht Jörg im Fokus der Schikanen der drei „Idioten in baugleichen Steppwesten(S. 17): Marko und die Dreschke-Zwillinge. Messerscharf analysiert der kluge Beobachter die Lage seines Hüttenpartners Jörg:

Jörg ist wie alle eigen und wie alle anders, er wird aber von den anderen noch mal andersiger gemacht, verstehst du? Sorry, mir fallen nur erfundene Wörter ein. (S. 34)

Eigentlich ist das Verhalten gegenüber dem netten Jörg, der nie aufmuckt und an jeder Aktivität freudig teilnimmt, wie immer, aber nun kann Kemi nicht ausweichen. Das schlechte Gewissen, weil er ihm nicht beisteht, und die Angst, selbst in den Fokus der Dreierbande zu geraten, verfolgt ihn bis in seine Albträume, in denen ihn ein großer, schlanker, grauer Wolf mit gelben Augen heimsucht.

© B. Busch

Ein Koch mit Durchblick
Wäre Wolf ein normaler Kinderroman, das Happy End wäre absehbar: die Quäler eingenordet, die beiden Außenseiter beste Freunde und integriert. Aber Wolf ist ebenso „andersig“ wie Jörg oder Kemi, was bei dem 2019 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Saša Stanišić kaum überrascht. Er scheint – wie sein Protagonist – gute und darum realitätsfremde Enden abzulehnen und beschränkt sich stattdessen auf hoffnungsvolle Zeichen und Raum für Fantasie. Niemand kehrt unverändert nach Hause zurück, nicht die Kinder und nicht die Betreuerinnen und Betreuer, die sich ihrer Aufgabe nicht gewachsen zeigen. Wie in der Schule reagiert auch hier ein Nicht-Pädagoge am hilfreichsten: der coole und empathische Koch mit der abgefahrenen Schläfentätowierung und dem Durchblick, meine absolute Lieblingsfigur.

Ein echter Stanišić
Wolf ist mehr als ein äußerst origineller, oft witziger Kinder- und Jugendroman ab frühestens elf Jahren, er ist unbedingt auch für pädagogisches Fachpersonal und Eltern empfehlenswert. Der typisch schräge Stanišić-Humor, seine Sprachspielereien, der Verzicht auf den erhobenen Zeigefinger und der lakonisch-pessimistische Blick des selbstreflektierten Kemi machen die schweren Themen Mobbing, Feigheit und Mut, Freundschaft, Gruppendynamik und Wut erträglich, genau wie die sehr zahlreichen atmosphärisch stimmigen, umwerfend gelungenen gelb-schwarzen Illustrationen von Regina Kehn.

Saša Stanišić: Wolf. Mit Bildern von Regina Kehn. Carlsen 2023
www.carlsen.de

 

Weitere Rezensionen zu einem Buch bzw. Hörbuch von Saša Stanišić auf diesem Blog:

 

Gwendolyn Brooks: Maud Martha

  Rassismus, Klassengesellschaft und Patriarchat

Unter dem Motto Mehr Klassikerinnen veröffentlicht der Verlag Manesse Werke von Frauen, berühmten Autorinnen genauso wie vergessenen oder sogar bisher nicht ins Deutsche übersetzten. Zu letzteren gehört die US-Amerikanerin Gwendolyn Brooks (1917 – 2000), die 1950 als erste Schwarze den Pulitzerpreis in der Kategorie Lyrik und später zahlreiche weitere Auszeichnungen erhielt.

Während die Gedichte bis heute nicht auf Deutsch vorliegen, hat Andrea Ott nun ihren einzigen Roman Maud Martha von 1953 übersetzt. Er besteht aus 34 Einzelgeschichten um die gleichnamige Protagonistin, überwiegend aus ihrer Sicht erzählt und autobiografisch inspiriert. Die „Vignetten“, wie Daniel Schreiber sie in seinem sehr erhellenden Nachwort nennt, die man größtenteils auch als unabhängige Kurzgeschichten lesen könnte, werfen Schlaglichter auf den alltäglichen Rassismus, die Klassengesellschaft, insbesondere das Arbeitermilieu, und die patriarchalische Familienordnung in den 1920er-Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs.

Kindheit, Jugend, Ehe, Mutterschaft
In der ersten Vignette ist Maud Martha sieben Jahre alt:

Sie mochte Schokolinsen und Bücher und gemalte Musik (tiefblau oder zartsilbern) und den sich wandelnden Abendhimmel, von den Stufen der hinteren Veranda aus betrachtet. Und Löwenzahn. (S. 7)

© B. Busch

In den Löwenzahnblüten sieht sich das wenig selbstbewusste Kind gespiegelt, sind sie doch ebenso gewöhnlich, verzieren aber als „gelbe Halbedelsteine“ das „geflickte grüne Kleid ihres Hinterhofs“ (S. 7). Maud Martha wünscht sich, geliebt zu werden, etwas zu erschaffen und „der Welt einfach eine gute Maud Martha schenken“. (S. 21)

Die einzelnen Kapitel handeln von Maud Marthas Kindheit, während derer sie sich stets hinter der hellhäutigeren, charmanteren zwei Jahre jüngeren Schwester und „Königin“ Helen zurückgesetzt fühlt, von finanziellen Schwierigkeiten der Eltern, ersten Verehrern sowie ihrem Traum von New York und einem „gediegenen“ Zuhause, der mit der Eheschließung mit Paul und dem Bezug einer armseligen „Kitchenette“ im Chicagoer Stadtteil South Side zerplatzt. Die eheliche Desillusionierung schiebt sie beharrlich auf ihre dunkle Hautfarbe und das Kraushaar, die ihrer Ansicht nach ihren etwas hellhäutigeren Mann stören müssen, nicht auf ihren offensichtlich unterschiedlichen Intellekt: Während sie William S. Maugham liest, studiert Paul „Sex in the Married Life“.

Szenen mit Gänsehaut-Effekten
Dem Text merkt man die Lyriker an, insbesondere bei den kreativen Farbadjektiven und Bildern. Zwar hätte ich mir einen weniger fragmentierten und ausführlicheren Text gewünscht und Maud Marthas Beteuerung, das Leben eher als Komödie denn als Tragödie zu sehen, konnte ich über weite Strecken nicht nachvollziehen. Trotzdem berühren viele Vignetten stark, so eine diskriminierende Szene im Hutladen, den Maud Martha trotzdem würdevoll verlässt, oder die vorletzte Geschichte, in der ihre geliebte Tochter Paulette im Kaufhaus von Santa Claus ignoriert wird und der Mutter aufgeht, dass sie ihr die grausame Wahrheit über die Diskriminierung nicht mehr lang verheimlichen kann. Stark sind auch die Charakterisierung der Mitbewohnerinnen und –bewohner des Mietshauses und Maud Marthas deprimierender Arbeitsversuch als Hausmädchen. Überrascht hat mich der Rassismus innerhalb der schwarzen Community aufgrund unterschiedlicher Teints.

Die Entdeckung dieses modernen Klassikers über eine in eng gesteckten Grenzen widerständige, wütende und doch nicht verzagte Frau, die sich nicht ihrer Würde berauben lässt, lohnt daher sehr.

Gwendolyn Brooks: Maud Martha. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Andrea Ott. Mit einem Nachwort von Daniel Schreiber. Manesse 2023
www.penguinrandomhouse.de

Robert Seethaler: Das Café ohne Namen

  Ein kleiner Ort der Hoffnung

 

 

Es ist keineswegs Unzufriedenheit mit seinem Leben als Gelegenheitsarbeiter auf dem Karmelitermarkt in der Wiener Leopoldstadt, die den 31-jährigen Robert Simon im Spätsommer 1966 antreibt, vielmehr eine aufflammende Sehnsucht in einer von Aufbruchsstimmung durchdrungenen Stadt:

Eine Zeit lang arbeitete er als Abräumer und Fetzenbursch in den Pratergastgärten, und vielleicht war es hier, wo sich in ihm […] zum ersten Mal der Keim einer Sehnsucht regte: etwas zu tun, das seinem Leben eine entscheidende Bekräftigung gab. Einmal hinter der Schank seiner eigenen Wirtschaft zu stehen. (S. 18)

Noch sind Spuren der kompletten Zerstörung des Markts im Zweiten Weltkrieg in diesem ehemals jüdischen Viertel zu sehen, das jetzt zu den schmutzigsten und ärmsten der Hauptstadt gehört, Wohnort kleiner Leute, Arbeiter, Handwerker, Ladenbesitzer, Tagelöhner. Trotz der Angst vor dem Unbekannten und Respekt vor dem unternehmerischen Risiko wagt Robert Simon, moralisch unterstützt von seiner Zimmerwirtin, der alten Kriegerwitwe Martha Pohl, und seinem Freund, dem Metzgermeister Johannes Berg, den Schritt in die Selbstständigkeit und pachtet das düstere, heruntergekommene Marktcafé. 15 Stunden schuftet er an jedem Tag der Woche, immer müde und erschöpft, oft in Sorge um das wirtschaftliche Überleben seines Herzensprojekts, anfangs allein, dann mit seiner Angestellten Mila. Doch erfüllt ihn eine bisher unbekannte Kraft, er liebt seine nie endende Arbeit und den bunten Haufen genügsamer Gäste, die sich bei Heißgetränken, Himbeersoda, Alkoholika, Schmalzbroten und Salzgurken bald regelmäßig bei ihm einfinden mit ihren Geschichten, Sorgen, Nöten, kleinen Freuden und Herzenswünschen:

Simon musste lächeln, wenn er an all die verlorenen Seelen dachte die sich jeden Tag in seinem Café zusammenfanden. (S. 71)

© B. Busch

Heimat der Abgehängten
Der 1966 in Wien geborene Robert Seethaler erzählt in seinem Roman Das Café ohne Namen wie so oft von Menschen an den Rändern der Gesellschaft, in diesem Fall von denen, die nicht am großen Aufschwung der Wirtschaftswunderzeit partizipieren und sich mit Fatalismus durchs Leben schlagen:

Es kommt und geht sowieso alles, wie es will. (S. 162) 

Wie ein Hintergrundrauschen ziehen die Veränderungen zwischen 1966 und 1976 durch diese Milieustudie, Politikernamen, Bauprojekte, die Ankunft von Gastarbeitern, die Konkurrenz chinesischer Unternehmen und das Spekulantentum, dem das Café schließlich zum Opfer fällt. Parallel zum Einsturz der Reichsbrücke im Sommer 1976 wird ein rauschendes Abschiedsfest gefeiert. Angst um Robert Simon, der die Schließung wie alles andere hinnimmt, habe ich trotz allem nicht, eher schon um seine Gäste, für die das Café zur zweiten oder gar ersten Heimat geworden ist.

Ein typischer Seethaler
Im typisch melancholischen Seethaler-Sound, verhaftet in der Gegenwart der 1960er- und 1970er-Jahre, unsentimental, ohne Ausschmückungen oder Idealisierungen und mit wertschätzender Anteilnahme, geht es um einen Protagonisten, dem der Autor seinen Vornamen und seine Initialen gegeben hat, und Cafébesucher, die einem trotz Macken und Charaktermängel ans Herz wachsen. Man belauscht Gespräche, verfolgt Lebensläufe, freut sich an gelegentlichem kleinem Glück oder leidet mit bei den weit häufigeren Schicksalsschlägen, fast so, als wäre man selbst unter den Gästen.

Obwohl Ein ganzes Leben aus dem Jahr 2014 für mich der unerreicht beste Roman von Robert Seethaler bleibt, gehört Das Café ohne Namen zu meinen Lese-Highlights 2023.

Robert Seethaler: Das Café ohne Namen. Claassen 2023
www.ullstein.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Robert Seethaler auf diesem Blog:

 

Geetanjali Shree: Mai

  Eine indische Familie zwischen Tradition und Moderne

Nach Schätzungen der UN übernimmt Indien im April 2023 den Titel als bevölkerungsreichstes Land der Erde von China. In beiden Ländern leben derzeit jeweils mehr als 1,4 Milliarden Menschen, allerdings ist die Fruchtbarkeitsrate in den vergangenen Jahren in beiden Ländern rasant gesunken. Dank der Modernisierungen sank sie in Indien von 6 in den 1950er-Jahren auf mittlerweile unter 2,1.

Wie sich dieser Wandel in einer wohlhabenden nordindischen Mittelschichtfamilie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt und die heutige jüngere und mittlere Generation in diesem Milieu aufwuchs, beschreibt die 1957 geborene indische Historikerin, Sozialwissenschaftlerin, Roman- und Bühnenautorin Geetanjali Shree in ihrem Debütroman Mai aus dem Jahr 1993. Er erschien erstmals in deutscher Übersetzung aus dem Hindi von Reinhold Schein im Draupadi Verlag 2010 und nun, nachdem die Autorin 2022 für einen noch nicht ins Deutsche übersetzten Roman mit dem International Booker Prize ausgezeichnet wurde, erneut im Unionsverlag. Geetanjali Shree lüftet darin den Vorhang zu einer unbekannten Welt.

„Parda“
Den hilfreichen Worterklärungen hinten im Buch ist zu entnehmen, dass „Parda“, Vorhang, für die traditionell zurückgezogene Lebensweise einer Frau aus guter Familie steht. Hinter einem solchen „Parda“ lebt auch Mai, Hindi-Wort für Mutter, die zur mittleren der drei Tiwari-Generationen gehört und im Mittelpunkt des von ihrer Tochter Sunaina erzählen Geschehens steht. Traditionsgemäß bleibt Mai vorwiegend im Haus, weitgehend unsichtbar, still, das Gesicht hinter dem Ende ihres Saris verborgen. Mit ihrem dienenden, unterwürfigen, selbstausbeuterischen Verhalten gegenüber ihrem Mann und den tyrannischen Schwiegereltern, symbolhaft unterstrichen durch ihren gebeugten Rücken, ruft sie Mitleid bei ihrer Tochter und dem Sohn Subodh hervor:

Schon von früher Kindheit an schmerzte uns Mais Fügsamkeit. Allmählich begannen wir, sie vor allen andern zu beschützen: vor Großmutter, vor Papa, vor Großvater. Nur vor ihr selbst konnten wir sie nicht beschützen. (S. 12)

© B. Busch

Niemals will Sunaina werden wie Mai. Wie ihr Bruder besucht sie eine englische Schule, studiert, verlässt ihr Zuhause. Immer mehr wird das Bestreben der Geschwister, Mai aus ihrem „Gefängnis“ zu befreien, zur Obsession. Zwar handeln sie in bester Absicht, doch werden damit auch sie übergriffig. Mit Mais beharrlicher Verweigerung schlägt die anfängliche Euphorie in Frustration, Ärger und Wut um:

Wir hätten heulen können. Wenn sie selbst in ihren Ketten bleiben wollte, was konnten wir dann tun, um sie zu befreien? (S. 133)

Erst in einem nicht näher definierten „Später“ kann Sunaina, die durch ihr Erzählen „Ruhe“ und „Bewegungsfreiheit“ gewinnen möchte, einen differenzierteren Blick auf Mai, auf ihre Mutterbeziehung und das komplizierte Familiengeflecht werfen. Nun erkennt sie mehr als den gebeugten, Wünsche erfüllenden Schatten: eine Frau mit großer Stärke, wenn es um die Bedürfnisse ihrer Kinder ging, die über ein ganz eigenes Feuer verfügte.

Eine authentische Stimme
Die Erzählweise mit den vagen Zeitsprüngen, die Personen- und Ortszeichnungen, die ungewöhnlich sinnliche Beschreibung der Speisen und die atmosphärischen Alltagsschilderungen machen Mai zu einer sehr bereichernden Lektüre. Nur die gar zu oft wiederholten Rettungsabsichten haben mein Lesevergnügen manchmal getrübt, lieber hätte ich stattdessen mehr zum Bildungsweg der Geschwister und Subodhs Übersiedlung nach England erfahren. Trotzdem: Wer sich für indischen Alltag und die sich wandelnde Lebensweise interessiert, dem kann ich diese authentische Stimme sehr empfehlen.

Geetanjali Shree: Mai. Aus dem Hindi von Reinhold Schein. Unionsverlag 2023
www.unionsverlag.com

Charles Lewinsky: Der Stotterer

  Zwischen Altem Testament und Schopenhauer

Johannes Hosea Stärckle, gut 4o-jähriger gescheiterter Germanistikstudent und Held des Romans Der Stotterer, sitzt nach diversen Trickbetrügereien in der JVA. Schuldbewusstsein und Reue sind ihm fremd, eher bedauert der Perfektionist, der wegen seiner sprachlichen Behinderung viel virtuoser mit dem geschriebenen als mit dem gesprochenen Wort umgehen kann, kleinere Nachlässigkeiten und unglückliche Zufälle, die zu seiner Entlarvung führten. Denn war er nicht eher ein „Witwenbeglücker“ als ein „Witwenschüttler“, als den man ihn bezeichnete, hat er die alten Damen nicht froh gemacht mit den Briefen längst verloren geglaubter Angehöriger?

Schreiben, schreiben, schreiben
Weil Stärckle auch im Gefängnis das Schreiben, mit dem er seit seiner Kindheit so gut zu manipulieren versteht, nicht lassen kann, verfasst er Briefe mit Episoden aus seinem Leben und eingebauten Cliffhangern an den Gefängnispadre, führt Tagebuch, macht die Korrespondenz für die Gefängnismafia, übt sich im Geschichtenschreiben, nimmt sogar am Geschichtenwettbewerb einer christlichen Zeitschrift teil und arbeitet an seiner Autobiografie, für die sich ein Verleger gefunden hat. Dabei tritt die Wahrheit zugunsten seines Mottos „jedem Zuhörer die passende Geschichte“ zurück und er streut reichlich Zitate aus dem Alten Testament und von Schopenhauer ein. Je älter er geworden ist, desto mehr bezweifelt er, der nie einen Hehl aus der Unzuverlässigkeit seines Berichtens macht, „dass es so etwas wie Moral überhaupt gibt.“

© B. Busch

Dichtung und Wahrheit
Für mich entdeckt habe ich den 1946 geborenen Schweizer Autor Charles Lewinsky 2020 mit seinem für den Deutschen Buchpreis nominierten Mittelalterroman Der Halbbart. Völlig begeistert war ich danach von seinem bereits 2006 erschienenen jüdischen Generationenroman Melnitz und mit Sein Sohn bin ich ihm 2022 gerne ins postrevolutionäre Frankreich gefolgt. Ich schätze an seinen Romanen, dass sie einerseits auf literarischem Niveau ausgezeichnet unterhalten, andererseits jeder eine ganz eigene Erzählweise hat. Wer allerdings so unterschiedliche Stile verwendet, der riskiert, dass auch eingefleischte Fans ihm nicht immer folgen können, zumal mir Schelmenromane generell nicht sehr liegen. Die Faszination Lewinskys für die Gaunereien, den Humor, die Ironie und den Zynismus des Felix-Krull- und Don-Quichote-Bewunderers Johannes Hosea Stärckle hat sich trotz der zweifellos originellen Erzählweise leider nur teilweise auf mich übertragen. Trotz Stärckles schwieriger Kindheit in einer gewalttätigen Familie und in den Fängen eines Sektengurus konnte ich kaum Empathie für ihn entwickeln. Amüsiert haben mich seine gewitzten Seitenhiebe auf den Literaturbetrieb und natürlich habe ich versucht, die Wahrheit aus seinem ungebremsten Mitteilungsfluss zu destillieren, aber in der Länge des ungekürzten, von Robert Stadlober sehr passend gelesenen Hörbuchs von 610 Minuten auf zwei mp3-CDs war mir das nicht genug. Da halfen leider auch nicht die plakativ aufgegriffenen Modethemen wie Homosexualität, kirchlicher Missbrauch, Selbstjustiz oder Sterbehilfe. Phasenweise glitten mir die Gedanken weg, insbesondere bei den „Fingerübungen“ genannten Geschichten, die mich immer wieder aus dem Hörfluss warfen. Eines aber hat das Buch bewirkt: War ich vorher schon wachsam bei Ich-Erzählerinnen und -Erzählern, werde ich zukünftig garantiert gar niemandem mehr trauen…

Charles Lewinsky: Der Stotterer. Gelesen von Robert Stadlober. Diogenes 2019
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Charles Lewinsky auf diesem Blog:

Maria Borrély: Mistral

  Allen Winden preisgegeben

Die Entdeckung eines Romans, der an einem liebgewordenen Urlaubsort nicht nur verfasst wurde, sondern dort auch spielt, weckt Emotionen. Der Übersetzerin Amelie Thoma, die ich für die Übertragung der Bücher von Leїla Slimani sehr schätze, erging es so mit dem 1929 verfassten schmalen Debütroman Sous le vent von Maria Borrély (1890 – 1963), der in deutscher Übersetzung von Walter Gerull-Kardas erstmals 1939 unter dem Titel Mistral erschien. Im informativen, ausführlichen Nachwort zu ihrer enger an den Originaltext angelehnten Neuübersetzung im Kanon Verlag berichtet Amelie Thoma, wie das 2009 vom südfranzösischen Kleinverlag Éditions Parole wiederaufgelegte Büchlein ihr in ihrem langjährigen Urlaubsort Puimoisson im Département Alpes-de-Haute-Provence zufällig in die Hände fiel, sie zunächst kaum Erwartungen hegte und dann überrascht war, ein echtes literarisches Kleinod zu finden. Ebenso begeistert waren lang vor ihr der mit dem Ehepaar Borrély befreundete provenzalische Schriftsteller Jean Giono und der spätere Literaturnobelpreisträger André Gide, die bei der Erstveröffentlichung 1930 im renommierten Verlag Gallimard unterstützten.

Puimoisson

Das Dorf breitet unter dem gleichförmigen Himmel die Blöße seiner rotblonden Dächer aus, lehnt sich zwischen Oliventerrassen, schmiegt sich an die vom Plateau abfallende Sonnenflanke.
Seine Füße baden in Wiesen und blühenden Obstgärten. (S. 13)

Winde aller Art, die Montagnère, der Levante, der Westwind mit Schönwetterwolken, der heiße Südwind, der regenbringende Zugwind, der Nordwind, aber vor allem der titelgebende Mistral, „wehen“, „heulen“, „rasen“, „wüten“, „zerren“, „brüllen“, „pfeifen“, „wummern“, „röcheln heißer“ und „beißen“ auf nahezu jeder der gut 100 Romanseiten. Sie fahren der jungen Marie Maurel, einem fröhlichen, hübschen jungen Bauernmädchen, „Glückskind“ und Stütze ihrer Eltern bei der Oliven-, Mandel- und Lavendelernte, beim Kochen und Nähen in die unbändigen, glänzenden Kraushaare und verwehen sogar die Schrift auf dem Cover des Buches. Manche Dörflerin treiben sie gar in den Wahnsinn:

Hier hat es immer mehr Frauen gegeben als anderswo, die im kritischen Alter den Verstand verlieren, die sich zu ihren Zeiten herumtreiben und sich aufführen.
Das ist der Wind. (S. 19)

© B. Busch

Liebesleid
Dass der Roman bei so viel bedrohlichem Szenario und bösen Vorzeichen kein gutes Ende nimmt, ist schnell zu erahnen. Ein unüberwindbarer Liebesschmerz macht das lebensfrohe, leidenschaftliche Mädchen zur menschenscheuen jungen Frau, die an ihren Zukunftsaussichten verzweifelt:

Die Arbeit der Frauen endet nie. Nichts Undankbareres als den Haushalt zu besorgen. Was man tut, bleibt unsichtbar. (S. 101)

Ansteckende Begeisterung
Außergewöhnlich macht Mistral nicht in erster Linie die von einer wahren Begebenheit inspirierte Handlung, sondern wie Maria Borrély sie in das dörfliche Leben, den arbeitsintensiven bäuerlichen Alltag, die launische Natur, die Wetterkapriolen und die Jahreszeiten einbettet. Die mal lakonisch knappe, mal ungewöhnlich üppige Sprache mit den Artikeln vor Personennamen ist sehr besonders, bedarf einer gewissen Gewöhnung und hätte mich bei einem umfangreicheren Buch vermutlich irgendwann genervt, so aber passt sie ganz vorzüglich. Maria Borrélys Welt erinnert in mancherlei Hinsicht an die des francophonen Schweizers Charles Ferdinand Ramuz (1878 – 1947) und seinen 1934 veröffentlichten Roman Derborence.

Angesteckt von Amelie Thomas Begeisterung hoffe ich nun auf weitere Neuübersetzungen der insgesamt fünf Romane von Maria Borrély. Es hat mir viel Freude gemacht, dieses Buch einer interessanten Frau, Reformpädagogin, Feministin, Kommunistin bzw. Sozialistin, Résistance-Kämpferin, Naturschützerin, Klimavisionärin und Literatin kennenzulernen.

Maria Borrély: Mistral. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Amelie Thoma. Kanon 2023
kanon-verlag.de