Übergangslos schließt Einsiedlerkrebse, der zweite Teil der norwegischen Familiensaga über die Bauernfamilie Neshov, an Teil eins, Das Lügenhaus, an. Sofort ist man wieder mittendrin in der düsteren Atmosphäre von Traurigkeit und Verfall rund um den Hof Byneset nahe Trondheim bei den drei diametral unterschiedlichen Brüdern. Nachdem beim Tod ihrer Mutter, zu dem sie erstmals nach langer Zeit wieder zusammenkamen, die große Familienlüge platzte, müssen sie sich nun mit der neuen Wahrheit zurechtfinden. Kurzzeitig besteht Hoffnung, dass die Enthüllung die Familie wieder enger zusammenführt, aber zunächst kehren alle in ihr altes Leben zurück. Der bodenständige älteste Bruder Tor führt den Familienhof mehr aus Verpflichtung denn aus Freude, aber mit großer Liebe zu seinen wenig rentablen Schweinen weiter. Margido, der mittlere, geht in seinem erfolgreichen Bestattungsunternehmen auf und Erlend, der jüngste, lebt in Kopenhagen mit seinem Partner Krumme ein verschwenderisches Luxusleben und dekoriert opulente Schaufester. Torunn, die uneheliche Tochter von Tor, fährt zurück nach Oslo, wo sie sich eine Existenz als Tierarzthelferin und Hundetrainerin aufgebaut hat.
Eine unbemerkte Tragödie Alle sind so mit sich und ihren eigenen Problemen beschäftigt, dass niemand etwas von der Tragödie bemerkt, die sich auf dem defizitären, von Ratten heimgesuchten Hof und beim verbitterten Tor anbahnt. Tor selbst kann keine Schwäche zugeben und schweigt. Der strenggläubige und spartanisch lebende Margido lässt sich mit über 50 zu seinem eigenen Entsetzen in der Silvesternacht von einer Witwe, deren Rotwein und Champagner verführen. Fassungslos steht er dieser Fehlleitung durch Satan und seiner vermeintlichen Schuld vor Gott gegenüber. Die 37-jährige Torunn erlebt nach kurzer Schockverliebtheit zum wiederholten Mal ein Fiasko, muss sich ihre jammernde Mutter vom Hals halten und soll außerdem, vom Vater gedrängt, eine Entscheidung bezüglich ihrer möglichen Zukunft auf dem Hof treffen. Der 39-jährige Erlend und Krumme wiederum, die einzig einigermaßen glücklichen und wohlhabenden Familienmitglieder, machen eine Beziehungskrise durch, an deren Ende sie die Weichen für die Zukunft neu stellen. Jeder von ihnen hat eigene Überlegungen bezüglich des Hofs, aber bevor es dazu kommt, eskaliert es dort.
Eine perfekt besetzte Hörbuchfassung Wie schon Das Lügenhaus habe ich mir auch Einsiedlerkrebse vom hervorragenden Sprecherquartett Walter Kreye (Tor), Matthias Brandt (Margido), Gustav Peter Wöhler (Erlend) und Wiebke Puls (Torunn) vorlesen lassen und bedauere nur, dass auch dieser Teil auf 5 CDs mit 393 Minuten und 92 Tracks gekürzt war. Mit ihrer Mischung aus schrägen Charakteren, überraschenden Wendung, Düsternis, Missverständnissen, mangelnder Kommunikation, humorvollen Anklängen und nachdenklichen Passagen über die völlig unterschiedlichen, betont klischeebehaftet dargestellten Lebenswelten hat mich die 1957 bei Trondheim geborene Autorin Anne B. Ragde erneut gut unterhalten und immer wieder überrascht.
Teil drei, Hitzewelle, der zunächst als Trilogie geplanten, inzwischen sechs Bände umfassenden Reihe, liegt glücklicherweise schon bereit. Der unerhörte Cliffhanger am Ende von Einsiedlerkrebse muss schleunigst aufgelöst werden.
Anne B. Ragde: Einsiedlerkrebse. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Gekürzte Lesung von Matthias Brandt, Walter Kreye, Wiebke Puls und Gustav Peter Wöhler. Hörbuch Hamburg 2010 www.hoerbuch-hamburg.de
Weitere Rezension zu einem Hörbuch der Neshov-Reihe von Anne B. Ragde auf diesem Blog:
In einer erdnahen Umlaufbahn von 400 Kilometer Höhe umkreisen zwei Astronauten aus Italien und den USA, zwei Astronautinnen aus Großbritannien und Japan und zwei russische Kosmonauten in einem internationalen Raumschiff mit 28.000 Kilometer pro Stunde die Erde. Obwohl die Zeitmessung hier willkürlich ist, leben sie nach dem 24-Stunden-Rhythmus. Ein Tag bedeutet 16 Erdumrundungen mit 16 Sonnenauf- und Sonnenuntergängen und allen vier Jahreszeiten. Während eines solchen Tages spielt der Roman Umlaufbahnen, mit dem die 1975 geborene Britin Samantha Harvey 2024 den wichtigsten Literaturpreis ihres Landes, den Booker Prize, gewann.
Unendliches Staunen „Wie Trommelfeuer“ bricht alle 90 Minuten der Tag über die Crew herein. Ihr Leben an Bord ist minutiös durchgeplant und fremdbestimmt, neben muskelerhaltendem Krafttraining, Mahlzeiten, Hygiene, Laborarbeit, Dokumentation und sieben Stunden Schlaf gibt es kaum Freizeit, dafür sensationelle Ausblicke sowie Raum für immer neues Staunen und eigene Gedanken:
Brutal ist das Leben hier, unmenschlich, überwältigend, einsam, außergewöhnlich und großartig. Nicht eine einzige Sache ist angenehm. (S. 33)
Bedrohte Schönheit So unterschiedlich ihre Herkunft, Vergangenheit, Sorgen und Träume sind, bilden sie doch auf Zeit eine „fliegende Familie“ und sind „Hände“, „Seele“, „Bewusstsein“, „Atem“, „Verstand“ und „Herz“ einer atemberaubenden Unternehmung. Sie unterlaufen die behördlichen Vorgaben, die ihnen im All, von wo aus keine Grenzen, Mauern oder Schranken auf der Erde zu erkennen sind, getrennte Toiletten für Russen und Nicht-Russen zuweisen. Wissentlich nehmen sie die gesundheitlichen Folgen ihres dreimonatigen Dauerloopings im All in Kauf und sind nicht weniger Versuchsobjekte als die mitreisenden Labormäuse. Freiheit oder Privatsphäre gibt es nicht, sie müssen mit der Trennung von ihren Familien zurechtkommen und werden, trotz regelmäßiger Kontakte, „als Fremde zurückkehren“. Ihr Lohn ist der Perspektivwechsel durch den Blick von oben auf die Erde, der zugleich unfassbare Schönheit und beängstigende Fragilität offenbart:
Wenn sie nach unten blicken beginnen sie, die Politik des Wachstums und Erwerbs zu sehen, eine millionenfache Potenz des Verlangens nach mehr. Und sie müssen nicht einmal nach unten blicken, denn sie selbst sind Teil dieser Rechnung, mehr noch als alle anderen – in ihrer Rakete, deren Antrieb beim Start so viel Benzin wie Millionen Autos verbrennt. (S. 124)
Eine verdiente Booker-Prize-Trägerin Umlaufbahnen ist ein schmaler Roman von größter Originalität und trotz seiner Handlungsarmut gleichermaßen faszinierend und fesselnd. Die Kapiteleinteilung folgt den 16 Umlaufbahnen eines Tages, in dessen Verlauf sich auf der Erde ein verheerender Taifun entwickelt, eine Mondmission das Raumschiff überholt und ein minimaler Riss in einem der in die Jahre gekommenen Module geringfügig wächst. Einerseits schildert Samantha Harvey in ihrem fünften Buch die Abläufe und Erfahrungen an Bord so genau, dass die Lektüre bei mir, die ich mich bisher kaum für Raumfahrt interessierte, einen großen Wissenszuwachs brachte. Andererseits ist der Roman ein großartig bildhafter, sehr rhythmischer Text aus dem Genre Nature Writing in ausgezeichneter Übersetzung von Julia Wolf, dessen Höhepunkt für mich die unvergleichliche Beschreibung eines Polarlichts war. Nicht zuletzt sind Samantha Harveys Überlegungen zu den großen Themen der Menschheit und zur existenziellen Bedrohung durch den menschengemachten Klimawandel klar, aufrüttelnd und nie plump, denn für die Crew wie auch für gesamte Menschheit gilt:
Ohne die Erde sind wir alle erledigt. (S. 19)
Ein großartiges Lese-Highlight gleich am Jahresbeginn 2025, poetisch und erschütternd, aber trotzdem nicht entmutigend.
Samantha Harvey: Umlaufbahnen. Aus dem Englischen von Julia Wolf. dtv 2024 www.dtv.de
Rezensionen zu Romanen, die mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurden, auf diesem Blog:
Ein Erinnerungsbuch für den vom IS ermordeten Sohn
Am 19. August 2014 ermordeten IS-Terroristen in der syrischen Wüste den US-amerikanischen Journalisten James W. Foley, der seit November 2012 ihre Geisel war. Das schockierende Video von seiner Enthauptung stellten sie ins Netz:
Die Welt reagierte mit fassungslosem Entsetzen oder brach beim Anblick einer verwundeten Weltmacht in Jubel aus. (S. 65)
Seine Mutter, Diane Foley, beschreibt in ihrem gemeinsam mit dem Autor Colum McCann verfassten Erinnerungsbuch ihre Gefühle so:
Der seelische Schmerz lässt sich nur metaphorisch beschreiben. Ich war erschlagen, mein Herz in tausend Stücke gerissen. (S. 57)
Ganz nah dran
James W. Foley, geboren 1973, kam aus einer typisch amerikanischen Mittelschichtfamilie. Er wuchs zusammen mit vier jüngeren Geschwistern behütet in einer sehr katholisch geprägten Familie in New Hampshire auf. Im Gegensatz zu seinen Geschwistern suchte er lange nach seiner Berufung und fand sie schließlich zunächst als angestellter, später freier Kriegsberichterstatter im Irak, in Afghanistan, während des arabischen Frühlings in Libyen und schließlich in Syrien:
Seine Devise lautete: «Früher da sein, länger bleiben, dichter rangehen.» (S. 129)
Für seine Suche nach Wahrheit und sein Bestreben, allen eine Stimme zu geben, ging er bewusst ein extrem hohes Risiko ein. Obwohl er bereits 2011 in Libyen eine sechswöchige Entführung durch Regierungstruppen erlebte, brach er nur wenige Monate später ins noch gefährlichere Syrien auf.
Ein Buch in drei Teilen Diane Foley widmet den mittleren und Hauptteil ihres Buches American Mother, den der Autor Colum McCann in der Ich-Form aufgeschrieben hat, einerseits dem Andenken ihres Sohnes, um den schrecklichen Enthauptungsbildern etwas entgegenzusetzen. Sie schildert dessen Werdegang, seine Motive und seinen, wie sie sagt, moralisch begründeten Mut. Dass diese Beschreibungen oft heldenhaft überhöht erscheinen, kann man der Mutter nachsehen. Andererseits schildert sie, was sie in den Monaten der Entführung erlebte: gelbe Erinnerungsbändern an den Bäumen ihrer Straße, aber ein Wegducken der Obama-Regierung, die Verweigerung von Verhandlungen, wie europäische Regierungen sie erfolgreich für ihre Entführungsopfer führten, und Strafandrohungen, sollte die Familie selbst mit den Entführern in Kontakt treten:
Wir hielten an Grundsätzen fest, nicht an Menschen. (S. 179)
Ab dem Frühjahr 2013, nachdem sie ihre Stelle als Krankenschwester gekündigt hatte, kämpfte Diane Foley öffentlich für einen anderen Umgang mit US-amerikanischen Geiseln im Ausland, ohne Erfolg. Erst mit der Gründung einer Stiftung nach James‘ Tod, in der sie bis heute arbeitet, konnte sie Verbesserungen für Entführungsopfer und ihre Angehörigen, vor allem aber geregelte politische Zuständigkeiten erreichen.
Im ersten und dritten Teil des Buches schreibt Colum McCann über drei Treffen zwischen Diane Foley und einem der Mörder ihres Sohnes, Alexanda Kotey, einem zum Islam konvertierten Ex-Briten. Sie fanden nach dessen Verhaftung, Auslieferung und seinem Deal mit der Staatsanwaltschaft Ende 2021 und im Juni 2022 gegen den Rat ihrer Familie und Freunde und ohne, dass sie den genauen Grund dafür angeben kann, statt. Neben ihrer religiösen Überzeugung und dem Wunsch, dem Hass etwas entgegenzusetzen, war wohl ihre Überzeugung, damit den Absichten ihres Sohnes ganz nahe zu kommen, Triebfedern dafür.
American Mother ist ein durch und durch amerikanisches Buch, ganz wie der zu recht vom englischen Original übernommene Titel. Es enthält keine tiefergehende politische Reflexion, verzichtet auf Außenperspektive und ist ganz Erinnerungsbuch. Diane Foleys Kraft und Energie, die sie aus der Familie schöpft, haben mir imponiert, ebenso wie ihr Glaube. Ihr unreflektierter Patriotismus und ihre tief religiöse Weltsicht ohne jeden Schatten eines Zweifels waren mir dagegen entschieden zu dick aufgetragen.
Colum McCann mit Diane Foley: American Mother. Aus dem Englischen von Volker Oldenburg. Rowohlt 2025 www.rowohlt.de
Das Lesen nimmt so gut wie das Reisen die Einseitigkeit aus dem Kopfe. (Jean Paul)
14 Bücher sowie ein Hörbuch aus 14 Verlagen und unterschiedlichen Genres haben es auf meine persönliche Hitliste 2024 geschafft. Es sind Titel, die mich im Laufe des Jahres am nachhaltigsten beschäftigt haben und die zu Freunden wurden, weil sie mir die Welt nähergebracht und die Einseitigkeit in meinem Kopf verringert haben. Wie immer ist mein Kriterium nicht, dass die Bücher sich bereits über lange Zeit als Klassiker bewährt haben, oder die Überzeugung, dass sie auch in hundert Jahren noch gelesen werden. Es ist eine subjektive Auswahl von Werken, denen ich im für mich genau richtigen Augenblick begegnet bin. Sie alle haben nun einen Ehrenplatz in meinem Bücherregal.
Zwei Ideen konnte ich 2024 auf meinem Blog neu umsetzen. Zum einen gibt es nun die Rubrik Literatur in Bildern, in der ich alle meine Fotos zu Autorinnen, Autoren und literarischen Orte unterbringen kann. Zum anderen habe ich begonnen, Übersetzerinnen und demnächst auch Übersetzer zu interviewen. Bei einem Gespräch mit der Hoem-Übersetzerin Antje Subey-Cramer im November 2023 wurde mir bewusst, wieviel Interessantes sie zu erzählen haben. Meine ersten beiden Interviews sind 2024 entstanden, weitere sind in Planung:
Neben dem Lesen, einer eindrucksreichen Frankfurter Buchmesse im Herbst 2024 und einer fantastischen Norwegenreise im Sommer 2024 werden mir von diesem Jahr drei Begegnungen mit einer Autorin und zwei Autoren im Gedächtnis bleiben: Im Januar war Iris Wolff im Stuttgarter Literaturhaus mit ihrem Roman Lichtungen zu Gast, an gleicher Stelle habe ich im Juni Didier Eribon mit Eine Arbeiterin erlebt. Nachdem ich im Herbst 2023 für ein musikalische Lesung mit Edvard Hoem eigens nach Hamburg gereist war, konnte ich ihn im April 2024 erneut bei einer großartigen Lesung zu Der Geigenbauer und Die Geschichte von Mutter und Vater in Bellheim bei Karlsruhe erleben.
Als in Großbritannien 2001 die gefürchtete Maul- und Klauenseuche ausbrach, entschied die Blair-Regierung gegen den Widerstand der Bauernverbände, mehrere Millionen Nutztiere zu töten und zu verbrennen. Besonders betroffen waren die Landwirtschaft und der Tourismus in der Grafschaft Cumbria im Nordwesten des Landes, in der sich der Lake District Nationalpark befindet.
Leben in den Fells Bei den Schafbauern der kargen, ärmlichen Fells von Cumbria spielt der Debütroman Über dem Tal von Scott Preston, der im Lake District aufwuchs. Sein 2001 knapp 40-jähriger Ich-Erzähler Steve Elliman, Sohn eines Schafbauern mit kleiner Herdwick-Herde auf gepachtetem Grund, erzählt gut 30 Jahre später rückblickend:
Wir züchten unsere Herden auf den Felshängen und bringen den Schafen bei, sie ratzekahl zu fressen – hat fünftausend Jahre gedauert, aber sie haben es geschafft. Hinterließen nichts als nackten Stein, nass und schwarz, und lernten das Moos lieben. (S. 6)
Als Steve, ein LKW-Fahrer, nach einem Anruf seines Vaters heimkehrt, erlebt er das Inferno hautnah:
War mir nicht sicher, ob ich je wieder ein Schaf sehen konnte, ohne mir vorzustellen, dass Blut aus einem Loch im Schädel rann. (S. 26/27)
William Herne, Nachbar der Ellimans in sechs Kilometer Entfernung mit 1000 Schafen auf eigenem Grund scheitert beim Versuch, einen Teil seiner Herde zu verstecken.
Wieder verlässt Steve seine Heimat, kehrt jedoch nach dem Tod seines Vaters erneut zurück, heuert bei William und seiner neu aufgezüchteten Herde ohne Lohn und Vertrag an, lebt bei ihm, seiner Frau Helen und dem Sohn Danny und folgt ihm bedingungslos.
Von Schafbauern zu Schwerkriminellen Leider ändert der Roman nach diesem zwar blutigen, aber fulminant-fesselnden Auftakt das Genre hin zur gewalttätigen Gangster- und Wildwest-Geschichte. Nachdem sich William und mit ihm Steve auf Schwerkriminelle einlassen, jagt eine Actionszene die nächste. William wird die Geister, die er rief, nicht mehr los, entpuppt sich jedoch als ebenbürtig. Zwar beherrscht der Autor die vielen rasanten Abschnitte ebenso virtuos wie die getragenen, aber die Motive für die Verwandlung aller zu skrupellosen Verbrechern waren mir zu vage. Die explizit geschilderte Brutalität und Verrohung sowohl anderen gegenüber als auch insbesondere untereinander konnte ich kaum nachvollziehen und der Fortgang hat mich immer weniger berührt.
Auch wenn die Gangart im letzten Teil wieder ruhiger wird und mit dem Auftauchen eines weit über 20 Jahren alten Schafs sogar einen mystischen Anstrich bekommt, stellte sich meine anfängliche Begeisterung nicht mehr ein.
Schaf in Flammen gegen landschaftliche Idylle Vergleicht man das englische Originalcover mit dem der deutschen Ausgabe, scheinen sie für völlig unterschiedliche Romane entworfen. Sicher hätte ich nicht nach der englischen Ausgabe mit dem Schaf in Flammen gegriffen, allerdings passt es inhaltlich besser als das wunderschöne, idyllische Landschaftsbild der deutschen Fassung, auch wenn Scott Preston die Region Cumbria und das Leben der Schafbauern beeindruckend atmosphärisch beschreibt. Die minimalistischen Sätze und Dialoge, mit denen der schwer durchschaubare Steve Williams Geschichte und damit auch seine eigene erzählt, passen sehr gut zur rauen Umgebung, den einsilbigen Menschen und dem kargen Leben. Viele Szenen und zunächst unbedeutende Details erklären sich erst im Nachhinein.
Trotz aller sprachlicher und struktureller Stärken hatte der Roman für mich im Plot und in der Darstellung der Entwicklung seiner durchweg abstoßenden Figuren deutliche Schwächen. Leider trübte auch die Vielzahl brutaler, viel zu ausführlicher Actionszenen, so gekonnt und kinoreif sie auch geschrieben sein mögen, mein Lesevergnügen.
Scott Preston: Über dem Tal. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. S. Fischer 2024 www.fischerverlage.de
Eine von zehn Frauen in Norwegen teilt das Schicksal von Liv, der Protagonistin im Roman Macht der 1985 geborenen norwegischen Autorin Heidi Furre: Sie werden Opfer eines „Vorfalls“, einer Vergewaltigung. Wenige Taten landen vor Gericht, wenige davon enden mit einem Schuldspruch.
Auch Liv hat nach der verhängnisvollen Nacht zwar eine Notfallambulanz aufgesucht, die Tat aber nicht angezeigt. War das richtig? Anders als geplant, lässt sich die Erinnerung nicht wegdrücken und kommt auch 15 Jahre danach in Form von Flashbacks zurück, davor schützt auch die perfekte Fassade aus Ehemann, Kindern, Haus und Arbeitsplatz im Pflegeheim nicht. Zahnarztbesuche, Vorsorgeuntersuchungen oder der nächtliche Heimweg kosten sie größte Anstrengungen. Zur besonderen Herausforderung wird der Umgang mit einem Angehörigen einer Patientin, der wegen sexuellen Missbrauchs angeklagt war und freigesprochen wurde.
Macht und Scham Ganz im Sinne der MeToo-Bewegung geht es der Autorin nicht um den Täter oder gar um Details der Vergewaltigung, und das ist gut. Stattdessen stehen Livs Leben und die Langzeitfolgen im Zentrum. Neben den Thema Macht, Machtverlust und Zurückeroberung der Macht geht es auch um Scham – Scham darüber, Opfer geworden zu sein, freiwillig mit ihrem Date nach Hause gegangen zu sein und sich vielleicht nicht genug gewehrt zu haben. Anders als das französische Vergewaltigungsopfer Gisèle Pelicot, die im hundertfachen Vergewaltigungsprozess von Avignon sämtliches schockierende Beweismaterial öffentlich zeigen ließ, damit die Scham die Seiten wechseln sollte, verheimlicht Liv die Vergewaltigung sogar ihrem Mann Terje.
Ein ungeordneter Gedankenstrom Größtes Plus dieses Romans ist einerseits, dass Heidi Furre dem Opfer eines noch immer gerne verschwiegenen Themas eine Bühne gibt. Andererseits sind es die unzähligen äußerst prägnant formulierten, von Karoline Hippe klar übersetzten Sätze, die inmitten der eher langweiligen Alltagsschilderungen herausragen:
Der Vorfall war wie ein Komet. Er umkreiste mich in unregelmäßigen Flugbahnen. (S. 30)
Ich wurde von einem Werwolf gebissen. Es ist irreversibel, der Biss geht nicht weg, egal was ich tue. (S. 54)
Es ist eine Wunde, die ständig neue Formen annimmt, und bei jedem Kontrollverlust wieder aufreißt. (S. 167)
Auch die Hochglanz-Covergestaltung und die Abbildungen im Vor- und Nachsatz von Niki de Saint Phalle, ebenfalls Vergewaltigungsopfer und im Text präsent, sind überaus passend und gelungen. Allerdings spiegelt der ungeordnete Gedankenstrom zwar Livs innere Zerrissenheit, aber die im Klappentext versprochene „Schlagkraft“ hat der Text für mich leider trotzdem nicht versprüht. Eine Entwicklung der Protagonistin ist kaum wahrnehmbar, auch wenn sie sich endlich ihrer Freundin Frances und Terje öffnet, und das Ende war mir zu abrupt und zu vage. Statt einer Therapie flüchtet Liv in Pillen, bisweilen Alkohol, exzessives Shoppen und eine extreme Fixierung auf ihr Äußeres, ohne dass es ihrem Mann aufzufallen scheint. Für ihre kleinen Kinder fürchtet Liv, dass sie ihr Trauma weitergeben und keine gute Mutter sein könnte, aber Zeit scheint sie kaum mit ihnen zu verbringen.
Auf Abstand
Macht ist ein Roman über den Umgang mit einem Trauma und zeigt die inneren Kämpfe, die Scham, die Zweifel und den nicht nachlassenden Schmerz einer Betroffenen. Leider hält die Protagonistin jedoch nicht nur ihr Umfeld, sondern auch uns Leserinnen und Leser so stark auf Abstand, dass mich das Buch, obwohl ich es mir aufgrund des Themas gewünscht hätte, nur teilweise erreichte.
Heidi Furre: Macht. Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe. DuMont 2023 www.dumont-buchverlag.de
Beim ersten Schulbeginn nach dem Krieg treffen im Herbst 1945 zwei Entwurzelte im piemontesischen Dorf Borgo di Dentro aufeinander, die beide nicht dorthin gehören. Die 22-jährige Lehrerin Gilla ist vor knapp drei Jahren vor dem Bombenhagel aus Genua geflohen. Längst hätte sie zu ihren Eltern zurückkehren können, aber die Erinnerung an den Verlust ihrer große Liebe Michele, der wie sie für die Partisanen kämpfte, hält sie zurück. Eine Schülerin ihrer neuen Grundschulabschlussklasse ist die begabte 10-jährige Francesca Pellegrini aus dem nahen Waisenhaus. Sie spricht nicht und niemand kann Gilla sagen, wie und woher sie im Januar 1945 nach Borgo di Dentro kam.
Drei zerbrochene Universen Gilla wie Francesca tragen schwer an ihrer Vergangenheit und erkennen sich in ihrem Leid und in ihrer Verlorenheit. Beide haben Überlebensstrategien entwickelt. Gilla versucht, in der Schule wieder Normalität im Leben ihrer Schülerinnen herzustellen. Hingebungsvoll repariert die Uhrmachertochter in ihrer Freizeit ein defektes mechanisches Planetarium, ein weiteres zerbrochenes Universum. Hände und Kopf sind beschäftigt, wenn sie bastelt und Unterrichtsstunden zu den Planeten plant. Francesca dagegen kümmert sich aufopfernd um ein Kätzchen, das sie im Waisenhaus versteckt hält. Nur mit ihm kann sie reden. Gilla, die nicht an Francescas Stummheit glaubt, will behutsam das Geheimnis des Kindes ergründen und ihm mit Ruhe, Geduld, Verständnis, aber auch Trickreichtum helfen – genauso wie sich selbst.
Große Geschichte heruntergebrochen Die Sterne ordnen ist nicht einfach irgendein weiteres Buch über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Vielmehr erzählt die 1971 geborene italienische Autorin und Lehrerin Raffaela Romagnolo auf ganz besondere Art von kleinen Lebensschicksalen, die eng mit der großen Geschichte verwebt sind. Dazu kehrt sie in das fiktive Dorf Borgo di Dentro zurück, in dem bereits ihr Roman Bella Ciao spielte, ebenfalls vorzüglich übersetzt von Maja Pflug, der 2019 zu meinen absoluten Lieblingsbüchern gehörte. In beiden Romanen wird Geschichte lebendig, geht es um starke, durch äußere Verheerungen beschädigte Frauen, die man nicht wieder vergisst.
„Gegenwart“ und Vergangenheit Eingebettet in die drei Trimester des Schuljahres 1945/46, der „Gegenwart“ der Handlung, blendet der Roman abschnittsweise zurück in die Zeit zwischen Mai 1938und Sommer 1945, von der aus vielen verschiedenen Blickwinkeln erzählt wird. Es sind die Geschichten der gutbürgerlichen jüdischen Familie Sacerdoti aus Casale Monferrato, dem Geburtsort der Autorin, und von Gillas Familie. Kurze Auszüge aus faschistischen Erlassen und Zeitungsschlagzeilen liefern die Fakten.
Bei allem Schmerz gibt es am Ende, als alle ihre Abschlussprüfung bestanden haben, Hoffnung auf einen Neuanfang:
Unter dem knisternden Papier nimmt Gilla noch immer das Kriegserassel wahr, aber es ist ein fernes Rumoren. Zur Verteidigung gibt es ein Heer von großen und kleinen Buchstaben, Schreibschrift und Druckschrift, A wie Alphabet, G wie Gatto, L wie Luna. (S. 438)
Mit Die Sterne ordnen, 2024 in Italien einer von 12 für den Premio Strega nominierten Titeln, ist Raffaela Romagnolo endgültig zu einer Lieblingsautorin für mich geworden. Ihre historischen Romane sind atmosphärisch stimmig, hervorragend recherchiert, geschickt aufgebaut und ebenso fesselnd wie empathisch erzählt.
Raffaela Romagnolo: Die Sterne ordnen. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Diogenes 2024 www.diogenes.ch
Weitere Rezensionen zu Büchern von Raffaela Romagnolo auf diesem Blog:
Amelie Thoma studierte Romanistik und Kulturwissenschaften in Berlin und arbeitete zunächst als Lektorin. Seit 2017 ist sie als freie Übersetzerin aus dem Französischen und Italienischen für verschiedene Verlage tätig.
Mir ist Amelie Thoma erstmals als Übersetzerin von Leїla Slimani begegnet, deren Bücher ich stets mit großer Vorfreude erwarte. 2023 hat mich Amelie Thoma mit ihrer Begeisterung für die in Deutschland kaum bekannte provenzalische Schriftstellerin Maria Borrély (1890 – 1963) angesteckt, deren außergewöhnliche kleine Romane sie zufällig in ihrem langjährigen Urlaubsort Puimoisson im Département Alpes-de-Haute-Provence entdeckt hatte. In ihrer Neuübersetzung erschienen inzwischen im Kanon Verlag „Mistral“ (2023) und „Das letzte Feuer“ (2024). Zuletzt habe ich mit großer Freude den von ihr übersetzten Roman „Von dem, der bleibt“ (2024) des Italieners Matteo B. Bianchi gelesen.
Neben ihrer Arbeit als Übersetzerin ist Amelie Thoma auch als Moderatorin von Literaturveranstaltungen tätig.
Liebe Frau Thoma, wie kam es zu Ihrer Entdeckung der Schriftstellerin Maria Borrély und wie schwierig war es, einen Verlag für diese Autorin finden?
Ich habe das Buch zufällig in einer Bar im Ort entdeckt, in die wir hauptsächlich deshalb gingen, weil es dort W-lan gab. Der kulturinteressierte Wirt hatte eine Vitrine mit einigen Büchern eines kleinen regionalen Verlags aufgestellt, die mich natürlich sofort anzog. Hinter dem schlichten Taschenbuch erwartete ich bestenfalls eine nette, pittoreske Erzählung, deren Reiz vor allem darin bestand, dass sie in diesem Ort spielte. Stattdessen wurde ich von dem wundervollen, literarischen Text und der interessanten Geschichte seiner Autorin überrascht. Gunnar Cynybulk, der Kanon-Verleger, ließ sich erfreulicherweise sofort von meiner Begeisterung mitreißen und nahm die Autorin in sein kleines, erlesenes Programm auf.
Was ist für Sie das Besondere am Werk von Maria Borrély und wo liegen die besonderen Herausforderungen bei der Übertragung Romane ins Deutsche?
Das Besondere am Werk von Maria Borrély ist für mich die Sprache, in der sich ihre ganze Liebe für die Natur und die Menschen ausdrückt. Sie ist zugleich bäuerlich und poetisch, archaisch und modern, an manchen Stellen äußerst bildlich, dann wieder ganz knapp und trocken. Die Handlung lässt sich in drei Sätzen zusammenfassen, seine ganze Wirkung entfaltet der Text dank Maria Borrélys Schreibstil. Hinzu kommt, dass der Text durch die sparsame Erzählweise, die nicht viel Kontext liefert, und das zum Teil altmodische und ans Landleben geknüpfte Vokabular selbst für heutige französische Muttersprachler nicht immer leicht zu verstehen ist. Als ich das Original zum ersten Mal las, habe ich es daher mehr gefühlt als verstanden. Die Herausforderung war also, mir zunächst einmal den Inhalt zu erschließen, und ihn dann so ins Deutsche zu übertragen, dass er dort denselben Zauber entfaltet wie das französische Original.
Sie übersetzen Werke aus gleich zwei romanischen Sprachen, Französisch und Italienisch. Gibt es prinzipielle Unterschiede bei der Übersetzungsarbeit? Welche Besonderheiten der französischen bzw. italienischen Sprache funktionieren im Deutschen anders oder gar nicht?
Leider bin ich sehr schlecht darin, theoretische Aussagen über die Arbeit des Übersetzens zu treffen. (Linguistik war das Fach, das mir im Studium am wenigsten gefallen hat 🙂) Beiden Sprachen ist aber gemein, dass sie durch bestimmte Gerundiv- und Partizipialkonstruktionen im Satz eine Menge Informationen transportieren können, die im Deutschen oft zu schwerfälligen Nebensatzschachteleien führen. Ziel beim Übersetzen ist die berühmte „Wirkungsäquivalenz“, also dass der Text, siehe oben, beim Lesen auf Deutsch eine ähnliche Wirkung entfaltet wie beim Lesen auf Italienisch oder Französisch. Ich feile daher oft sehr lange am Satzbau, damit ein Text Deutschen ebenso mühelos dahinschnurrt wie im Französischen oder Italienischen. Eine weitere Schwierigkeit – aber das gilt für alle Sprachen, glaube ich – sind für mich emotionale Begriffe. Gerade das Französische hat da unglaubliche Schattierungen, für die wir im Deutschen oft keine genaue Entsprechung haben. Hier verbringe ich oft viel Zeit bei der Suche nach einem Synonym, das genau die passende Emotion ausdrückt.
Konzentrieren Sie sich jeweils auf eine Sprache oder können Sie zeitgleich an Projekten in beiden arbeiten?
Generell versuche ich immer nur an einem Projekt zu arbeiten. Natürlich kommt mal ein Rücklauf aus dem Lektorat oder ein Umbruch, während man schon an einer anderen Übersetzung sitzt, aber ich musste zum Glück noch nie zwei Übersetzungen parallel machen. Für mich ist entscheidend, dass ich mich auf den Ton eines Textes einschwingen kann, der ja nicht mein eigener ist. Ich muss mich sozusagen „verstellen“, so tun, als wäre ich die Autorin oder der Autor. Ist das erst einmal erreicht – meist nach einigen Dutzend Seiten –, geht das Übersetzen leichter von der Hand. Aber ich stelle es mir sehr schwierig vor, ständig zwischen zwei „Rollen“ hin und her zu wechseln.
Bei der Übersetzung von Vera Politkowskajas Sachbuch „Meine Mutter hätte es Krieg genannt“ aus dem Italienischen haben Sie mit Ihrem Kollegen Christian Försch zusammengearbeitet. Wie kann man sich gemeinsames Übersetzen vorstellen?
Im Falle eines Übersetzertandems muss man sich, um im obigen Bild zu bleiben, gemeinsam auf den Ton eines Textes einstimmen. Am Besten finde ich es daher, wenn eine*r anfängt zu übersetzen. Dann liest der oder die andere diesen Teil (ein paar Kapitel oder die Hälfte, je nachdem) erst einmal redigierend durch. Auf diese Weise stellt man sich aufeinander ein, bespricht Dinge, die man vielleicht anders machen würde. Dann übersetzt jede*r seine Kapitel unabhängig und anschließend redigiert man sich gegenseitig, bespricht offene Fragen, gleicht bestimmte Ausdrücke oder Szenen ab. Idealerweise gibt es zum Schluss noch eine Lektüre des Gesamtmanuskripts. Ich würde das nicht bei jedem Text machen wollen. Maria Borrélys Texte, zum Beispiel, erfordern zu viel kreativen Eigensinn. Andere Texte profitieren ganz klar von einem Tandem, und auch für die beiden Radler*innen ist der gegenseitige Austausch über einen Text bereichernd.
Italien war Gastland der Frankfurter Buchmesse 2024. Wie wirkte sich das im Vorfeld auf Übersetzungen aus dem Italienischen aus?
Der Gastlandauftritt sorgt eigentlich immer für eine Zunahme der Übersetzungen aus der jeweiligen Landessprache, da die Verlage auf Förderungen und vor allem auf eine verstärkte Aufmerksamkeit der Presse und des Publikums hoffen können. So war es auch dieses Jahr mit dem Gastland Italien. Leider gehen in der Flut dann auch viele schöne Titel unter.
Können Sie drei aktuelle oder klassische italienische Autorinnen oder Autoren nennen, die man nach dem Gastlandauftritt unbedingt lesen sollte?
Absolut empfehlen kann ich Igiaba Scegos „Kassandra in Mogadischu“ (übersetzt von Verena v. Koskull, erschienen bei Fischer), die packende autobiographische Geschichte ihrer auf der ganzen Welt verstreuten Somalischen Familie. Sehr neugierig bin ich auf Giulia Caminito, von der in Barbara Kleiner Übersetzung bei Wagenbach schon mehrere Titel auf Deutsch vorliegen, die ich aber selbst noch nicht gelesen habe. Und dann möchte ich natürlich den von mir übersetzten Autor Matteo B. Bianchi empfehlen, dessen wirklich besonderer, ebenfalls autobiographischer Text „Von dem, der bleibt“ über die Verarbeitung des Freitods seines Partners zwar nichts typisch Italienisches hat, aber Mut macht und die Augen öffnet.
Lehnen Sie Übersetzungsangebote ab, wenn Sie sich nicht für die Texte begeistern können?
Zum Glück haben mich bisher fast alle Texte begeistert, die ich übersetzt habe. Übersetzen ist jedoch bei aller Leidenschaft auch mein Brotberuf – also, ja, wenn ich die Wahl habe, picke ich mir natürlich Texte heraus, die mir zusagen, aber es kommt durchaus auch vor, dass ich etwas hauptsächlich übersetze, um mein Konto zu füttern.
Lesen Sie die zu übersetzenden Bücher, bevor Sie mit der Arbeit beginnen? Oder lassen Sie sich überraschen?
Das kommt darauf an, wie lang und wie literarisch sie sind. Meistens versuche ich sie vorher ganz zu lesen, aber zum Beispiel bei umfangreichen Krimis hält einen die Neugier auf die Auflösung ganz gut bei der Stange (auch Übersetzer*innen haben einen inneren Schweinehund 😉), da lasse ich mich dann gern überraschen.
Versuchen Sie, vor, während oder nach der Übersetzungsarbeit Kontakt zu den Autorinnen und Autoren aufzunehmen, soweit sie noch am Leben sind?
Auch das ist unterschiedlich. Je besser mir das Buch gefällt, desto eher. Es hängt auch von der Lektorin oder dem Lektor ab. Manche stellen den Autor*innen die verbleibenden Fragen lieber selbst, andere überlassen das gern den Übersetzer*innen.
Die Kunst des Übersetzens ist nicht nur eine mechanische Aufgabe, sie erfordert auch ein hohes Maß an Kreativität und Flexibilität. Wie finden Sie die Balance zwischen Texttreue, Anpassung kultureller Nuancen und dem Jonglieren mit verschiedenen Bedeutungen?
Auch das ist sehr schwer zu erklären, denn es ist ein Vorgang, der zugleich technisch und intuitiv ist. Es ist im Grunde ein behutsames Ausloten, ein Hin und Herschwingen zwischen Original und Übersetzung. Es geht, wie gesagt, leichter, sobald man sich auf einen Ton eingestimmt hat. Beim ersten Durchgang versuche ich so nah wie möglich am Original zu bleiben. Wenn ich mich vom Text wegbewege und dabei unsicher bin, ob es in die richtige Richtung geht oder ob ich vielleicht zu frei werde, oder wenn ich, im Gegenteil, das Gefühl habe, hier sollte ich noch eine freiere Lösung finden, die im Deutschen besser klingt, füge ich einen Kommentar ein (diese wunderbaren Sprechblasen). Dieser enthält dann meist die Originalstelle, damit ich nicht ewig suchen muss, und oft meine möglichen alternativen Ideen. Idealerweise entsteht so eine Rohfassung, die alle wesentlichen Elemente des Originals enthält. In zwei bis drei weiteren Durchgängen schwimme ich mich dann frei vom Original, bis alle Anmerkungen und Alternativen verschwunden sind und – hoffentlich – ein in sich runder, stimmiger deutscher Text entstanden ist, von dem ich der Meinung bin, dass er bei den Lesenden annähernd dieselbe Wirkung erzielt wie das Original. Das erfordert gleichermaßen Frechheit wie Demut. Man darf jedenfalls nicht nach unten schauen, während man sich auf diesem Drahtseil vorantastet.
Nur sehr wenige Verlage nennen die Übersetzerinnen und Übersetzer auf dem Cover. Wird nach Ihrer Ansicht den Übersetzerinnen und Übersetzern literarischer Werke zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt? Was würden Sie sich wünschen?
Neulich las ich mal wieder eine Kritik zu einem übersetzten Text, in der die sehr besondere Sprache der Autorin oder des Autors ausführlich gelobt, der oder die Übersetzer*in aber nicht mal bei den bibliographischen Angaben erwähnt wurde. So etwas ärgert mich sehr. Denn nur der Übersetzerin oder dem Übersetzer ist es zu verdanken, dass man diese so besondere Sprache „auf Deutsch“ genießen kann. Wegen mir müssen wir nicht auf dem Cover stehen, aber ich würde mir wünschen, dass unsere wertvolle Arbeit von den Profis der Buchbranche mehr beachtet und ins Bewusstsein der Lesenden gerückt wird.
In Zeiten von KI kann eine Frage nach ihrer Nutzung im Bereich literarischer Übersetzungen nicht fehlen. Nutzen Sie KI für Ihre Arbeit? Sehen Sie Ihren Beruf langfristig in Gefahr?
O weh, eine schwierige und komplexe Frage. Ich nutze natürlich Online-Wörterbücher und gebe auch mal Wortkombinationen oder Sätze bei Google oder bei Reverso ein. Mir ist übrigens schleierhaft, wie Menschen übersetzen konnten, bevor es das Internet gab – auch zur Recherche nutze ich es unablässig. KI nutze ich jedoch überhaupt nicht. Nicht mal aus Spielerei, weil ich damit einfach nichts zu tun haben möchte. Als ehemalige Lektorin weiß ich, wie sehr eine schlechte Lösung der eignen Kreativität, dem eigenen Erschließen eines Textes im Weg stehen kann. Ein vom Deutschen Übersetzerfonds finanziertes Rechercheprojekt hat übriges genau dies ergeben. Ich bin mir auch ganz sicher, dass keine KI jemals das erschaffen kann, was ich für eine gute literarische Übersetzung halte. Allerdings fürchte ich, dass sich unser Sprachempfinden den maschinengenerierten Texten anpassen wird, und irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft vielleicht niemand mehr so eine teure, mühsam von Menschen erschaffene Übersetzung bezahlen wird. Allerdings habe ich keine Lust, mir davon jetzt schon in vorauseilendem Gehorsam die Laune verderben zu lassen, sondern freue mich noch lieber an den vielen tollen großen und kleinen Verlagen und Buchhandlungen, interessierten und begeisterten Lesenden und sonstigen Literatur- und Sprachverliebten wie Sie und ich, die diesem Land ein sehr reiches literarisches Leben bescheren.
Was sind Ihre nächsten Projekte?
Lauter tolle Texte: Leïla Slimanis neuer Roman „J’emporterai le feu“, der großartige dritte Teil ihrer Familientrilogie. Philippe Collins „Le Barman du Ritz“, ein aufregender, auf Tatsachen beruhender Roman im von den Deutschen okkupierten Paris. „Nous“, ein neues Jugendbuch von Christelle Dabos, Autorin der wundervollen Spiegelreisenden-Saga.
Ganz herzlichen Dank für Ihre Zeit!
Und Ihnen herzlichen Dank für Ihr Interesse und Ihr Engagement!
Rezensionen zu Büchern in der Übersetzung von Amelie Thoma auf diesem Blog:
Auch wer KI nicht bewusst nutzt, kommt im Alltag inzwischen ständig mit ihr in Kontakt: bei der Nutzung von Suchmaschinen oder Navigationsgeräten, sozialen Medien, Streaming-Diensten, Verkaufsplattformen, Übersetzungsprogrammen oder Sprachassistenten, zur Betrugserkennung bei Banken, in der Medizin und der Juristerei. Kein Wunder also, dass auch der Literaturbetrieb vor tiefgreifenden Veränderungen steht. Die Firma Media Control verspricht mit DemandSens für 2025 zahlenden Verlagen ein KI-Tool, das mit einer Trefferquote von mindestens 85% vor einer Buchveröffentlichung Verkaufszahlen vorhersagen soll, basierend auf vergangenen Trends. Angesichts dieser auf die Spitze getriebenen Kommerzialisierung von Literatur spricht die Süddeutsche Zeitung von einer „Atombombe“, der Literaturagent und Autor Thomas Montasser von „Mcdonaldisierung“.
Satire pur Was dabei herauskommt, wenn mit Hilfe von KI nicht nur übersetzt und illustriert, sondern mit ChatGPT & Co. auch geschrieben wird, zeigt Charles Lewinsky auf ironische Art in seinem neuen Roman Täuschend echt. Unterhaltsam an diesem Buch sind allerdings nur die Teile, die nicht aus der Feder der KI stammen. Das KI-Produkt, ein kursiv gedruckter Roman im Roman über die junge Afghanin Schabnam, ist so vorhersehbar, klischeehaft, rührselig, sprachlich einfallslos und quälend langweilig, dass man seinen Sprung auf die Bestsellerliste und in Denis Schecks Literatursendung Druckfrisch – Höhepunkt des Romans für mich – nur als Satire auf den Literaturbetrieb lesen kann.
Keine „Manipuliermasse“ mehr sein Charles Lewinsky lässt seinen knapp 40-jährigen Ich-Erzähler, einen namenlosen Werbetexter mit Spezialgebiet Müsli, tief fallen: Freundin unter wüsten Beleidigungen mit der Kreditkarte durchgebrannt und fristlose Kündigung, nachdem die Müslifirma abgesprungen ist. Aus Trotz und Langeweile beginnt er, mit der KI zu spielen, zunächst zur Befriedigung seiner Rachegefühle, dann für einen Roman. Als sich völlig überraschend die Möglichkeit ergibt, das Ergebnis unter dem Titel Angst! für viel Geld zu publizieren, greift er zu. Obwohl er vertragsgemäß inkognito bleiben muss, verändert ihn der Erfolg:
Wenn man nicht mehr an sich zweifelt, werden die Dinge plötzlich einfacher. Das ist ein gutes Gefühl. (S. 209)
Gestärkt durch Kirsten, wie er die KI inzwischen zärtlich nennt, und völlig in ihrem Bann, tritt er seiner kleinlaut wiederaufgetauchten Ex-Freundin selbstbewusst entgegen. Nun soll sie ihm helfen, sein Lügengebäude zu schützen. Nicht nur der Müslimann, auch ich hatte Zweifel am Erfolg dieses Plans.
Ein Roman mit Steigerung Täuschend echt hat mich im ersten Viertel gelangweilt, weil ich weder dem Gejammer des Ich-Erzählers, noch gar den langen, kursiv gedruckten Passagen des KI-Romans etwas abgewinnen konnte. Je irrwitziger die Handlung jedoch wurde, und je einfallsreicher der Protagonist mit der KI experimentierte, die ihm nun vermehrt Listen mit Alternativangeboten ausspuckte, desto besser habe ich mich unterhalten, trotz unnötiger Wiederholungen. Zwar sind die Figuren im „handgeschriebenen“ Teil des Romans mindestens ebenso stereotyp wie bei ChatGPT, aber ihre extreme Überzeichnung hat mir im Gegensatz zur ernstgemeinten KI-Dramaturgie Spaß gemacht.
Die Romane des 1946 geborenen Schweizers Charles Lewinsky könnten unterschiedlicher kaum sein, jeder ist eine Überraschung und lässt sich deshalb nur schwer mit den Vorgängern vergleichen. Als nicht allzu tiefschürfender Unterhaltungsroman liegt Täuschendecht für mich im Mittelfeld: weit entfernt von Melnitz, aber stärker als Der Stotterer. Ich bin gespannt, was Denis Scheck („der Mann frisst Bücher wie ich früher Schokoriegel“, S. 226) zu sich als Romanfigur sagt.
Charles Lewinsky: Täuschend echt. Diogenes 2024 www.diogenes.ch
Weitere Rezensionen zu Romanen von Charles Lewinsky auf diesem Blog:
Der Artikel liegt hinter einer Bezahlschranke, verständlich, weil sich guter Journalismus auch rechnen muss.
Die Auswahl ist mir sehr schwergefallen, denn ich habe 2024 natürlich mehr als nur sechs empfehlenswerte Bücher gelesen. Für diese sechs Titel habe ich mich schließlich entschieden:
Zu den Rezensionen auf meinem Blog gelangt man durch einen Klick auf das jeweilige Cover.
Vielen Dank an die LKZ für die Bühne und der Journalistin und Autorin Katja Goll für das angenehme Gespräch, die hilfreichen Fragen und die gelungene Umsetzung!