Tore Renberg: Die Lungenschwimmprobe

  Vorboten einer neuen Zeit

Tore Renberg: Lungeflyteprøven. Foto: © B. Busch. Cover: © Forlaget Oktober

Während meiner Norwegen-Reise im Sommer 2024 stand ein Buch im Schaufenster nahezu jeder Buchhandlung: Lungeflyteprøven von Tore Renberg, erschienen 2023, geschmückt mit durchgängig sechs Punkten auf dem Wertungswürfel bedeutender Feuilletons und monatelang auf der nationalen Bestsellerliste. Nun ist der historische Roman des in Norwegen sehr bekannten Autors, der in Sachsen im ausgehenden 17. Jahrhundert spielt, von Karoline Hippe und Ina Kronenberger fein ausbalanciert zwischen Lesbarkeit und Barockflair auf Deutsch erschienen.

Die Carolina
1681: Das finstere Mittelalter ist vorbei, die Epoche des Hochbarocks jedoch kaum weniger grausam. Noch schmerzen die Wunden des 30-jährigen Kriegs und der Pest, die Macht liegt bei Adel und Klerus. Seit 1532 gilt die Constitutio Criminalis Carolina, das Straf- und Prozessrecht Kaiser Karls V.  Diese sieht für Kindsmörderinnen Tod durch lebendiges Begraben, Pfählen oder Ertränken vor, bei Fehlen des unabdingbaren Geständnisses die Folter.

„Verteidigung einer jungen Frau, die des Kindsmords bezichtigt wurde“
Der Untertitel erklärt, worum es in Tore Renbergs 700 Seiten umfassendem Roman geht, zu dem ein 46-seitiger Anhang online verfügbar ist. Im Oktober 1681 brachte die 15-jährige Gutsbesitzertochter Anna Voigt auf Gut Greitschütz am Westufer der Weißen Elster nahe Leipzig ein uneheliches Kind tot zur Welt, ohne dass sie oder ihre Eltern von der Schwangerschaft wussten. Angezeigt von Hausangestellten, die die von Annas Mutter vergrabene Säuglingsleiche fanden, kam der Fall zum Pegauer Amtmann, dem der nicht-adelige Gutsbesitzer und Parvenü Hans Heinrich Voigt schon lange nicht behagte.

Unter den nicht seltenen Fällen angeklagter Kindsmörderinnen sticht der Fall Anna Voigt vor allem aus drei Gründen hervor: Bei der Obduktion der Säuglingsleiche war der angesehene Stadtphysikus von Zeitz, Johannes Schreyer (1631 – 1694), zugegen, der mit dem später nach ihm benannten forensischen Verfahren der Lungenschwimmprobe nachwies, dass es sich um eine Totgeburt handelte:

Dass derselbe Tag auch den Beginn der modernen Gerichtsmedizin begründen würde, sollte Schreyer nie erfahren. (S. 60)

Außergewöhnlich war auch, dass Annas Vater die finanziellen Mittel und den Willen besaß, einen begabten, kämpferischen jungen Verteidiger zu beauftragen: Christian Thomasius (1655 – 1728). Dieser unbeugsame Rechtsgelehrte, Sohn des Leiters der Leipziger Thomasschule, der seine Heimatstadt später verlassen musste und Mitbegründer der juristischen Fakultät der Universität Halle wurde, scheute nie den gefährlichen Konflikt mit verborten Klerikern oder universitären Blockierern und war sofort von der Bedeutung der Lungenschwimmprobe elektrisiert:

Sobald ein Wissenschaftler mit frischen Gedanken Licht ins Dunkel brachte, kamen die Traditionalisten und verdunkelten wieder alles, sie riefen Ketzer und Atheist, insbesondere in Leipzig, das gerade erst mit Mühe und Not begonnen hatte, ein paar Lichtstrahlen hereinzulassen. (S. 125)

Die dritte Besonderheit war die jahrelange Dauer des für alle Beteiligten grauenvollen Verfahrens.

Tore Renberg: Die Lungenschwimmprobe. Alte Stadtansicht von Leipzig: Wikimedia commons, gemeinfrei. Fotos der Thomaskirche und des Alten Rathauses: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: Luchterhand

Ein außergewöhnlicher Historienroman
Tore Renberg hat für seinen ersten historischen Roman fünfeinhalb Jahre lang umfassend recherchiert, oft vor Ort, unterstützt von Experten und Expertinnen verschiedener Disziplinen und weit über den eigentlichen Fall hinaus. Hauptquellen waren die umfangreichen Originalschriften von Johannes Schreyer und Christian Thomasius, ergänzt durch schriftstellerische Fantasie, die sich aus spürbar tiefem  Eintauchen in die Zeit und Empathie für die Hauptfiguren bis hin zur Leipziger Scharfrichterfamilie speist. Das Ergebnis hat mich begeistert. Die Lungenschwimmprobe nutzt die Geschichte nicht – wie gängige Historienschmöker – als Hintergrundkulisse für Liebesdramen, Ränkespiele und Heldenabenteuer. Vielmehr liest man ein detailreiches, lebendiges, multiperspektivisch erzähltes Gesellschaftspanorama, in dem sogar der Autor selbst über sein Schreiben berichtet.

Am Ende hat man auf ebenso unterhaltsame wie lehrreiche Weise viel über die Gerichtsbarkeit des 17. Jahrhunderts und die Vorboten der Aufklärung am konkreten Beispiel eines tragischen Frauenschicksals erfahren – mit durchaus aktuellen Bezügen zu Wissenschaftsskepsis und Faktenleugnung heute.

Tore Renberg: Die Lungenschwimmprobe. Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe und Ina Kronenberger. Luchterhand 2024
www.penguin.de

Francesca Melandri: Alle, außer mir

  Lebenslügen

Manchmal bedarf es eines äußeren Anstoßes, um einen lang gehegten Lektürewunsch endlich in die Tat umzusetzen. Bei Alle, außer mir der 1964 in Rom geborenen Autorin Francesca Melandri, 2017 in Italien erschienen und 2018 in Deutschland als Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels ausgezeichnet, war es eine vom Pen Berlin e.V. organisierte Diskussionsrunde mit der Autorin und ihren Kollegen Paolo Giordano und Antonio Scurati anlässlich des Gastlandauftritts Italiens auf der Frankfurter Buchmesse 2024.

Gastlandauftritt Italiens auf der FBM 2024 mit einer Veranstaltung des Pen Berlin e.V.: Birgit Schönau (Moderation), Francesca Melandri, Antonio Scurati und Paolo Giordano (von links). Fotos: © B. Busch.

Ein Paukenschlag zu Beginn
In der drückenden Augusthitze 2010 bereitet sich Rom auf den Besuch von Berlusconis Busenfreund Gaddafi vor. Als die Anfang 40-jährige Lehrerin Ilaria Profeti gestresst bei ihrer Wohnung im quirligen Multikultiviertel Esquilin ankommt, steht ein junger Afrikaner mit einem äthiopischen Pass auf den Namen Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti im Treppenhaus, über den Sudan, libysche Gefängnisse und das Mittelmeer nach Lampedusa gelangt und angeblich ihr Neffe. Ihren dementen Vater Attilio Profeti kann sie nicht mehr fragen, ob er während seiner kaum thematisierten Zeit in Ostafrika einen Sohn gezeugt hat. So macht sich Ilaria, die trotz ihrer linksliberalen Gesinnung heimlich mit einem  Abgeordneten der Berlusconi-Partei liiert ist, nur unterstützt von ihrem 12 Jahre jüngeren Halbbruder Attilio junior, selbst auf die Suche nach dem Familiengeheimnis. Schon einmal hat ihr Vater sie überrascht, als er der damals 16-Jährigen seine Zweitfamilie präsentierte. Ihre Recherchen führen weit in die allgemein verdrängte martialische italienische Kolonialgeschichte des 20. Jahrhunderts und den Rassismus der Mussolinizeit zurück, deren Folgen sich bis heute in der Flüchtlingskrise niederschlagen.

Der Patriarch
Attilio Profeti, geboren 1915 im Provinzstädtchen Lugo in der Romagna, war der verwöhnte Lieblingssohn einer vom Leben enttäuschten Mutter und eines Bahnbeamten. 1935 brach er sein Philosophiestudium ab und meldete sich freiwillig zu den Schwarzhemden nach Abessinien, um im völkerrechtswidrigen Angriffs- und Eroberungskrieg Mussolinis gegen das Kaiserreich Äthiopien zu kämpfen und anschließend dort ein Apartheitsregime zu etablieren. Obwohl er als Assistent des faschistischen Anthropologen Lidio Cipriani an dessen rassentheoretischer Ideologie mitwirkte, lebte er mit der Äthiopierin Abeba zusammen und zeugte einen Sohn, der nach Attilios fünfjährigem Ostafrika-Aufenthalt 1941 zur Welt kam.

Gewitzter Opportunist, skrupelloser Stratege, auf den eigenen Vorteil bedacht, charismatisch, arrogant, aber auch stets mit einer gehörigen Portion Glück gemäß seines Lebensmottos „Alle, außer mir“ beschenkt, überstand Attilio die Zeit in Afrika unbeschadet, machte anschließend Karriere in einem windigen Immobilienunternehmen und gründete zwei Familien. Doch auch bei ihm gibt es, neben der Liebe zu seinen Kindern, Grautöne: 1985 rettete er trickreich und beherzt seinen äthiopischen Sohn aus einem Gefängnis der Derg-Diktatur und verhalf seinem ehemaligen Kriegskameraden und dessen äthiopischer Familie zur Ausreise.

Francesca Melandri: Alle, außer mir. Foto & Collage: © B. Busch. Cover: © Argon.

Lange Schatten
Ich habe Alle, außer mir in ca. 19 Stunden als ungekürzte Lesung auf 3 MP3-CDs gehört, überzeugend vorgetragen von Gabriele Blum, die mit ihrer angenehmen Stimme gleichermaßen den tragischen wie auch den durchaus vorhandenen humorvollen Sequenzen gerecht wird. Es bedarf einiger Konzentration, um den Perspektiv- und Zeitwechseln sowie den Schicksalen der Haupt- und zahlreichen Nebenfiguren zu folgen, aber wer sie aufbringt, wird mit einer anschaulich-lehrreichen Erzählung belohnt. Francesca Melandri hat die koloniale und postkoloniale Geschichte gründlich recherchiert und schlägt dramaturgisch geschickt den Bogen zur heutigen Migrationswelle.

Ein ebenso wichtiger, wie angesichts des Rechtsrucks – nicht nur in Italien – bedrückender Roman, den man unbedingt lesen oder hören sollte.

Francesca Melandri: Alle, außer mir. Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Gelesen von Gabriele Blum. Argon 2018
www.argon-verlag.de

 

Weitere Rezensionen zu Büchern mit dem Prädikat „Lieblingsbuch der Unabhängigen“:

2015
2016
2017
2020
2022

 

 

 

 

Weitere Rezension zu einem Roman über die italienische Kolonialgeschichte:

Markus Thielemann: Von Norden rollt ein Donner

Hinter den Kulissen einer vermeintlichen Idylle

Kaum eine deutsche Landschaft ist so mit dem Begriff „Idylle“ verknüpft wie die Lüneburger Heide. Jedes Jahr bringt neue touristische Rekordzahlen, 2023 wurden knapp 6,1 Millionen Übernachtungen verzeichnet.

Der 19-jährige Nachwuchsschäfer Jannes Kohlmeyer, Protagonist im zweiten Roman von Markus Thielemann mit dem Titel Von Norden rollt ein Donner, scheint das Idyll geradezu idealtypisch zu verkörpern, wenn er mit dem Stecken in der Rechten zu Beginn inmitten seiner Herde von Heidschnucken in der Südheide steht. Das romantische Bild wird durch einen Donner jäh gestört, auf den jedoch kein Blitz folgt und weder Herde noch Hirte zusammenzucken, handelt es sich doch nicht um ein Naturphänomen, sondern um den üblichen Test von Panzermunition des Waffenherstellers Rheinmetall, neben der Bundeswehr mit ihren Truppenübungsplätzen der größte Arbeitgeber der Region.

Ein traditioneller Familienbetrieb
Drei Generationen leben auf dem Heidehof, wo die Hauptarbeit inzwischen von Jannes und seiner Mutter Sibylle geschultert wird. Großvater Wilhelm Volker, formal noch Eigentümer, ist seltener bei der Herde, seit seine verwirrte Frau Erika im Pflegeheim ist. Jannes ältere Schwester Janine lebt weit weg ein anderes Leben, bei Jannes Stiefvater Friedrich zeigen sich ebenfalls Vorboten einer Demenz.

Längst lebt die Familie mehr vom Tourismus und Fördergeldern als von ihren für den Erhalt der offenen Heidelandschaft so unentbehrlichen Tiere. Wortkarg sind die Menschen in der Heide, leidenschaftlich wird es im Gemeindesaal und in der Familie nur bei den Diskussionen um die Rückkehr der Wölfe und die Gleichgültigkeit von Politik wie Stadtbevölkerung. Gerne schalten sich hier die zugezogenen Neurechten ein, die das Wolfsthema für propagandistische Zwecke ausschlachten und die Stimmung anheizen. Ansonsten wird viel geschwiegen und verdrängt, besonders die jüngere Vergangenheit der geschichtsträchtigen Region. Doch deren lange Schatten fallen seit neuestem auf Jannes, der immer häufiger bei seinen einsamen Wanderungen mit der Herde von verstörenden Trugbildern, Visionen und Träumen heimgesucht wird:

Der Gedanke, dass es so etwas wie einen Sinn hinter alldem geben könnte, […], der Sache mit diesen Anfällen, seinen Träumen, seinem ganzen jämmerlichen Zustand, lindert seine Hoffnungslosigkeit. Es muss einen Grund geben, denkt er, eine Erklärung, ein Geheimnis. (S. 151)

Was hat es mit den scheinbar wirren Andeutungen seiner dementen Großmutter auf sich, was mit dem großväterlichen Heldenepos vom „Würger“?

Markus Thielemann: Von Norden rollt ein Donner. Hintergrundfoto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © C.H. Beck.

Ein vielversprechender neuer Autor
Markus Thielemann stand mit seinem Roman Von Norden rollt ein Donner auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2024, ein großer Erfolg für den 1992 geborenen Niedersachsen, der Literarisches Schreiben in Hildesheim studiert hat, und sicher eine der gelungenen Überraschungen dieses Preisjahres. Mit der Figur des Jannes hat er einen sehr eindrücklichen Protagonisten geschaffen, der, von seinen Freunden entfremdet, ohne Trennlinie zwischen Privatleben und Beruf inmitten seiner Familie einsam und mit viel zu früher Verantwortung für den Fortbestand des Hofes erwachsen werden muss. Bestechend ist auch die Wolfsmetapher für das Fremde und Bedrohliche. Markus Thielemann verknüpft einen bunten Strauß aktueller Themen, oft nur in Andeutungen und für mich zunehmend mit etwas zu viel düsterer Mystik beladen, aber dennoch rund, mit großem Sprachvermögen und äußerst atmosphärischen Naturbeschreibungen. Ein neuer Autor, den ich mir gerne merken werde.

Markus Thielemann: Von Norden rollt ein Donner. C.H. Beck 2024
www.chbeck.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2024:

Neige Sinno: Trauriger Tiger

  Lebenslang

Eine besonders gravierende Form von Traumatisierung erleidet, wer als Kind sexuelle Gewalt durch eine Bezugsperson erfährt. Obwohl jede Vergewaltigungsgeschichte einzigartig ist, ähneln sich die Folgen: Lebenslang drängen sich Erinnerungen auf, Heilung im Vergessen gibt es nicht.

Die heute in Mexiko lebende, 1977 in den französischen Alpen geborene und dort aufgewachsene Literaturwissenschaftlerin und Autorin Neige Sinno beschreibt es so:

Doch wohin auch immer ich ging, in welchem Augenblick auch immer – ich wandte mich um sah seinen Schatten. (S. 177)

Gestohlene Kindheit
Neige Sinno hat erlebt, worüber sie in ihrem 2023 in Frankreich erschienenen und vielfach ausgezeichneten autofiktionalen Memoir Trauriger Tiger schreibt, einem erzählenden Sachbuch in Ich-Form. Im Alter zwischen etwa sechs oder sieben und vierzehn Jahren wurde sie fortgesetzt von ihrem Stiefvater missbraucht, seiner Aussage nach nicht aus sexuellem Interesse, sondern aus Liebe und von ihr dazu getrieben, da er anders nicht mit dem widerspenstigen Kind nicht in Kontakt treten konnte. Erst als Studentin in den USA und aus Sorge um ihre jüngeren Halbgeschwister öffnete sie sich ihrer wohl tatsächlich ahnungslosen Mutter und gemeinsam erstatteten sie Anzeige. Im Gegensatz zu vielen anderen Betroffenen wurde ihr sofort geglaubt, zumal der Täter geständig war. Während er jedoch nach einigen Jahren das Gefängnis als freier Mann verlassen und mit einer jüngeren Frau eine zweite Familie gründen konnte, währt ihre Beschädigung fort:

Damaged for life. (S. 190)

Nicht schweigen
Trauriger Tiger ist nur zum kleineren Teil Tatsachenbericht und einen Missbrauch durch Voyeure halte ich damit glücklicherweise für nahezu ausgeschlossen. Vielmehr setzt sich Neige Sinno mit den Fragen nach dem Warum, Schuld, Strafe, Täterpsychologie, Folgen für die Überlebenden, dem juristischen, politischen und gesellschaftlichen Umgang damit früher und heute und – besonders ausführlich – mit der Verarbeitung in der Weltliteratur auseinander. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Frage nach der Motivation für das Buch, denn sie, die stets jegliche Therapie ablehnte, glaubt nicht an die Mär vom Schreiben als Therapie:

In Wahrheit geschieht das Gegenteil, das heißt, derjenige, der schreibt, zeichnet usw. ist de facto der Hölle bereits entkommen, nur deshalb kann er schreiben. (S. 94)

Neige Sinno: Trauriger Tiger. © B. Busch. Cover: © dtv.

Für Neige Sinno stehen Wahrheitssuche und der Bruch des Schweigens im Vordergrund, jedoch weder mit Hilfe eines rührseligen Opferbuchs noch in Form von Literatur, sondern als Lebensbericht, wozu die unspektakuläre, emotionsarme und bisweilen brutale Sprache passt.

Kein Happy End, aber ein kleiner Triumph
Es war mir nicht immer möglich, den Gedankengängen einer Betroffenen zu folgen, die sich seit Jahrzehnten intensiv mit dem Thema Missbrauch aus allen erdenklichen Blickrichtungen beschäftigt. Über manche Absätze und sich wiederholende Gedankenkreisel habe ich deshalb hinweggelesen und trotzdem aus dem sehr eindrücklichen Rest enorm viele Informationen und Denkanstöße mitgenommen. Nicht immer glücklich war ich mit der gewiss schwierigen Übersetzung: Eine Wendung wie „Er ließ sich einfach sterben.“ (S. 70) existiert im Deutschen nicht und ist missverständlich. Bei der Übertragung der abgedruckten Zeitungsartikel störten mich inhaltliche Ungenauigkeiten wie beispielsweise „son object sexuel“, das zu „ein Sexualobjekt“ (S. 85) wird – ein kleiner, aber nicht unbedeutender Unterschied.

Ein Happy End für die Überlebenden kann es nicht geben, aber dass Neige Sinno mit bewundernswerter Resilienz den Kopf knapp über Wasser hält, wie die Schwimmerin auf dem Cover, ist dennoch ein kleiner Triumph:

Stolpern, das schon, aber, noch einmal, nicht fallen. Nicht fallen. Nicht fallen. (Schlusssätze S. 296)

Neige Sinno: Trauriger Tiger. Aus dem Französischen von Michaela Meßner. dtv 2024
www.dtv.de

Kirsten Boie: Skogland brennt

  Topaktueller Politthriller für ältere Jugendliche

Das Kinderbuch Skogland, erschienen 2005, ist für mich einer der besten modernen Kinderromane und sticht auch im herausragenden Werk von Kirsten Boie noch hervor. Wie die Autorin für Kinder ab 11 Jahren vom großen Abenteuer der schüchternen 14-jährigen Jarven aus einer norddeutschen Kleinstadt erzählt, die sich plötzlich als Prinzessin des fiktiven nordeuropäischen Skogland wiederfindet und dort zum Spielball in den politischen Auseinandersetzungen zwischen dem dominierenden Süden und dem unterdrückten Norden wird, ist ebenso spannend wie lehrreich.

In der Fortsetzung aus dem Jahr 2008, Verrat in Skogland, gerät die junge Demokratie im inzwischen vereinigten Königreich Skogland durch einen Putschversuch in große Gefahr und Jarven, die noch mit ihrer neuen Rolle als Prinzessin kämpft, steht erneut mittendrin. Beide Bände handeln gleichermaßen von der Entwicklung der Protagonistin wie von politischen Themen: Rassismus, Einwanderung, Unterdrückung, Machtmissbrauch, Aufstand, Diktatur und Demokratie.

© B. Busch. Cover: © Kein & Aber, Oetinger.

Ein Jugendroman mit realem Vorbild
2024 hat Kirsten Boie die Reihe nochmals fortgesetzt, wobei sich Skogland brennt, wie man an der furchterregenden Triggerwarnung am Ende des Buchs erkennt, an Jugendliche frühestens ab 15 Jahren richtet. Obwohl man die Vorgängerbände dank eingebauter Erklärungen und Personenregister nicht kennen muss, ist es doch hilfreich. Reales Vorbild der Handlung ist das Attentat des norwegischen Rechtsextremisten Anders Behring Breivik vom 22.07.2011 in Oslo und auf der Insel Utøya. Sowohl der zeitliche Ablauf als auch das Ausmaß an Opfern stimmen überein.

Wie in dem vorzüglichen, wenn auch schwer erträglichen Sachbuch Einer von uns der norwegischen Journalistin Åsne Seierstad über die Breivik-Attentate geht es mit dem Massaker auf der Insel los. Beide Bücher beginnen mit einem rennenden Kind und blenden nach einem kurzen Einführungskapitel zurück.

Kirsten Boie: Skogland-Reihe. Collage: © B. Busch. Cover: © Oetinger.

Alte Seilschaften und jugendliche Ungeduld
Jarven, halb Süd-, halb Nordskogin, hat sich nach knapp zwei Jahren inzwischen in Skogland eingelebt. Die zunächst feindlich gesinnte Südskogin Ylva von Thunberg ist ihre beste Freundin, Joas, der Sohn des neuen Innenministers aus Nordskogland, ihr Freund. Trotz eines Gesetzes zur Gleichstellung beider Landesteile kehrt in Skogland keine Ruhe ein. Junge nordskogische Rebellen verüben Anschläge, weil ihnen die Angleichung zu langsam geht. Radikale Südskogen nutzen diese für ihre Zwecke, kämpfen gegen den Verlust ihrer Privilegien, sabotieren die neue Regierung und gründen die Arisch Patriotische Partei (APP). Durch Intrigen und Fake-News in den sozialen Medien wollen sie das Rad der Geschichte zurückdrehen.

Während Jarven und Ylva ein gemeinsames Sommercamp für nord- und südskogische Jugendliche auf der Insel Sommarsö planen, radikalisiert sich ihr Mitschüler Hjalmar von Söderberg, ein größenwahnsinniger Außenseiter und Schulverweigerer aus altem südskogischem Adel, immer mehr. Er fühlt sich zum Retter der arischen Rasse berufen und ordert im Darknet Materialien zum Bombenbau und Waffen. In 137 kurzen Kapiteln aus wechselnder Perspektive entwickelt sich temporeich das unheilvolle Geschehen.

Terror versus Vision
Wie immer in ihren Kinder- und Jugendbüchern traut und mutet Kirsten Boie ihren Leserinnen und Lesern sehr viel zu, selbst mir als Erwachsener stockte immer wieder der Atem. „Show, don’t tell“ ist oberstes Gebot, nirgends sieht man den mahnenden Zeigerfinger. Stattdessen stellt die Autorin dem größenwahnsinnigen Faschisten und kaltblütigen Mörder, der sich als erbärmlicher, isolierter Feigling entpuppt, die Vision von einem besseren Skogland gegenüber, für das es jedoch Geduld, Großzügigkeit, Mut, Vertrauen und verlässliche Freundschaften braucht. Schade nur, dass der Verlag die Umschlaggestaltung KI anvertraut hat, anstatt einen Illustrator oder eine Illustratorin zu beauftragen.

Ein topaktueller, höchst spannender, großartig geschriebener Jugend-Politthriller mit einem starken Plädoyer für Gerechtigkeit, Toleranz und Zusammenhalt.

Kirsten Boie: Skogland brennt. Oetinger 2024
www.oetinger.de

 

Weitere Rezensionen zu Büchern von Kirsten Boie auf diesem Blog:

                   

Anšlavs Eglītis: Schwäbisches Capriccio

  Zwischen Krähwinkel und Idylle

Vier Jahre lang hatte der Schriftsteller Anšlavs Eglītis (1906 – 1993) während seines Exils in Tailfingen auf der Schwäbischen Alb Zeit, die Eigenheiten der Älblerinnen und Älbler und ihr Miteinander zu studieren. 1944 aus seiner Heimat Lettland vor der vorrückenden Roten Armee geflohen und in Berlin ausgebombt, strandete er Anfang 1945 auf dem Weg in die Schweiz zufällig in der schwäbischen Kleinstadt, die er erst 1949 Richtung USA wieder verließ. Diese Eckdaten stimmen, obwohl das 1951 im US-Exil erschienene Buch Schwäbisches Capriccio gewiss keine Autobiografie ist, mit denen seines Protagonisten Pēteris Drusts überein. Auch der will zunächst nur eine Nacht in „Pfifferlingen“ bleiben:

Was für eine lächerliche Vorstellung, ohne Not in diesem unbedeutenden Nest zu bleiben. (S. 15)

In 20 Episoden, in denen Pēteris Drusts nicht immer selbst auftaucht, werden die Pfifferlingerinnen und Pfifferlinger auf höchst unterhaltsame Art lebendig. Manche tauchen mehrmals auf, bei anderen weiß man es wegen häufiger Namensgleichheit nicht genau, denn bei den Vor- und Nachnamen herrscht wenig Kreativität. Überhaupt ist der Gleichklang in Pfifferlingen groß: die Hausfrauen führen ihre Arbeiten synchron durch, alle Einwohnerinnen und Einwohner haben die gleichen roten Wangen, mutmaßlich wegen der arktischen Temperaturen in den ungeheizten Schlafzimmern, und die „Liliputhäuschen“ sind einheitlich weiß und adrett.

Am Ende der Welt
Warum aber bleibt der studierte Weltbürger Drusts trotz des merkwürdig unverständlichen Dialekts, der sprichwörtlichen Sparsamkeit bis hin zum peinlichen Geiz, dem ungenießbaren Most, der allgemeinen Schläfrigkeit und bisweilen Einfältigkeit, sonderbaren Traditionen, dem Beharren auf dem Althergebrachten, der übersteigerten Standorttreue und der Ignoranz der Welt draußen trotzdem ganze vier Jahre in diesem „schlimmen Krähwinkel“? Schon als seine Zimmerwirtin ihm die erste Mahlzeit serviert, schwant ihm, solche „Provinznester“ könnten ihre Vorzüge haben. Und wirklich:

In ganz Europa tobte der Krieg, aber in Pfifferlingen bekam man davon so gut wie nichts mit. (S. 59)

Anšlavs Eglītis: Schwäbisches Capriccio. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Guggolz.

Nach der Trümmerstadt Berlin ist Pfifferlingen zwar ein überaus spießiges Provinzstädtchen, dafür aber intakt und gepflegt und mit optimal an ihren Mikrokosmos angepassten Einheimischen. Man grüßt freundlich, nie herrscht Eile, ein natürlicher Widerspruchsgeist sorgt für den kreativen Umgang mit Anordnungen von oben oder außerhalb und Ausländern geht es „eindeutig besser als in Preußen“ (S. 43), ein Landstrich, der bei Drusts nach den verhassten Russen ebenfalls schlechter wegkommt als Schwaben. Beim Abschied schwingt daher Wehmut mit:

Er verspürte eine eigenartige Wärme gegenüber dieser fremden Stadt, die ihm einen friedlichen und behaglichen Unterschlupf gewährt hatte. (S. 294)

Nicht nur heiter
„Ein ungewöhnliches Buch, das in keine Kategorie passen will“, nennt der Übersetzer Berthold Forssman Schwäbisches Capriccio in seinem vorzüglichen Nachwort, und das Titelblatt nennt keine Genrezuordnung. Für mich ist es trotz der Einzelepisoden ein Roman: mit der Kleinstadt Pfifferlingen als durchgängigem Protagonisten und einem Schlusskapitel, das virtuos den Bogen zum Anfang schlägt, was das Buch großartig abrundet.

Auch oder gerade als Schwäbin habe ich Schwäbisches Capriccio mit großer Freude gelesen und darüber gegrübelt, was davon schwäbisch, deutsch oder einfach ländlich ist. Ich habe über die grotesk überzeichnete Pfifferlinger Einfalt, die messerscharfe Beobachtungsgabe des Autors und seine humorvoll-bissige Erzählweise gelacht, wurde ernst bei Themen wie der sowjetischen Okkupation Lettlands oder der zweifelhaften deutschen Entnazifizierung oder war gerührt von Pfifferlinger Befindlichkeiten, Drusts Heimweh oder seinem Liebeskummer.

Ein weiterer neuentdeckter Klassiker aus dem Verlag Guggolz, dessen Lektüre sich unbedingt lohnt.

Anšlavs Eglītis: Schwäbisches Capriccio. Aus dem Lettischen und mit einem Nachwort von Berthold Forssman. Guggolz 2024
guggolz-verlag.de

Trygve Gulbranssen: Und ewig singen die Wälder

  Ein Fels in der Brandung

Was könnte sich besser als Vorlesestoff auf einer langen Reise durch Norwegen eignen, als die weltweit in über 12 Millionen Exemplaren verkaufte und in über 30 Sprachen übersetzte Björndal-Trilogie von Trygve Gulbranssen (1894 – 1962)? Die historische Familiensaga aus dem ländlichen Ost-Norwegen umfasst die Bände Und ewig singen die Wälder, im Original 1933 erschienen, und die auf Deutsch unter dem Titel Das Erbe von Björndal zusammengefassten Teile zwei und drei von 1934/35.

Zwei verfeindete Höfe
Und ewig singen die Wälder
beginnt in den 1760er-Jahren. Zwischen dem Dorf im offenen Land mit dem mächtigen Hof Borgland der Adelsfamilie von Gall und dem aufstrebenden Björndaler Waldhof herrschen seit jeher Misstrauen und Vorurteile:

Aber sie kamen einander nicht nahe, die Menschen aus den Wäldern und die aus dem offenen Land. Nie hatten sie miteinander gesprochen. Stolz gingen die aus dem offenen Land an den Waldleuten vorbei, wenn sie sich trafen – hielten sie für Pack und Schlimmeres und begegneten ihnen nicht gern in der Dunkelheit. […] Man hielt sie kaum für Christen, und Zauberei, Zügellosigkeit und wüste Schlägereien wurden ihnen nachgesagt. (S. 9)

Während in der Siedlung im offenen Land der einstmals wertlose Wald zugunsten von Wiesen, Äckern und Viehzucht gerodet und damit jegliche Verbindung zur Wildnis unterbunden wurde, leben die Björndaler noch nahe an der unkultivierten Natur und pflegen ihre Traditionen:

Und nördlich vom offenen Land hatte der Wald seit jeher bestehen dürfen. Dunkel und mächtig sang er sein altes Lied über Höhen und Hänge unendlich nach Norden fort. Trolle, Huldren und Spuk aller Art waren dort zu Hause. (S. 8)

Drei Generationen der starken, immer reicheren Björndaler begleitet der erste Band der Trilogie: Torgeir Björndal, seine Söhne Tore und Dag, die mit Hilfe des Handelshauses Holder in der Stadt erfolgreich Geschäfte machen, und Dags Söhne, wiederum Tore und Dag genannt. Beide Dags überleben ihre Brüder, beide heiraten Frauen aus der Stadt: der alte Dag die reiche Erbin Terese Holder, der junge Dag die verarmte Majorstochter Adelheid Barre.

Trygve Gulbranssen: Und ewig singen die Wälder. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Ullstein.

Die lange Kette
Und ewig singen die Wälder ist ein Roman im romantischen Stil, inspiriert von norwegischen Volkserzählungen und Berichten über die bäuerlichen Vorfahren des Autors aus dem Mund seiner Mutter. Stets steht die Bedeutung des Geschlechts über der des Einzelnen, begreifen sich die Björndaler als Glieder einer Kette aus Vor- und Nachfahren. Zentral sind die inneren Kämpfe des alten Dag, seine kaum beherrschbaren Rachegelüste, sein Hadern mit Gott, sein Stolz, aber auch sein Verhältnis zur Barmherzigkeit.

Ein unverwüstlicher Roman
Zu Unrecht wurde Trygve Gulbranssen nach 1945 Nähe zum Nationalsozialismus vorgeworfen. Im Gegensatz zu seinem deutschen Verlag Langen-Müller hielt er sich bewusst von den Nazis fern und teilte die Ideologie der deutschen Besatzer nicht.

Auch wenn der Roman mit seiner epischen Erzählweise, seiner Pathetik und seinem Rollenbild heute etwas aus der Zeit gefallen scheint, lohnt sich die Lektüre auch fast 100 Jahre nach seinem Erscheinen noch: wegen seiner Schilderungen der Natur im Kreislauf der Jahreszeiten, der unbeugsamen Menschen und des ländlichen Milieus seiner Zeit. Deshalb möchte ich unbedingt bald die Fortsetzung lesen über die Björndaler und ihren Hof, der wie ein Fels in der Brandung steht:

Jahre vergingen, die Zeiten änderten sich draußen in der Welt; doch auf Björndal blieb alles beim alten. (S. 85)

Trygve Gulbranssen: Und ewig singen die Wälder. Übersetzt von Ellen de Boor. Ullstein 1978

Giulia Caminito: Das große A

  Italien – Afrika und zurück

„Seit vielen Jahren ist Wagenbach der deutschsprachige Verlag mit den meisten Büchern aus und über Italien“, heißt es in der Broschüre, die dem erst 2024 übersetzten Debütroman Das große A von Giulia Caminito aus dem Jahr 2016 beiliegt. Zuvor erschienen von ihr auf Deutsch bereits Ein Tag wird kommen (2020) und Das Wasser des Sees ist niemals süß (2022), alle drei in Italien preisgekrönt. Die 1988 geborene Autorin gehört zur Delegation des Ehrengastlands Italien auf der Frankfurter Buchmesse 2024, das seine Literatur unter dem Motto Verwurzelt in der Zukunft präsentiert.

Giulia Caminito: Das große A. Collage: © B. Busch. Cover: © Wagenbach.

Der Traum von Afrika
Kein Wunder, dass sich die fantasiebegabte, sehr schmächtige Giadina, genannt Giada, während und nach dem Zweiten Weltkrieg weg aus dem Bombenhagel und vom Hunger im lombardischen Provinzstädtchen Legnano nahe Mailand wünscht. Ihre Sehnsucht gilt dem „Großen A“, Afrika, wo ihre Mutter Adele, männlicher Spitzname Adi, lebt, seit sie die Familie verlassen hat. In Assab in der ehemaligen italienischen Kolonie Eritrea, die seit 1941 Großbritannien untersteht, führt sie die Bar „Da Adi“. Ihre drei Kinder sind bei verschiedenen Familien untergebracht, Giada bei Adis liebloser faschistischer Schwester, die das Kostgeld unterschlägt.

Zum Jahreswechsel 1949/50 geht Giadas Wunsch endlich in Erfüllung: von Venedig aus fährt die inzwischen Siebzehnjährige ans Horn von Afrika:

Giada würde viele Dinge des großen A lieben. (S. 65)

Aber als sie das erste Mal ankam, waren alle Träume verflogen, wer weiß wohin, mit Sack und Pack emigriert. (S. 67)

Caminito, Giulia: Das große A. Wagenbach 2024. Foto: © M.A. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: Wagenbach.

Vom Mädchen zur Frau
Statt in einem gemütlichen Zimmerchen mit rosa Spitzengardinen für sich allein findet sich Giada in den Hinterzimmern der Bar wieder, in der sie abwechselnd mit der Mutter bedient. Unerträgliche Hitze, jahrelange Trockenheit, salzige Luft, das Nichts der Wüste, Staub, Dreck, Verwahrlosung, stechende Gerüche und kaum geselliges Leben – nichts davon hat sie erwartet. Aber es gibt auch den jungen Hamed, dem sie Lesen und Schreiben beibringt und mit dem sie lacht, ihre geliebte Gazelle Checco, die das Dasein als Haustier nicht lang überlebt, und schließlich den ebenso gutaussehenden wie unzuverlässigen und rastlosen Giacomo Colgada aus wohlhabender Familie in Asmara, der ihr Ehemann wird. An ihm, der nach Belieben auftaucht und verschwindet, und an seinen Eskapaden wächst Giadas Persönlichkeit in den folgenden Jahren, mit ihm geht sie nach Addis Abeba, Äthiopien, wo die Italiener ausgelassen ihr privilegiertes Leben genießen. Nichts hasst sie mehr, als Püppchen und Spielball zu sein, und für ihren Sohn Massi wird sie zur Löwenmutter. 1960, als das goldene Zeitalter für Italiener in Afrika endet, folgt sie ihrer Mutter, ihrem zweiten „Großen A“, ins fremd gewordene Italien nach Ravenna, ohne Gewissheit, ob Giacomo ihnen folgt.

Lesen mit allen Sinnen
Giulia Caminito hat sich bei ihrem Debüt für die Figur der Adele am Leben ihrer Urgroßmutter orientiert. Sie verbindet Themen wie Kolonialwesen, Faschismus, Rassismus, Auswanderung, Heimkehr und Fremdsein mit außergewöhnlich intensiven Naturschilderungen und den Lebenswegen zweier starker, zäher Frauen, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten männlichen Machtansprüchen Grenzen setzen. All dies ist sehr gelungen, wenn auch nicht so außergewöhnlich wie die Erzählweise: sprunghaft, oft aufzählend, aneinanderreihend, vieles nur andeutend, schroff, springend, alle Sinne ansprechend – kurz: großartig, wenn man bereit ist, sich darauf einzulassen.

Giulia Caminito: Das große A. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Wagenbach 2024
www.wagenbach.de

Weitere Rezension zu einem Roman von Giulia Caminito auf diesem Blog:

Irma Nelles: Die Gräfin

  Aussteigerin im Watt

Im Wattenmeer vor der nordfriesischen Halbinsel Nordstrand liegt, neben vielen anderen Halligen, die Hallig Südfall. Von 1910 bis zu ihrem Tod 1953 gehörte sie der 1863 geborenen Diana Gräfin von Reventlow-Criminil, die dort als Aussteigerin auf der einzigen Warft zunächst sommers, später ganzjährig mit wenigen Bediensteten und ihren Tieren lebte. Bis heute erinnert man sich in Nordfriesland an die eigenwillige und mutige „Hallig-Gräfin“, die dem Luxus im holsteinischen Schloss Emkendorf und dem Umgang mit dem europäischen Hochadel zugunsten eines schlichten Lebens ohne Strom und fließendem Wasser entsagte. Die 1946 geborene und kurz vor der Veröffentlichung ihres Debütromans Die Gräfin verstorbene Autorin Irma Nelles stammt von der Insel Nordstrand und ist mit den Erzählungen um die Hallig-Gräfin aufgewachsen.

Ein überraschendes Ereignis
Sechs Tage am Ende des Sommers 1944 umfasst der nur 169 Seiten starke Unterhaltungsroman, in dem die Autorin auf das Leben der inzwischen 80-jährigen Gräfin blickt. Nach der Rückeroberung von Paris durch die Alliierten hoffen Diana und ihre wenigen Vertrauten, die immer wieder Verfolgten zur Flucht verhelfen, auf ein rasches Kriegsende. Doch zuvor findet Diana im Watt einen abgestürzten Officer der Royal Airforce, John Philip Gunter, und dessen einmotoriges Aufklärungsflugzeug. Zusammen mit ihrem Kutscher und Hausmeister Knut Maschmann, ihrer jungen Haustochter Meta Olsen und dem aus Nordstrand herbeigerufenen Ärztepaar Käthe und Carl Braack kümmert sie sich um den Verletzten und versteckt ihn vor der Gestapo und ihren Helfern.

Irma Nelles: Die Gräfin. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Hanserblau

Verschenktes Potential
Das große Plus dieses Romans sind zweifellos die sehr atmosphärischen Beschreibungen der nordfriesischen Natur und des Hallig-Lebens. Da pfeift der Wind zwischen den Seiten, lebt man unter dem Diktat von Ebbe und Flut, blickt ängstlich auf die Sturmflut des Jahres 1936 zurück und sieht den „silbern flirrenden Horizont“ sowie die „nur wenige Zentimeter mit Wasser bedeckte Meeresfläche, in der sich der Himmel spiegelte, als wären sie eins“ (S. 17). Genau wie den plattdeutschen Gesprächsteilen merkt man auch den Einsprengseln über den Heimat- und Rungholt-Forscher Andreas Busch (1883 – 1972) oder den von den Nationalsozialisten als entartet gebrandmarkten Föhrer Maler Gustav Mennicke (1899 – 1988), der zeitweise in Südfall Schutz fand, die Verbundenheit der Autorin mit ihrer Heimat an. Leider erreicht jedoch weder die unspektakuläre Romanhandlung noch die sprachliche Umsetzung diese Qualität und der Einbau des zweifellos interessanten Hintergrundwissens wirkt oft gekünstelt. Besonders die häufig leblosen Dialoge, die weniger der Interaktion der Sprechenden als der Information der Leserinnen und Leser dienen, haben mir nicht gefallen. Immer wieder verliefen Andeutungen im Sand, ergaben sich für mich Lücken in der Logik oder widersprach sich der Text, beispielsweise wenn die Hauptperson zunächst den Pomp auf dem heimatlichen Schloss als Grund für ihren Rückzug anführt, wenig später jedoch die „wundervolle Zeit“ (S. 109) preist. Unglaubhaft auch, dass der vom Arzt ins Gipsbett Verbannte bei der Bergung des Flugzeugs hilft und eine Liebesnacht erlebt. Die Monologe Dianas über ihre Leben konnte ich schwer mit dem Bild der wortkargen Frau in Einklang bringen, auch wenn die unerwartete Begegnung sie sehr bewegt.

Bei einem anderen Finale hätte ich vielleicht über manches hinweggesehen, doch bleibt mir der überaus plötzliche Schluss mit jeder Menge loser Fäden ebenso rätselhaft wie der Prolog. Schade, denn mit dem guten Gespür der Autorin für friesische Atmosphäre und ihrer interessanten Protagonistin wäre mehr möglich gewesen.

Irma Nelles: Die Gräfin. Hanserblau 2024
www.hanser-literaturverlage.de/verlage/hanserblau

Ljuba Arnautović: Erste Töchter

  Wie viele Heimaten passen in einen Körper?

 

 

Das Schicksal der Familie Arnautović lässt an ein Schachspiel denken: Zuerst wird der Vater Karl auf dem Schachbrett der europäischen Geschichte erbarmungslos herumgeschoben, dann degradiert er seine vier Ehefrauen und seine Kinder zu Schachfiguren, die er nach Belieben versetzt.

Schutzbundkinder
1934
wird der neunjährige Karl zusammen mit seinem älteren Bruder Slavko, Söhne österreichischer Sozialisten, als sogenanntes Schutzbundkind ins vermeintlich rettende Exil in die Sowjetunion geschleust. Auf gute Jahre folgen sowjetische Kinderheime, Leben auf der Straße und Jugendgefängnis, nachdem sie als Volksfeinde in Stalins Terrormühle geraten sind. Slavko kommt bereits 1942 um, Karl überlebt zehn Jahre im Gulag. Erst Ende 1955 kehrt er heim, wird nie wieder seine nächtlichen Geister los und kennt nur noch ein Ziel:

Nie wieder Opfer sein! (S. 11)

Ljuba Arnautović: Erste Töchter. Foto: © B. Busch. Cover: © Zsolnay

Vier Ehen, sechs Kinder
Dafür wird er, der nur filterlos raucht, bis zu seinem Tod im Jahr 2000 viermal eine zu seinem jeweiligen Lebensabschnitt passende Frau heiraten: Die Russin Nina ist ihm nach der Freilassung aus dem Gulag nützlich und ist die Mutter seiner Töchter Luna und Lara. Erika, Slavkos Ex-Freundin, verhilft ihm in Wien zum Berufseinstieg und betreut die Töchter, die er der in Österreich hilflosen Nina entreißt. Dörte, die dritte und promovierte Ärztin aus gutem Haus, bringt vier Kinder zur Welt und verschafft ihm in München Zutritt in eine höhere Gesellschaftsschicht. Während der Ehe mit ihr nimmt er Luna und Lara zu sich nach München, schickt die rebellierende Lara jedoch bald zurück zu ihrer leiblichen Mutter Nina nach Wien. Ludmila, die späte vierte Ehefrau, ist wiederum Russin.

Im Mittelpunkt stehen jedoch die beiden Schwestern Luna und Lara, die auf Karls Geheiß Orte, Schulen, Heime und Mütter wechseln und die er schließlich, als sie dreizehn und zehn Jahre alt sind, auseinanderreißt:

Die Schwestern sind fortan wie Erich Kästners doppelte Lottchen in einem ihrer Lieblingsbücher, sogar ihre Vornamen beginnen mit einem L. […] Nur wird in dieser echten Geschichte das Happy End ausbleiben. (S. 51)

Wie unterschiedlich sich ihrer beider Leben entwickeln, sie sich entfremden und durch äußere Ereignisse schließlich wieder annähern, erzählt die 1954 in Kursk geborene, in Wien lebende Autorin Ljuba Arnautović in kurzen, zeitlich vor- und zurückspringenden Sequenzen. Nicht immer habe ich verstanden, warum über einzelne Ereignisse vergleichsweise ausführlich, über andere, in meinen Augen wichtigere, dagegen sehr verkürzt berichtet wird. Im Hintergrund läuft, soweit es für Lunas politische Entwicklung von Bedeutung ist, die Zeitgeschichte: Studentenunruhen, Konsumverweigerung, Frauenbewegung, Hausbesetzungen, die RAF.

Dritter Teil einer Familiengeschichte
Erste Töchter
ist ein autofiktionaler Roman, vor allem in der Figur Lara betont die Autorin in ihrer Danksagung ausdrücklich die Fiktion. Leider wusste ich nicht, dass es zwei Vorgängerbände gibt: Im Verborgenen von 2018 über Karls Mutter Eva und Junischnee von 2021 über Karl. Obwohl der nur 155 Seiten starke Roman Erste Töchter in 39 Kapiteln viele biografische Splitter enthält, bleibt doch ohne Kenntnis der anderen Bände manches unklar, tauchen Personen ebenso unvermittelt auf, wie sie wieder verschwinden, was unbefriedigend ist und mir stellenweise unfertig erschien. Trotzdem hat sich für mich die Lektüre dieses sehr emotionslos und berichthaft geschriebenen Buches gelohnt: wegen eines mir bislang unbekannten Puzzleteils der Geschichte und einer Frau, die sich angesichts eines Besuchs bei der Großmutter in Kursk fragt:

Sie hat doch schon zwei Heimaten – wie viele passen in einen Körper? (S. 79)

Ljuba Arnautović: Erste Töchter. Zsolnay 2024
www.hanser-literaturverlage.de/verlage/zsolnay