Meine Adventsempfehlungen in der LKZ

Am 30.11.2024 hat die Ludwigsburger Kreiszeitung meine Adventsempfehlungen veröffentlicht:

https://www.lkz.de/lokales/stadt-ludwigsburg_artikel,-buecher-fuer-den-advent-sechs-neuerscheinungen-fuer-alle-altersklassen-_arid,808792.html

Der Artikel liegt hinter einer Bezahlschranke, verständlich, weil sich guter Journalismus auch rechnen muss.

Die Auswahl ist mir sehr schwergefallen, denn ich habe 2024 natürlich mehr als nur sechs empfehlenswerte Bücher gelesen. Für diese sechs Titel habe ich mich schließlich entschieden:

         

Zu den Rezensionen auf meinem Blog gelangt man durch einen Klick auf das jeweilige Cover.

Vielen Dank an die LKZ für die Bühne und der Journalistin und Autorin Katja Goll für das angenehme Gespräch, die hilfreichen Fragen und die gelungene Umsetzung!

Matteo B. Bianchi: Von dem, der bleibt

  Wider ein Tabu

 

 

Neige Sinno, die in ihrem autofiktionalen Memoir Trauriger Tiger von ihrem Leben als Missbrauchsopfer berichtet, reflektiert darin eine interessante Frage: Ist man als Schriftsteller verpflichtet, über gewisse Erlebnisse zu schreiben? Muss der Auschwitz-Überlebende also über Auschwitz schreiben? Sie zitiert dazu eine amerikanische Kollegin:

Aber wenn man so was schon mal bei der Hand hat, wie Mary Karr über ihre eigene dysfunktionale Familie sagt, wäre es schade, nicht über dieses Thema zu schreiben. (S. 262)

Neige Sinno bestreitet jedoch die Funktion von Literatur als Therapie:

Sobald man über das Trauma reden kann, ist man bereits ein wenig gerettet. (S. 93)

Für die Überlebenden
Beide Zitate sind wie gemacht für den autofiktionalen Roman Von dem, der bleibt des 1966 geborenen Italieners Matteo B. Bianchi. Nur, weil er 1998 den Selbstmord seines Ex-Partners und das nie endende Danach erlebte, konnte ein Text mit einer so brennenden Intensität und der Trauer als Protagonist entstehen. 25 Jahre arbeitete er an diesem Roman, zunächst nur in Gedanken, später auf Papier, bis er bereit war, ihn 2023 in Italien zu veröffentlichen. Obwohl es, wie bei Neige Sinno, kein Happy End im üblichen Sinne geben kann, war sein Weg zur Rettung zu diesem Zeitpunkt bereits weit fortgeschritten. Abzulesen ist die Entwicklung an der plötzlichen sachlichen Distanz zu dem dramatischen Ereignis im letzten Fünftel des Romans, nachdem Matteo B. Bianchi seine Leserinnen und Leser zuvor so dicht wie nur irgend vorstellbar an seinen Schmerz herangelassen hat. Seine Motivation zur Veröffentlichung beschreibt er so:

Ich schreibe dieses Buch unter anderem, weil ich damals so ein Buch hätte lesen wollen, eines über den Schmerz derer, die zurückbleiben. (S. 124)

Matteo B. Bianchi: Von dem, der bleibt. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © dtv.

Ein Labyrinth aus Schmerz
Nur drei Monate nach dem Ende der siebenjährigen Beziehung zwischen den in jeder Hinsicht ungleichen Männern nahm sich A. im November 1998 das Leben. Fünf helle, zwei dunkle Jahre und eine unschöne Trennung lagen hinter ihnen. Als A. angeblich seine Besitztümer aus der ehemals gemeinsamen Wohnung holte, nahm er sich dort, wo jetzt nur noch der Autor wohnte, das Leben. Niemand hatte den Warnzeichen zuvor die nötige Beachtung geschenkt.

Matteo B. Bianchi zeigt den Schmerz in all seinen Facetten: Schock, Fassungslosigkeit, Zweifel, Verwirrung, Wut, Schuldgefühle, totale Vernichtung, Scham, grenzenlose Einsamkeit und Hilflosigkeit rundherum. Nichts, was er in seiner Verzweiflung versuchte, verschaffte ihm Erleichterung:

Es ist wie ein ständig brennendes Neonlicht. Die anderen können es ausschalten, du nicht. (S. 263)

Bis er eines Tages durch Willensstärke zurück ins Licht fand:

Der Moment war gekommen. Jetzt oder nie. Der Moment, mich zu retten. (S. 277)

„Ich setze dieses Buch aus Fragmenten zusammen, weil ich nichts anderes zur Verfügung habe.“ (S. 165)
Matteo B. Bianchi will nicht Chronist sein, sondern Literat, mit der Freiheit, Details zu verändern. Aus „Scherben“ setzt er die Zeit vor und nach dem Suizid zusammen, reflektiert aber auch den Prozess seines Schreibens.

Mich hat Von dem, der bleibt tief beeindruckt und bewegt: durch seine umwerfende Ehrlichkeit frei von Pathos und Effekthascherei und die Kraft seiner Sprache und Bilder, die Amelie Thoma perfekt ins Deutsche übertragen hat. Auch wenn Matteo B. Bianchi in erster Linie für andere Überlebende schreibt, geht das Thema bei über 10.000 Selbstmorden 2023 allein in Deutschland doch alle an. Ein echtes Lese-Highlight!

Matteo B. Bianchi: Von dem, der bleibt. Aus dem Italienischen von Amelie Thoma. dtv 2024
www.dtv.de

Sebastian Barry: Annie Dunne

  Die Frau mit dem Mond auf dem Rücken

Irland 1959. Auf einem ärmlichen Gehöft in Kelsha in den Winslower Bergen südlich von Dublin leben zwei Frauen um die 60 im Einklang mit den Jahreszeiten am Existenzminimum. Sarah Cullen ist die Besitzerin des Hofs, die ihre mittellose, arbeitsame Cousine Annie Dunne bei sich aufgenommen hat. Es ist nicht einfach, Sympathie für Annie aufzubringen, und doch empfindet man beim Lesen sofort Mitleid mit dieser vom Schicksal schwer gebeutelten Frau. Mit ihrem durch eine kindliche Polioerkrankung in Form eines Mondes verkrümmten Rücken erfüllte sich ihr Traum von einer eigenen Familie nicht, ihre einzige Liebesgeschichte ist eine Erfindung. Stattdessen hat sie die Kinder ihrer Schwester Maud aufgezogen, musste das Haus nach deren Tod aber verlassen, als ihr Schwager Matt sich neu verheiratete.

Stolz ohne Fundament
Annies Schutzschild ist ihr Dünkel. Als Nachfahrin von Gutsverwaltern und Tochter eines hohen Beamten der Dubliner Metropolitan Police wuchs sie im Dublin Castle auf und besuchte eine Nonnenschule. Nun ist sie zurück auf dem Land. Äußerlich hart, unbeugsam, unfreundlich und misstrauisch, macht sie sich vor sich selbst nichts vor:

Ich weiß, dass ich nichts bin. Mein Stolz hat kein eigenes Fundament, er ist nur ein Anbau, errichtet auf Vorurteilen, ein Wetterschutz gegen meinen Zorn. (S. 54)  

Drohend steht ihr das Schicksal ihres Vaters vor Augen, der nach der Unabhängigkeit Irlands von Großbritannien dem Wahnsinn verfiel und in einer Anstalt landete, der letzten elenden Station für Obdachlose und Notleidende:

Was mich in den letzten Jahren gequält hat, war die Angst, meine letzte Zuflucht in dieser Welt zu verlieren, die linke Seite von Sarahs Bett und dieses kleine Gehöft. (S. 35)

Sebastian Barry: Annie Dunne. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Steidl.

Veränderungen
Zwei Ereignisse prägen den Sommer 1959 auf dem kleinen Gehöft. Zu Annies Freude kommen die Kinder ihres Neffen, ein sechsjähriges Mädchen und ein vierjähriger Junge, für einige Wochen zu Besuch, während ihre Eltern eine neue Existenz in London aufbauen. Sie bringen Leben, aber auch Unruhe auf die Farm, und nicht alles, was Annie an ihnen beobachtet, versteht sie. Zugleich droht Annies größte Angst wahr zu werden: Billy Kerr, ein Landarbeiter, der den beiden Frauen gelegentlich zur Hand geht, bedroht ihre Zweisamkeit mit Sarah. Was würde aus ihr, der mittellosen Bittstellerin, wenn Sarah im fortgeschrittenen Alter doch noch heiratete? Kampflos will Annie ihren Platz nicht aufgeben. Die aufsteigende Panik lässt ihre schlimmsten Charakterzüge hervortreten.

Inhaltlich wie haptisch ein wunderschönes Buch
In diesem zweiten Roman des 1955 in Dublin geborenen Sebastian Barry, der zu den bekanntesten Autoren Irlands gehört, passiert nichts Weltbewegendes, und doch wird die kleine Welt von Annie Dunne nachhaltig erschüttert. Mit ihrer Angst vor dem Verlust ihrer Zuflucht hat sie mich an den geistig zurückgebliebenen Mattis in Die Vögel von Tarjej Vesaas erinnert, dessen Furcht, von seiner Schwester verlassen zu werden, in eine Tragödie führt. Wie Sebastian Barry diese kleine, im Umbruch begriffene Welt des ländlichen Irlands in der Mitte des 20. Jahrhunderts und den ambivalenten Charakter einer benachteiligten, innerlich zerrissenen Frau beschreibt und immer wieder Einblicke in die politische Vergangenheit des Landes gewährt, ist große Literatur.

Der Steidl Verlag hat dieses im Original 2002 erschienene Buch, hervorragend übersetzt von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser, 2021 in einer wunderschönen Leinenausgabe veröffentlicht.

Sebastian Barry: Annie Dunne. Aus dem Englischen von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser. Steidl 2021
steidl.de

Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften

  Ersatzfamilie

Wohngemeinschaften gab es unfreiwillig nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland durch Zwangseinquartierungen. Ab den 1960er-Jahren entdeckten Studierende diese Wohnform für sich. Angesichts explodierender Mieten, Wohnraumknappheit, steigender Zahl von Singlehaushalten und fehlender Heimplätze gibt es sie inzwischen für jedes Alter, jede Lebenssituation und jeden Geldbeutel.

3+1=4
In der Hamburger WG im neuen Roman Wohnverwandtschaften der Übersetzerin und Autorin Isabel Bogdan leben vier mitten im Leben stehende Erwachsene aus ganz unterschiedlichen Motiven. Jörg, Rentner Ende 60, kann das Geld aus der Vermietung für seine geplante Reise mit dem Bulli nach Georgien gut gebrauchen und hat sich nach dem Tod seiner Frau wieder Leben in die Wohnung geholt. Anke lebt seit mittlerweile mehreren Jahren bei ihm und wird von Zukunftsängsten geplagt. Sie war einst eine erfolgreiche Schauspielerin, leidet nun aber sehr unter den fehlenden Rollenangeboten für Frau über 50. Murat, ebenfalls um die 50, Fachmann für IT und Deutschtürke aus Köln, ist der Sonnyboy der WG, kocht gern für alle, liebt seinen Schrebergarten, den FC St. Pauli, seinen großen Freundeskreis und seine Mitbewohnerinnen und Mitbewohner. Er ist es auch, der die jüngere, nicht ganz so lockere Zahnärztin Constanze als Vierte im Bunde anheuert. Frisch getrennt, sieht sie die WG als Notlösung und Zwischenstation. Mit ihrem Einzug im Januar 2022 setzt der Roman ein:

Neues Zuhause. Übergangsweise. Irgendwann werde ich ja eine eigene Wohnung finden, ein richtiges Zuhause. Meins. Ach, Mist. Ich hatte doch schon mal eins. (S. 7)

Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften. Foto & Collage: © B. Busch. Cover: © Kiepenheuer & Witsch.

Eine Zerreißprobe
Abwechselnd erzählen in den kurzen Kapitel die vier WG-Mitglieder von ihrem Alltag, chronologisch und mit genauer Angabe von Wochentag und Datum. Dazwischen gibt es Abschnitte mit mehreren Personen und Dialogen ähnlich einem Theaterstück. Je weiter der Roman fortschreitet, desto mehr Kapitel kommen aus der Sicht aller, denn nach Jörgs Blinddarmoperation ist er nicht mehr derselbe und der WG-Alltag wird zunehmend auf den Kopf gestellt. Abhängig von ihrem Charakter gehen Anke, Murat und Constanze zunächst verschieden damit um und brauchen unterschiedlich lang, um die Tragweite der Veränderung zu begreifen. Aber eins ist klar: Sie lassen ihren vierten Mann nicht im Stich.

Leicht und warmherzig
Wohnverwandtschaften
ist mit seinem Anklang an Goethes Wahlverwandtschaften eine einfallsreiche Wortneuschöpfung mit Potential für eine Aufnahme in den Duden. Zwei Jahre lang, bis Silvester 2023, verfolgen wir lesend die Ereignisse in der WG, Fortsetzung nicht ausgeschlossen. Isabel Bogdan schreibt leicht, amüsant und mit viel Empathie für ihre Figuren über ein Zusammenleben, das mir allerdings bei so unterschiedlichen Charakteren ein wenig zu konfliktfrei und harmonisch ablief. Ich hätte mir auch gewünscht, dass Anke, Constanze und Murat sich in ihrer Sprache mehr unterschieden hätten, wie es bei Jörg sehr gut gelungen ist. Als warmherziger Wohlfühlroman über wachsende Freundschaft und geteilte Verantwortung liest sich das Buch jedoch gut. Noch besser allerdings kann ich mir den Text aufgrund seiner innovativen Struktur in der Hörfassung, auf der Bühne oder im Film vorstellen.

Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften. Kiepenheuer & Witsch 2024
www.kiwi-verlag.de

Maria Parr: Himbeereis am Fluss

  Ein Vorlesebuch zum Verlieben

Oskar og eg. Alle plassane vi er (dt.: Oskar und ich. All die Orte, an denen wir sind) lautet der Originaltitel des fünften Kinderromans der Norwegerin Maria Parr. Die Erzählerin Ida ist zu Beginn des Buches acht Jahre alt, ihr Bruder Oskar fünf, und jedes der elf Kapitel rund um ein Jahr heißt nach seinem Handlungsort: beispielsweise dem Kleiderschrank, dem Fluss, der Schule, einer Holzhütte, dem Friedhof oder der Rodelbahn. Der deutsche Titel, Himbeereis am Fluss, ist die fantasievolle Antwort der Geschwister auf einen verregneten Sommertag.

Geschwisterhierarchie
Ida, Oskar und ihre Eltern leben in einem roten, ein wenig unmodernen Haus in einem norwegischen Dorf. Die Fenster leuchten abends gemütlich, warm und gelb und am liebsten würde man selbst gleich auf der ersten Seite dort einziehen:

In dem Haus wohnen zwei Kinder, Oskar und ich. Wir teilen uns ein Zimmer im Keller. Ich schlafe oben im Hochbett und bin der Chef. Oskar schläft im unteren Bett und glaubt, er wäre der zweite Chef, aber eigentlich bin ich diejenige, die alles bestimmt. (S. 12)

… es sei denn, Ida und die Eltern haben gleichzeitig einen Magen-Darm-Infekt:

Es war offensichtlich, dass er alles tat, was er sonst nicht durfte, jetzt, wo ihn niemand daran hindern konnte. (S. 35)

Maria Parr: Himbeereis am Fluss. Foto & Collage: © B. Busch. Cover: © Dressler.

Kinderalltag rund ums Jahr
Maria Parr lässt Ida vom Familienleben und von ganz vertrauten Alltagssituationen erzählen, denen die Kinder mit Unternehmungslust, Neugier, Kreativität, Selbstbewusstsein und Resilienz begegnen: vom Spielen in der Natur, vom ersten Schultag des Bruders, von Halloween und Weihnachten und vom Warten auf den ersehnten Schnee. Nicht alles ist heile Welt, es gibt Streit, aber auch die Krankheit ihres heißgeliebten Onkels Øyvind, seinen Tod und die Trauer, die vor allem Ida, ihre Mutter und seinen Ehemann Onkel Bulle immer wieder unvermittelt überfällt. Nichts hilft dagegen so gut wie das Zusammensein im sicheren Hafen Familie und eine Umarmung. Zentral sind die Themen Geschwistersein und Größerwerden, mal von Ida ersehnt, mal bedauert:

Wo war denn der Witz am Großwerden, wenn dadurch nur alles, was groß und schön war, klein und blöd wurde? (S. 92)

Warmherzig, empathisch und humorvoll
Maria Parr, geboren 1981, gehört zu den erfolgreichsten und meistübersetzten Kinderbuchautorinnen Norwegens. Für Himbeereis am Fluss erhielt sie 2023 unter anderem zum dritten Mal den renommierten Bragepreis in der Kategorie Kinder- und Jugendliteratur.

Ich habe mich in dieses warmherzige, überhaupt nicht nostalgische Vorlesebuch regelrecht verliebt: wegen seiner glaubwürdigen kleinen Beobachterin Ida, wegen des unbekümmerten Oskars, der im Hintergrund sanft und empathisch lenkenden Eltern und der kinderlieben Onkel. Maria Parrs Sprache ist klar, voller Empathie und warmem Humor. Spaß machen auch die vielen kolorierten Tuschezeichnungen der Illustratorin Åshild Irgens, deren Gesichter Gefühle wie Freude, Trauer, Wut, Angst, Erstaunen, Scham oder Neid wunderbar widerspiegeln.

Himbeereis am Fluss ist ein hinreißendes Vorlesebuch, das Erwachsenen jeden Alters garantiert genau so viel Freude macht wie kleinen Zuhörerinnen und Zuhörern von etwa fünf oder sechs bis neun Jahren.

Maria Parr: Himbeereis am Fluss. Illustriert von Åshild Irgens. Aus dem Norwegischen von Christel Hildebrandt. Dressler 2024
www.oetinger.de/verlagsgruppe/dressler

Anne B. Ragde: Das Lügenhaus

  Im Schatten einer monumentalen Familienlüge

Kaputte Familien bieten Stoff für interessante Romane, aber so düster wie in der norwegischen Saga um die Familie Neshov ist die Fantasie der Autorinnen und Autoren trotzdem selten. Drei Brüder, die sich nichts zu sagen haben und unterschiedlicher kaum sein könnten, bilden die mittlere Generation: Tor, 55 Jahre alt, ein schweigsamer Schweinebauer auf dem im Verfall begriffenen Familienhof nahe Trondheim, Margido, 52 Jahre, erfolgreicher, aber spartanisch lebender Bestatter, der stets professionell-distanziert auftritt, und Erlend, 39 Jahre, extravaganter Schaufensterdekorateur, homosexuell, der seit seiner Flucht vor den Vorurteilen gegen ihn als „Männermann“  in Kopenhagen lebt. Margido war nach einem heftigen Streit mit seiner Mutter Anna vor sieben Jahren nicht mehr auf dem Hof, bei Erlend sind es schon 20 Jahre. Tor erlebte nur eine einzige Liebesnacht, dann vertrieb seine besitzergreifende Mutter seine schwangere Freundin. Mit seiner Tochter Torunn führt er seltene Telefonate und hat sie nur ein einziges Mal getroffen. Seine ganze Zuneigung gehört seinen Schweinen, obwohl sie kaum sein Auskommen sichern. Margido war stets Single und muss sich der Annäherungsversuche frisch verwitweter Kundinnen erwehren. Erlend hat zwar seit 12 Jahren einen festen Partner, leidet jedoch unter Verlustängsten, die er mit Luxus und Alkohol zu überdecken versucht. Torunn, Hundetrainerin in Oslo, hat ihren untreuen Partner vor einem halben Jahr verlassen.

Anne B. Ragde: Das Lügenhaus. © B. Busch. Cover: © Hörbuch Hamburg.

Keine Generation ist glücklich
Bei den Eltern der Brüder sieht es noch schlimmer aus. Sie leben zwar unter einem Dach, aber nur nebeneinander. Die 80-jährige Anna regiert, obwohl dem Haushalt nicht mehr ganz gewachsen, noch immer mit harter Hand über Hof, Sohn und Ehemann. Letzterer, der im Roman namenlos bleibt, vegetiert ungepflegt, nahezu unsichtbar, von Frau und Sohn verachtet vor sich hin.

Einziger Lichtblick scheint der Großvater gewesen zu sein, das Herz des Hofes, ein geselliger Optimist, für die Enkel da und immer in Bewegung. Seit seinem Tod vor 22 Jahren sind die Außenkontakte abgebrochen und das Leben auf dem Hof erstarrt.

Ein Todesfall als Initialzündung
Als Anna in der Woche vor Weihnachten einen Schlaganfall erleidet und kurz darauf im Krankenhaus stirbt, finden sich schlagartig alle auf dem Hof ein. Torunn und Erlend starten zu Tors Entsetzen eine Hausputzaktion und schließlich wird sogar der Weihnachtsabend mit einem gemeinsamen Festmahl begangen. Doch als der Vater, für alle überraschend, nach ungewohntem Alkoholgenuss das Wort ergreift, platzt eine weihnachtliche Bombe. Das Lügenhaus, das seine Schatten auf sämtliche Familienmitglieder warf, stürzt krachend ein.

Hörbuchfassung in perfekter Besetzung
Das Lügenhaus ist der erste von sechs Bänden über die Bauernfamilie Neshov, die zwischen 2007 und 2022 erschienen und die 1957 bei Trondheim geborene Anne B. Ragde zu einer der bekanntesten Autorinnen Norwegens machten. Ich habe mir die Geschichte auf vier CDs in 318 Minuten vorlesen lassen, leider gekürzt, aber mit den Sprecherinnen und Sprechern Ulrike Grote (Anna), Walter Kreye (Tor), Matthias Brandt (Margido), Gustav Peter Wöhler (Erlend) und Wiebke Puls (Torgunn) ebenso hochkarätig wie optimal passend besetzt. Zwar hat mich die Geschichte, die auch eine Hommage an die aussterbende Bauernschaft, Erinnerung an den Größenwahn der deutschen Besatzung und eine Auseinandersetzung mit Homosexualität und Homophobie ist, nicht sofort gepackt, aber je mehr die Figuren interagierten, desto dramatischer wurde es – bis zum umwerfenden Showdown. Unmöglich deshalb, nicht bald mit dem zweiten Band, Einsiedlerkrebse, fortzufahren.

Anne B. Ragde: Das Lügenhaus. Aus dem Norwegischen von Gabriele Hoefs. Gekürzte Lesung von Matthias Brandt, Ulrike Grote, Walter Kreye, Wiebke Puls und Gustav Peter Wöhler. Hörbuch Hamburg 2009
www.hoerbuch-hamburg.de

Tore Renberg: Die Lungenschwimmprobe

  Vorboten einer neuen Zeit

Tore Renberg: Lungeflyteprøven. Foto: © B. Busch. Cover: © Forlaget Oktober.

Während meiner Norwegen-Reise im Sommer 2024 stand ein Buch im Schaufenster nahezu jeder Buchhandlung: Lungeflyteprøven von Tore Renberg, erschienen 2023, geschmückt mit durchgängig sechs Punkten auf dem Wertungswürfel bedeutender Feuilletons und monatelang auf der nationalen Bestsellerliste. Nun ist der historische Roman des in Norwegen sehr bekannten Autors, der in Sachsen im ausgehenden 17. Jahrhundert spielt, von Karoline Hippe und Ina Kronenberger fein ausbalanciert zwischen Lesbarkeit und Barockflair auf Deutsch erschienen.

Die Carolina
1681: Das finstere Mittelalter ist vorbei, die Epoche des Hochbarocks jedoch kaum weniger grausam. Noch schmerzen die Wunden des 30-jährigen Kriegs und der Pest, die Macht liegt bei Adel und Klerus. Seit 1532 gilt die Constitutio Criminalis Carolina, das Straf- und Prozessrecht Kaiser Karls V.  Diese sieht für Kindsmörderinnen Tod durch lebendiges Begraben, Pfählen oder Ertränken vor, bei Fehlen des unabdingbaren Geständnisses die Folter.

„Verteidigung einer jungen Frau, die des Kindsmords bezichtigt wurde“
Der Untertitel erklärt, worum es in Tore Renbergs 700 Seiten umfassendem Roman geht, zu dem ein 46-seitiger Anhang online verfügbar ist. Im Oktober 1681 brachte die 15-jährige Gutsbesitzertochter Anna Voigt auf Gut Greitschütz am Westufer der Weißen Elster nahe Leipzig ein uneheliches Kind tot zur Welt, ohne dass sie oder ihre Eltern von der Schwangerschaft wussten. Angezeigt von Hausangestellten, die die von Annas Mutter vergrabene Säuglingsleiche fanden, kam der Fall zum Pegauer Amtmann, dem der nicht-adelige Gutsbesitzer und Parvenü Hans Heinrich Voigt schon lange nicht behagte.

Unter den nicht seltenen Fällen angeklagter Kindsmörderinnen sticht der Fall Anna Voigt vor allem aus drei Gründen hervor: Bei der Obduktion der Säuglingsleiche war der angesehene Stadtphysikus von Zeitz, Johannes Schreyer (1631 – 1694), zugegen, der mit dem später nach ihm benannten forensischen Verfahren der Lungenschwimmprobe nachwies, dass es sich um eine Totgeburt handelte:

Dass derselbe Tag auch den Beginn der modernen Gerichtsmedizin begründen würde, sollte Schreyer nie erfahren. (S. 60)

Außergewöhnlich war auch, dass Annas Vater die finanziellen Mittel und den Willen besaß, einen begabten, kämpferischen jungen Verteidiger zu beauftragen: Christian Thomasius (1655 – 1728). Dieser unbeugsame Rechtsgelehrte, Sohn des Leiters der Leipziger Thomasschule, der seine Heimatstadt später verlassen musste und Mitbegründer der juristischen Fakultät der Universität Halle wurde, scheute nie den gefährlichen Konflikt mit verbohrten Klerikern oder universitären Blockierern und war sofort von der Bedeutung der Lungenschwimmprobe elektrisiert:

Sobald ein Wissenschaftler mit frischen Gedanken Licht ins Dunkel brachte, kamen die Traditionalisten und verdunkelten wieder alles, sie riefen Ketzer und Atheist, insbesondere in Leipzig, das gerade erst mit Mühe und Not begonnen hatte, ein paar Lichtstrahlen hereinzulassen. (S. 125)

Die dritte Besonderheit war die jahrelange Dauer des für alle Beteiligten grauenvollen Verfahrens.

Tore Renberg: Die Lungenschwimmprobe. Alte Stadtansicht von Leipzig: Wikimedia commons, gemeinfrei. Fotos der Thomaskirche und des Alten Rathauses: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: Luchterhand.

Ein außergewöhnlicher Historienroman
Tore Renberg hat für seinen ersten historischen Roman fünfeinhalb Jahre lang umfassend recherchiert, oft vor Ort, unterstützt von Experten und Expertinnen verschiedener Disziplinen und weit über den eigentlichen Fall hinaus. Hauptquellen waren die umfangreichen Originalschriften von Johannes Schreyer und Christian Thomasius, ergänzt durch schriftstellerische Fantasie, die sich aus spürbar tiefem  Eintauchen in die Zeit und Empathie für die Hauptfiguren bis hin zur Leipziger Scharfrichterfamilie speist. Das Ergebnis hat mich begeistert. Die Lungenschwimmprobe nutzt die Geschichte nicht – wie gängige Historienschmöker – als Hintergrundkulisse für Liebesdramen, Ränkespiele und Heldenabenteuer. Vielmehr liest man ein detailreiches, lebendiges, multiperspektivisch erzähltes Gesellschaftspanorama, in dem sogar der Autor selbst über sein Schreiben berichtet.

Am Ende hat man auf ebenso unterhaltsame wie lehrreiche Weise viel über die Gerichtsbarkeit des 17. Jahrhunderts und die Vorboten der Aufklärung am konkreten Beispiel eines tragischen Frauenschicksals erfahren – mit durchaus aktuellen Bezügen zu Wissenschaftsskepsis und Faktenleugnung heute.

Tore Renberg: Die Lungenschwimmprobe. Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe und Ina Kronenberger. Luchterhand 2024
www.penguin.de

Francesca Melandri: Alle, außer mir

  Lebenslügen

Manchmal bedarf es eines äußeren Anstoßes, um einen lang gehegten Lektürewunsch endlich in die Tat umzusetzen. Bei Alle, außer mir der 1964 in Rom geborenen Autorin Francesca Melandri, 2017 in Italien erschienen und 2018 in Deutschland als Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels ausgezeichnet, war es eine vom Pen Berlin e.V. organisierte Diskussionsrunde mit der Autorin und ihren Kollegen Paolo Giordano und Antonio Scurati anlässlich des Gastlandauftritts Italiens auf der Frankfurter Buchmesse 2024.

Gastlandauftritt Italiens auf der FBM 2024 mit einer Veranstaltung des Pen Berlin e.V.: Birgit Schönau (Moderation), Francesca Melandri, Antonio Scurati und Paolo Giordano (von links). Fotos: © B. Busch.

Ein Paukenschlag zu Beginn
In der drückenden Augusthitze 2010 bereitet sich Rom auf den Besuch von Berlusconis Busenfreund Gaddafi vor. Als die Anfang 40-jährige Lehrerin Ilaria Profeti gestresst bei ihrer Wohnung im quirligen Multikultiviertel Esquilin ankommt, steht ein junger Afrikaner mit einem äthiopischen Pass auf den Namen Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti im Treppenhaus, über den Sudan, libysche Gefängnisse und das Mittelmeer nach Lampedusa gelangt und angeblich ihr Neffe. Ihren dementen Vater Attilio Profeti kann sie nicht mehr fragen, ob er während seiner kaum thematisierten Zeit in Ostafrika einen Sohn gezeugt hat. So macht sich Ilaria, die trotz ihrer linksliberalen Gesinnung heimlich mit einem  Abgeordneten der Berlusconi-Partei liiert ist, nur unterstützt von ihrem 12 Jahre jüngeren Halbbruder Attilio junior, selbst auf die Suche nach dem Familiengeheimnis. Schon einmal hat ihr Vater sie überrascht, als er der damals 16-Jährigen seine Zweitfamilie präsentierte. Ihre Recherchen führen weit in die allgemein verdrängte martialische italienische Kolonialgeschichte des 20. Jahrhunderts und den Rassismus der Mussolinizeit zurück, deren Folgen sich bis heute in der Flüchtlingskrise niederschlagen.

Der Patriarch
Attilio Profeti, geboren 1915 im Provinzstädtchen Lugo in der Romagna, war der verwöhnte Lieblingssohn einer vom Leben enttäuschten Mutter und eines Bahnbeamten. 1935 brach er sein Philosophiestudium ab und meldete sich freiwillig zu den Schwarzhemden nach Abessinien, um im völkerrechtswidrigen Angriffs- und Eroberungskrieg Mussolinis gegen das Kaiserreich Äthiopien zu kämpfen und anschließend dort ein Apartheitsregime zu etablieren. Obwohl er als Assistent des faschistischen Anthropologen Lidio Cipriani an dessen rassentheoretischer Ideologie mitwirkte, lebte er mit der Äthiopierin Abeba zusammen und zeugte einen Sohn, der nach Attilios fünfjährigem Ostafrika-Aufenthalt 1941 zur Welt kam.

Gewitzter Opportunist, skrupelloser Stratege, auf den eigenen Vorteil bedacht, charismatisch, arrogant, aber auch stets mit einer gehörigen Portion Glück gemäß seines Lebensmottos „Alle, außer mir“ beschenkt, überstand Attilio die Zeit in Afrika unbeschadet, machte anschließend Karriere in einem windigen Immobilienunternehmen und gründete zwei Familien. Doch auch bei ihm gibt es, neben der Liebe zu seinen Kindern, Grautöne: 1985 rettete er trickreich und beherzt seinen äthiopischen Sohn aus einem Gefängnis der Derg-Diktatur und verhalf seinem ehemaligen Kriegskameraden und dessen äthiopischer Familie zur Ausreise.

Francesca Melandri: Alle, außer mir. Foto & Collage: © B. Busch. Cover: © Argon.

Lange Schatten
Ich habe Alle, außer mir in ca. 19 Stunden als ungekürzte Lesung auf 3 MP3-CDs gehört, überzeugend vorgetragen von Gabriele Blum, die mit ihrer angenehmen Stimme gleichermaßen den tragischen wie auch den durchaus vorhandenen humorvollen Sequenzen gerecht wird. Es bedarf einiger Konzentration, um den Perspektiv- und Zeitwechseln sowie den Schicksalen der Haupt- und zahlreichen Nebenfiguren zu folgen, aber wer sie aufbringt, wird mit einer anschaulich-lehrreichen Erzählung belohnt. Francesca Melandri hat die koloniale und postkoloniale Geschichte gründlich recherchiert und schlägt dramaturgisch geschickt den Bogen zur heutigen Migrationswelle.

Ein ebenso wichtiger, wie angesichts des Rechtsrucks – nicht nur in Italien – bedrückender Roman, den man unbedingt lesen oder hören sollte.

Francesca Melandri: Alle, außer mir. Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Gelesen von Gabriele Blum. Argon 2018
www.argon-verlag.de

 

Weitere Rezensionen zu Büchern mit dem Prädikat „Lieblingsbuch der Unabhängigen“:

2015
2016
2017
2020
2022

 

 

 

 

Weitere Rezension zu einem Roman über die italienische Kolonialgeschichte:

Markus Thielemann: Von Norden rollt ein Donner

Hinter den Kulissen einer vermeintlichen Idylle

Kaum eine deutsche Landschaft ist so mit dem Begriff „Idylle“ verknüpft wie die Lüneburger Heide. Jedes Jahr bringt neue touristische Rekordzahlen, 2023 wurden knapp 6,1 Millionen Übernachtungen verzeichnet.

Der 19-jährige Nachwuchsschäfer Jannes Kohlmeyer, Protagonist im zweiten Roman von Markus Thielemann mit dem Titel Von Norden rollt ein Donner, scheint das Idyll geradezu idealtypisch zu verkörpern, wenn er mit dem Stecken in der Rechten zu Beginn inmitten seiner Herde von Heidschnucken in der Südheide steht. Das romantische Bild wird durch einen Donner jäh gestört, auf den jedoch kein Blitz folgt und weder Herde noch Hirte zusammenzucken, handelt es sich doch nicht um ein Naturphänomen, sondern um den üblichen Test von Panzermunition des Waffenherstellers Rheinmetall, neben der Bundeswehr mit ihren Truppenübungsplätzen der größte Arbeitgeber der Region.

Ein traditioneller Familienbetrieb
Drei Generationen leben auf dem Heidehof, wo die Hauptarbeit inzwischen von Jannes und seiner Mutter Sibylle geschultert wird. Großvater Wilhelm Volker, formal noch Eigentümer, ist seltener bei der Herde, seit seine verwirrte Frau Erika im Pflegeheim ist. Jannes ältere Schwester Janine lebt weit weg ein anderes Leben, bei Jannes Stiefvater Friedrich zeigen sich ebenfalls Vorboten einer Demenz.

Längst lebt die Familie mehr vom Tourismus und Fördergeldern als von ihren für den Erhalt der offenen Heidelandschaft so unentbehrlichen Tiere. Wortkarg sind die Menschen in der Heide, leidenschaftlich wird es im Gemeindesaal und in der Familie nur bei den Diskussionen um die Rückkehr der Wölfe und die Gleichgültigkeit von Politik wie Stadtbevölkerung. Gerne schalten sich hier die zugezogenen Neurechten ein, die das Wolfsthema für propagandistische Zwecke ausschlachten und die Stimmung anheizen. Ansonsten wird viel geschwiegen und verdrängt, besonders die jüngere Vergangenheit der geschichtsträchtigen Region. Doch deren lange Schatten fallen seit neuestem auf Jannes, der immer häufiger bei seinen einsamen Wanderungen mit der Herde von verstörenden Trugbildern, Visionen und Träumen heimgesucht wird:

Der Gedanke, dass es so etwas wie einen Sinn hinter alldem geben könnte, […], der Sache mit diesen Anfällen, seinen Träumen, seinem ganzen jämmerlichen Zustand, lindert seine Hoffnungslosigkeit. Es muss einen Grund geben, denkt er, eine Erklärung, ein Geheimnis. (S. 151)

Was hat es mit den scheinbar wirren Andeutungen seiner dementen Großmutter auf sich, was mit dem großväterlichen Heldenepos vom „Würger“?

Markus Thielemann: Von Norden rollt ein Donner. Hintergrundfoto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © C.H. Beck.

Ein vielversprechender neuer Autor
Markus Thielemann stand mit seinem Roman Von Norden rollt ein Donner auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2024, ein großer Erfolg für den 1992 geborenen Niedersachsen, der Literarisches Schreiben in Hildesheim studiert hat, und sicher eine der gelungenen Überraschungen dieses Preisjahres. Mit der Figur des Jannes hat er einen sehr eindrücklichen Protagonisten geschaffen, der, von seinen Freunden entfremdet, ohne Trennlinie zwischen Privatleben und Beruf inmitten seiner Familie einsam und mit viel zu früher Verantwortung für den Fortbestand des Hofes erwachsen werden muss. Bestechend ist auch die Wolfsmetapher für das Fremde und Bedrohliche. Markus Thielemann verknüpft einen bunten Strauß aktueller Themen, oft nur in Andeutungen und für mich zunehmend mit etwas zu viel düsterer Mystik beladen, aber dennoch rund, mit großem Sprachvermögen und äußerst atmosphärischen Naturbeschreibungen. Ein neuer Autor, den ich mir gerne merken werde.

Markus Thielemann: Von Norden rollt ein Donner. C.H. Beck 2024
www.chbeck.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2024:

Neige Sinno: Trauriger Tiger

  Lebenslang

Eine besonders gravierende Form von Traumatisierung erleidet, wer als Kind sexuelle Gewalt durch eine Bezugsperson erfährt. Obwohl jede Vergewaltigungsgeschichte einzigartig ist, ähneln sich die Folgen: Lebenslang drängen sich Erinnerungen auf, Heilung im Vergessen gibt es nicht.

Die heute in Mexiko lebende, 1977 in den französischen Alpen geborene und dort aufgewachsene Literaturwissenschaftlerin und Autorin Neige Sinno beschreibt es so:

Doch wohin auch immer ich ging, in welchem Augenblick auch immer – ich wandte mich um sah seinen Schatten. (S. 177)

Gestohlene Kindheit
Neige Sinno hat erlebt, worüber sie in ihrem 2023 in Frankreich erschienenen und vielfach ausgezeichneten autofiktionalen Memoir Trauriger Tiger schreibt, einem erzählenden Sachbuch in Ich-Form. Im Alter zwischen etwa sechs oder sieben und vierzehn Jahren wurde sie fortgesetzt von ihrem Stiefvater missbraucht, seiner Aussage nach nicht aus sexuellem Interesse, sondern aus Liebe und von ihr dazu getrieben, da er anders nicht mit dem widerspenstigen Kind nicht in Kontakt treten konnte. Erst als Studentin in den USA und aus Sorge um ihre jüngeren Halbgeschwister öffnete sie sich ihrer wohl tatsächlich ahnungslosen Mutter und gemeinsam erstatteten sie Anzeige. Im Gegensatz zu vielen anderen Betroffenen wurde ihr sofort geglaubt, zumal der Täter geständig war. Während er jedoch nach einigen Jahren das Gefängnis als freier Mann verlassen und mit einer jüngeren Frau eine zweite Familie gründen konnte, währt ihre Beschädigung fort:

Damaged for life. (S. 190)

Nicht schweigen
Trauriger Tiger ist nur zum kleineren Teil Tatsachenbericht und einen Missbrauch durch Voyeure halte ich damit glücklicherweise für nahezu ausgeschlossen. Vielmehr setzt sich Neige Sinno mit den Fragen nach dem Warum, Schuld, Strafe, Täterpsychologie, Folgen für die Überlebenden, dem juristischen, politischen und gesellschaftlichen Umgang damit früher und heute und – besonders ausführlich – mit der Verarbeitung in der Weltliteratur auseinander. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Frage nach der Motivation für das Buch, denn sie, die stets jegliche Therapie ablehnte, glaubt nicht an die Mär vom Schreiben als Therapie:

In Wahrheit geschieht das Gegenteil, das heißt, derjenige, der schreibt, zeichnet usw. ist de facto der Hölle bereits entkommen, nur deshalb kann er schreiben. (S. 94)

Neige Sinno: Trauriger Tiger. © B. Busch. Cover: © dtv.

Für Neige Sinno stehen Wahrheitssuche und der Bruch des Schweigens im Vordergrund, jedoch weder mit Hilfe eines rührseligen Opferbuchs noch in Form von Literatur, sondern als Lebensbericht, wozu die unspektakuläre, emotionsarme und bisweilen brutale Sprache passt.

Kein Happy End, aber ein kleiner Triumph
Es war mir nicht immer möglich, den Gedankengängen einer Betroffenen zu folgen, die sich seit Jahrzehnten intensiv mit dem Thema Missbrauch aus allen erdenklichen Blickrichtungen beschäftigt. Über manche Absätze und sich wiederholende Gedankenkreisel habe ich deshalb hinweggelesen und trotzdem aus dem sehr eindrücklichen Rest enorm viele Informationen und Denkanstöße mitgenommen. Nicht immer glücklich war ich mit der gewiss schwierigen Übersetzung: Eine Wendung wie „Er ließ sich einfach sterben.“ (S. 70) existiert im Deutschen nicht und ist missverständlich. Bei der Übertragung der abgedruckten Zeitungsartikel störten mich inhaltliche Ungenauigkeiten wie beispielsweise „son object sexuel“, das zu „ein Sexualobjekt“ (S. 85) wird – ein kleiner, aber nicht unbedeutender Unterschied.

Ein Happy End für die Überlebenden kann es nicht geben, aber dass Neige Sinno mit bewundernswerter Resilienz den Kopf knapp über Wasser hält, wie die Schwimmerin auf dem Cover, ist dennoch ein kleiner Triumph:

Stolpern, das schon, aber, noch einmal, nicht fallen. Nicht fallen. Nicht fallen. (Schlusssätze S. 296)

Neige Sinno: Trauriger Tiger. Aus dem Französischen von Michaela Meßner. dtv 2024
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