Leon de Winter: Stadt der Hunde

  Porträt einer Wandlung

Beruflich war Jaap Hollander, niederländischer Neurochirurg jüdischer Herkunft und Sohn eines einfachen Ölhändlers, eines „Oliejood“, stets an der Spitze seiner Zunft und gehörte zu den renommiertesten Hirnchirurgen weltweit. Weniger erfolgreich verlief sein Privatleben. Nach Jahren als berüchtigter Frauenheld ging er der zehn Jahre jüngeren Krankenschwester Nicole ins Netz, aus dem einzigen Grund, dass sie von ihm schwanger war. Weder die Tochter Lea, die für Jaap in vielem zu sehr ihrer Mutter glich, noch die neuerbaute neoklassizistische 14- Zimmer-Villa an der Vecht machten Jaap zufrieden. Die Ehe war und blieb ein Desaster, Jaap ein Despot.

Unvollendet
Während Jaap, ganz rationaler Wissenschaftler, keinen Bezug zu seiner Religion hatte, interessierte sich Lea ab dem Teenageralter für das Judentum, dem sie jedoch als „Vaterjüdin“ nicht angehörte. Eine „Birthright-Reise“ nach Israel im Anschluss an ihr Abitur sollte das ändern, doch Lea und ihr amerikanischer Freund Joshua Pollock verschwanden in einer kalten Wüstennacht am riesigen Ramon-Krater in der Negev-Wüste. Während die inzwischen geschiedene Nicole und die Pollocks allmählich den Tod ihrer Kinder akzeptierten, fand sich Jaap, der seit diesem Ereignis unter Haarausfall und einer rätselhaften Unfähigkeit im Erkennen von Gesichtern litt, nie damit ab:

Ohne Beweise oder Anhaltspunkte konnte er sich nicht mit etwas abfinden, das unvollendet war. Denn es war unvollendet. (S. 24)

Geheimmission „Amsterdam Hope“
Auch am zehnten Jahrestag ihres Verschwindens reist der inzwischen zwangspensionierte Jaap nach Israel. Doch dieses Mal läuft alles anders. Noch bevor er den Gedenkstein besuchen und einen renommierten Geologen mit weiteren Nachforschungen beauftragen kann, fängt ihn eine Vertraute des israelischen Ministerpräsidenten am Flughafen ab. Jaap soll unter strengster Geheimhaltung die Tochter eines mächtigen saudischen Prinzen an einer lebensbedrohlichen Fehlbildung des Gehirns operieren, eine junge Frau, die auf Wunsch ihrer Familie in nicht allzu ferner Zukunft ihr Land führen soll:

Auf ihr ruhen die Hoffnungen des gesamten Nahen Ostens! (S. 64)

Der Prinz hat eine astronomisch hohe Summe für diesen nach menschlichem Ermessen aussichtslosen Eingriff ausgesetzt, der Jaap im Falle seines Scheiterns das Leben kosten kann. Das Geld allerdings würde ihm eine erweiterte Suche nach Leas Spuren ermöglichen, die Herausforderung kitzelt seine berufliche Eitelkeit und er könnte beweisen, dass auch Unvorstellbares möglich ist. Eine Folge überraschender Ereignisse setzt sich in Gang.

Foto: © K. Pape. Collage: © B. Busch. Cover: © Diogenes.

Ein spannender Roman mit vielen Wendungen
Der Roman des 1954 in den Niederlanden geborenen, vielfach ausgezeichneten Autors und Filmemachers Leon de Winter ist die spannende Charakterstudie eines Mann, der sich durch äußere Umstände und eine persönliche Tragödie komplett verändert. In einer verrückten Mischung aus Realität und Fantasie begreift man bisweilen erst aus der Rückschau, was man zuvor gelesen hat. Jeder der fünf Teile wie auch die kursiv gedruckten zweieinhalb letzten Seiten bringen überraschende Wendungen. Unklar blieb mir allerdings einerseits, warum Jaap ein Misslingen der von allen als de facto chancenlosen Operation mit dem Leben bezahlt hätte, andererseits auf weite Strecken auch der tiefere Bezug zum Nahostkonflikt. Unterhalten hat mich der Roman trotzdem gut. Vom alten Jaap Hollander ist am Ende, wenn er durch die Straßen Tel Avivs, der „Stadt der Hunde“, streift, kaum etwas übrig. Dem neuen bleibt, wenn ich die letzten Seiten richtig interpretiere, nicht viel Zeit, die neue Heimat und den inneren Frieden zu genießen.

Leon de Winter: Stadt der Hunde. Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer. Diogenes 2025
www.diogenes.ch

Arno Geiger: Reise nach Laredo

  Am Sterbebett eines zurückgetretenen Kaisers

Große Hoffnung hatte ich – nur wenige haben sich erfüllt, und nur wenige bleiben mir: und um den Preis welcher Mühen! Das hat mich schließlich müde und krank gemacht. Ihr wisst alle, wie sehr … Ich habe alle Wirrnisse nach Menschenmöglichkeit bis heute ertragen, damit niemand sagen könnte, ich sei fahnenflüchtig geworden. Aber jetzt wäre es unverantwortlich, die Niederlegung noch länger hinauszuzögern. Glaubt nicht, dass ich mich irgend Mühen und Gefahren entziehen will: Meine Kräfte reichen einfach nicht mehr hin. (Auszug aus der Abdankungserklärung Kaiser Karls V. – Brüssel, 25. Oktober 1555)

1555/56 trat Karl V (1500 – 1558) als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und König von Spanien zurück und tauschte sein Reich, in dem die Sonne nie unterging, gegen einen kleinen Palast, den er an das Hieronymiten-Kloster von Yuste im Hochland der Extremadura südwestlich von Madrid anbauen ließ. Schwer gezeichnet von Gicht und Malaria verbrachte er seine beiden letzten Jahre nahezu bewegungsunfähig und mit einem Hofstaat, der auf seinen Tod wartete.

Der österreichische Schriftsteller Arno Geiger zeigt Karl V. in seinem Roman Reise nach Laredo als vom Leben enttäuschten, einsamen, grübelnden, gelangweilten, schmerzgeplagten Greis mit dem Makel des stark ausgeprägten Habsburger-Kinns, der nach dem Verlust seiner Titel völlig auf sich selbst zurückgeworfen ist:

Er hat seine Kronen abgelegt in der Absicht, sich vor Gott in höchst eigener Person zu verantworten. (S. 14)

Als der Roman kurz vor Karls Tod einsetzt, ist er seinem Ziel nicht nähergekommen:

Der Rücktritt hat nicht die erhoffte Befreiung gebracht. (S. 27)

Vergeblich wartet der streng katholische Karl auf Lossprechung und Gewissheit darüber, was ihn erwartet.

Foto: © B. Busch. Cover: © Hanser.

Unterwegs
Bis hierher liest sich Reise nach Laredo wie ein gewöhnlicher, wenn auch außerordentlich gut geschriebener historischer Roman. Was nun folgt, mutet allerdings märchenhaft an: Mittels einer waghalsigen (Traum-)Reise will Karl ergründen, was ihm mit seinem Beichtvater nicht gelang: Wer er als Mensch ohne Kronen ist. Er, der schon als Jugendlicher mehrere Throne bestieg, konnte sich nie kennenlernen, Freundschaften schließen, Freiheit empfinden und einfach nur leben. Aberwitzig ist der Aufbruch des Todkranken bei Nacht und Nebel mit dem elfjährigen Geronimo, seinem illegitimen Sohn, der nichts von seiner Abstammung ahnt.

Zusammen mit dem Geschwisterpaar Honza und Angelita, die der verfolgten Gruppe der Cagots angehören, und die Karl kurzerhand aus den Fängen von Folterknechten befreit, machen sie sich auf die abenteuerliche Reise Richtung Meer. Nach längeren Aufenthalten bei einer Heilerin und in der Spelunke der Toten Stadt, in der Karl nächtelang säuft und sein Geld verspielt, liegt der Weg endlich frei vor ihnen.

Im Kloster und unterwegs
Großartig fand ich vor allem die Rahmenhandlung im Kloster mit der unvergesslichen Badeszene zu Beginn und der Auflösung des Hofstaats am Ende. Bei der Road Novel dazwischen war ich gespalten, es ist üblicherweise nicht mein bevorzugtes Genre. Manches, wie der Aufenthalt in der Spelunke und Karls multiple Abstürze, war mir deutlich zu ausführlich, anderes, wie Karls Faszination von Geronimos und Angelitas unbeschwert kindlichem Verhalten und ihrer körperlichen Frische, hat mir dagegen sehr gut gefallen. Zu Hochform läuft Arno Geiger auf, wo er die Rahmenhandlung und die Reise verschränkt.

Leben statt Grübeln
Wer bei Reise nach Loredo Informationen zu Karls Leben als Herrscher erwartet, wird vermutlich enttäuscht, viel mehr als Andeutungen zu seiner Biografie, vor allem seinen zahlreichen Misserfolgen, findet man nicht. Wer dagegen in den Sterbeprozess eines Mannes eintauchen und verstehen möchte, warum sich Antworten nicht durch Einkehr und Grübelei, sondern durch Konfrontation mit dem Leben und der Welt ergeben, wird den Roman lieben.

Arno Geiger: Reise nach Laredo. Hanser 2024
www.hanser-literaturverlage.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Arno Geiger auf diesem Blog:

   

Claire Keegan: Reichlich spät

  Besser spät als nie

 

Die Erzählung Reichlich spät der 1968 geborenen irischen Autorin Claire Keegan spielt an einem einzigen wolkenlosen Freitag im Juli in Dublin, mit Rückblenden in die beiden Jahre davor. Cathal, ein junger Büroangestellter, sitzt an seinem Schreibtisch und schaut aus dem Fenster auf das bunte Treiben und die üppigen Blumenbeete:

So vieles im Leben verlief reibungslos, ungeachtet des Gewirrs menschlicher Enttäuschungen und des Wissens, dass alles einmal enden muss. (S. 9)

Von Beginn herrscht eine melancholische Atmosphäre. Cathal ist unruhig und unkonzentriert, Kollegin, Chef und Putzfrau gehen behutsam mit ihm um und signalisieren Mitleid, das sich beim Lesen sofort überträgt. Was ist geschehen? Welche Bedeutung hat der Tag für ihn?

Das Gefühl der Bedrohung steigt, als Cathal auf dem Weg zu seinem Haus in Arklow ist. Zwar kommt entgegen seiner Befürchtung tatsächlich ein Bus, aber Cathal verzichtet darauf, sein Handy auf neue Nachrichten zu prüfen, und seine Banknachbarin liest Die Frau, die gegen Türen rannte von Roddy Doyle, eine weibliche Anklage gegen die misogyne und rückständige irische Gesellschaft.

Als sich eine junge Frau auf den Platz ihm gegenüber setzt, löst ihr Duft bei Cathal unterdrückte Erinnerungen aus.

Lange Schatten
Zwei Jahre währte die Beziehung zwischen Cathal und der französisch-britischen Sabine, einer großzügigen, aktiven jungen Frau, die nach einigem Zögern schließlich in seinen unromantisch vorgetragenen Heiratsantrag einwilligte. Bei den Streitereien im Vorfeld der Hochzeit ging es vor allem um Geld, das Sabine ihm zu leichtfertig ausgab, aber auch um ihr Selbstbewusstsein:

Das war ein Teil des Problems: dass sie nicht hören und gut die Hälfte der Dinge auf ihre Weise tun wollte. (S. 35)

Schließlich brachte ihr Einzug bei ihm das Fass zum Überlaufen:

… das alles stellte und hängte sie im Haus auf und schob Dinge beiseite, als gehöre das Haus jetzt auch ihr. (S. 36)

Anders als bei Roddy Doyle, der konsequent der Sichtweise der misshandelten Frau folgt, wählt Claire Keegan die Perspektive des Mannes mit seinen verächtlichen Beobachtungen und seiner Zuflucht zur Vulgarität. Nur in ganz wenigen Augenblicken dämmert es Cathal, dass auf ihn „der lange Schatten der Sprache seines Vaters“ (S. 27) fällt. Dagegen rechtfertigt er eine abstoßende Szene aus seiner Jugend, in der sein Vater, sein Bruder und er die Mutter demütigten, als Scherz.

Claire Keegan: Reichlich spät. Foto: © B. Busch. Cover: © Steidl.

Lesen zwischen den Zeilen
Wie immer in den straffen Erzählungen von Claire Keegan hat jedes der von Hans-Christian Oeser mit viel Einfühlungsvermögen ins Deutsche übersetzte Wort Gewicht, muss man in den vier Kapiteln auf nur 55 großzügig bedruckte Seiten zwischen den Zeilen dessen lesen, was der unzuverlässige Erzähler uns glauben machen möchte. Es lohnt sich, bei jedem Satz der so ruhig erzählten und doch aufwühlenden Geschichte genau hinschauen, um keinen der bedeutungsvollen Hinweise zu übersehen. Stückweise enthüllt sich Cathals kleinlicher, egozentrischer Charakter, der ihm nur das Nehmen gestattet, nicht aber das Geben – in Sabines Augen der Kern der Frauenfeindlichkeit, für die es nicht physischer Gewalt bedarf.

Nicht nur optisch ist dieser Leinenband aus dem Steidl Verlag ein Genuss, auch inhaltlich und stilistisch ist Reichlich spät eine Perle der Literatur.

Claire Keegan: Reichlich spät. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl 2024
steidl.de

 

Weitere Rezension zu einer Erzählung von Claire Keegan auf diesem Blog:

Eva Björg Ægisdóttir: Verlassen

  Reich und verkorkst

Die erfolgreiche Krimireihe Mörderisches Island der 1988 geborenen Isländerin Eva Björg Ægisdóttir spielt an verschiedenen Orten im Westen der Insel, für die allesamt die Kripo Akranes zuständig ist. Schauplatz des vierten Bandes, Verlassen, ist Snæfellsnes ([stn̥aiːfɛlsnɛs], „Schneeberghalbinsel“). Diese in den Nordatlantik ragende lange, schmale, dünn besiedelte und geschichtenträchtige Halbinsel bietet auf einer Fläche von 1 468 km² nahezu alles, wofür Island bekannt ist: einen erloschenen Vulkan, Lavafelder, Krater, spektakuläre Klippen, Höhlen, schwarze und weiße Strände, Schluchten, Wasserfälle, Berge, Robben- und Vogelkolonien.

Risse unter der Oberfläche
In dieser spektakulären Umgebung trifft sich im November 2017 der Snæberg-Clan. Hier, wo der sagenhafte Aufstieg der Familie zu einer der reichsten, bekanntesten und einflussreichsten der Insel in Wirtschaft, Politik und Partyszene mit einem Fischereibetrieb begann, kommen die Nachfahren zum 100. Geburtstag ihres verstorbenen Vaters, Großvaters und Urgroßvaters zusammen. Standesgemäß hat man ein ganzes abgelegenes, futuristisches Luxushotel mitten im Lavafeld gemietet. Während der Alkohol an diesem draußen wie drinnen zunehmend stürmischen Wochenende in Strömen fließt, werden, angeheizt durch Alkohol, Nähe, Bosheit und alte Geheimnisse, immer größere Spannungen und Risse sichtbar:

Um unsere Familie zu verstehen, muss man sich eine Herde Flusspferde vorstellen, die in einem viel zu kleinen Wasserloch badet; alle rempeln sich gegenseitig an. Wenn so viele Egos aufeinanderprallen, kann jede Kleinigkeit das Fass zum Überlaufen bringen. (S. 28)

Eva Björg Ægisdóttir: Verlassen. Collage: © B. Busch. Cover: © Kiepenheuer & Witsch.

Zwei Zeitebenen, mehrere Perspektiven
In zwei nahe beieinanderliegenden Zeitebenen, dem 5.11.2017, an dem eine Leiche an den Klippen gefunden wird, und den beiden Tagen davor, und aus vier Ich-Perspektiven erfahren wir, was sich zugetragen hat. Jeweils aus ihrer Sicht schildern sie die beiden Tage vor dem Leichenfund: die etwa 30-jährige Hotelangestellte Irma mit ihrer Obsession für die Jetset-Familie, die etwa gleichaltrige Petra Snæberg, eine erfolgreiche Innenausstatterin, deren 16-jährige Tochter Lea Snæberg mit ihren Social-Media-Verstrickungen und der ganz und gar nicht standesgemäße Tischler Tryggvi, seit einem Jahr Partner von Petras alkoholkranker Tante. Alle vier leiden unter alten Geheimnissen und Verletzungen, die während des Treffens stückweise zu Tage treten. Nur wenige Kapitel, die mit „Jetzt, Sonntag, 5. November 2017“ überschrieben sind, zeigen die Ermittlungsarbeit von Sævar und seinem Chef Hörður, bekannt aus den drei Vorgängerbänden Verschwiegen (Band 1), Verlogen (Band 2) und Verborgen (Band 3). Fans der Reihe werden deren Protagonistin vermissen: die Ermittlerin Elma. Da Verlassen aber die Vorgeschichte zu diesen Bänden abbildet, wird auf den letzten Seiten lediglich ihr Kommen zur Polizeistation Akranes angekündigt.

Viel Island und Psychodrama, weniger Ermittlungsarbeit
Der Stammbaum vorn im Buch erleichtert die Übersicht über die zahlreichen Familienmitglieder, die sich vor allem in ihrer Überheblichkeit, ihrer Trunksucht und ihren Kommunikationsdefiziten ähneln. Echte Sympathieträgerinnen und –träger sucht man mit wenigen Ausnahmen vergeblich. Dafür bietet dieser Band wieder sehr viel isländisches Flair, immer wieder Cliffhanger, einen Spannungsbogen bezüglich der erst ganz zum Schluss aufgedeckten Identität der Leiche und vor allem die Frage, ob die Bedrohung von innen oder doch gar von außen kommt.

Ein gelungener, in sich abgeschlossener Teil der Krimireihe, mit mehr Psychodramatik in mysteriöser Atmosphäre als Ermittlungsarbeit, übertrieben alkoholgesättigt, aber unterhaltsam und spannend erzählt und mit einer für mich überraschenden Auflösung. Für den nächsten Band wünsche ich mir allerdings trotzdem ein Wiedersehen mit der sympathischen Ermittlerin Elma.

Eva Björg Ægisdóttir: Verlassen. Aus dem Isländischen von Freyja Melsted.     Kiepenheuer & Witsch 2025
www.kiwi-verlag.de

 

Weitere Rezension zur Krimiserie Mörderisches Island  von Eva Björg Ægisdóttir auf diesem Blog:

Bd. 1
Bd. 2
Bd. 3

Anne B. Ragde: Einsiedlerkrebse

  Die Dämonen der Familie Neshov

Übergangslos schließt Einsiedlerkrebse, der zweite Teil der norwegischen Familiensaga über die Bauernfamilie Neshov, an Teil eins, Das Lügenhaus, an. Sofort ist man wieder mittendrin in der düsteren Atmosphäre von Traurigkeit und Verfall rund um den Hof Byneset nahe Trondheim bei den drei diametral unterschiedlichen Brüdern. Nachdem beim Tod ihrer Mutter, zu dem sie erstmals nach langer Zeit wieder zusammenkamen, die große Familienlüge platzte, müssen sie sich nun mit der neuen Wahrheit zurechtfinden. Kurzzeitig besteht Hoffnung, dass die Enthüllung die Familie wieder enger zusammenführt, aber zunächst kehren alle in ihr altes Leben zurück. Der bodenständige älteste Bruder Tor führt den Familienhof mehr aus Verpflichtung denn aus Freude, aber mit großer Liebe zu seinen wenig rentablen Schweinen weiter. Margido, der mittlere, geht in seinem erfolgreichen Bestattungsunternehmen auf und Erlend, der jüngste, lebt in Kopenhagen mit seinem Partner Krumme ein verschwenderisches Luxusleben und dekoriert opulente Schaufester. Torunn, die uneheliche Tochter von Tor, fährt zurück nach Oslo, wo sie sich eine Existenz als Tierarzthelferin und Hundetrainerin aufgebaut hat.

Anne B. Ragde: Einsiedlerkrebse. © B. Busch. Cover: © Hörbuch Hamburg.

Eine unbemerkte Tragödie
Alle sind so mit sich und ihren eigenen Problemen beschäftigt, dass niemand etwas von der Tragödie bemerkt, die sich auf dem defizitären, von Ratten heimgesuchten Hof und beim verbitterten Tor anbahnt. Tor selbst kann keine Schwäche zugeben und schweigt. Der strenggläubige und spartanisch lebende Margido lässt sich mit über 50 zu seinem eigenen Entsetzen in der Silvesternacht von einer Witwe, deren Rotwein und Champagner verführen. Fassungslos steht er dieser Fehlleitung durch Satan und seiner vermeintlichen Schuld vor Gott gegenüber. Die 37-jährige Torunn erlebt nach kurzer Schockverliebtheit zum wiederholten Mal ein Fiasko, muss sich ihre jammernde Mutter vom Hals halten und soll außerdem, vom Vater gedrängt, eine Entscheidung bezüglich ihrer möglichen Zukunft auf dem Hof treffen. Der 39-jährige Erlend und Krumme wiederum, die einzig einigermaßen glücklichen und wohlhabenden Familienmitglieder, machen eine Beziehungskrise durch, an deren Ende sie die Weichen für die Zukunft neu stellen. Jeder von ihnen hat eigene Überlegungen bezüglich des Hofs, aber bevor es dazu kommt, eskaliert es dort.

Eine perfekt besetzte Hörbuchfassung
Wie schon Das Lügenhaus habe ich mir auch Einsiedlerkrebse vom hervorragenden Sprecherquartett Walter Kreye (Tor), Matthias Brandt (Margido), Gustav Peter Wöhler (Erlend) und Wiebke Puls (Torunn) vorlesen lassen und bedauere nur, dass auch dieser Teil auf 5 CDs mit 393 Minuten und 92 Tracks gekürzt war. Mit ihrer Mischung aus schrägen Charakteren, überraschenden Wendung, Düsternis, Missverständnissen, mangelnder Kommunikation, humorvollen Anklängen und nachdenklichen Passagen über die völlig unterschiedlichen, betont klischeebehaftet dargestellten Lebenswelten hat mich die 1957 bei Trondheim geborene Autorin Anne B. Ragde erneut gut unterhalten und immer wieder überrascht.

Teil drei, Hitzewelle, der zunächst als Trilogie geplanten, inzwischen sechs Bände umfassenden Reihe, liegt glücklicherweise schon bereit. Der unerhörte Cliffhanger am Ende von Einsiedlerkrebse muss schleunigst aufgelöst werden.

Anne B. Ragde: Einsiedlerkrebse. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Gekürzte Lesung von Matthias Brandt, Walter Kreye, Wiebke Puls und Gustav Peter Wöhler. Hörbuch Hamburg 2010
www.hoerbuch-hamburg.de

Weitere Rezension zu einem Hörbuch der Neshov-Reihe von Anne B. Ragde auf diesem Blog: 

Band 1

Samantha Harvey: Umlaufbahnen

  Perspektivwechsel

In einer erdnahen Umlaufbahn von 400 Kilometer Höhe umkreisen zwei Astronauten aus Italien und den USA, zwei Astronautinnen aus Großbritannien und Japan und zwei russische Kosmonauten in einem internationalen Raumschiff mit 28.000 Kilometer pro Stunde die Erde. Obwohl die Zeitmessung hier willkürlich ist, leben sie nach dem 24-Stunden-Rhythmus. Ein Tag bedeutet 16 Erdumrundungen mit 16 Sonnenauf- und Sonnenuntergängen und allen vier Jahreszeiten. Während eines solchen Tages spielt der Roman Umlaufbahnen, mit dem die 1975 geborene Britin Samantha Harvey 2024 den wichtigsten Literaturpreis ihres Landes, den Booker Prize, gewann.

Unendliches Staunen
„Wie Trommelfeuer“ bricht alle 90 Minuten der Tag über die Crew herein. Ihr Leben an Bord ist minutiös durchgeplant und fremdbestimmt, neben muskelerhaltendem Krafttraining, Mahlzeiten, Hygiene, Laborarbeit, Dokumentation und sieben Stunden Schlaf gibt es kaum Freizeit, dafür sensationelle Ausblicke sowie Raum für immer neues Staunen und eigene Gedanken:

Brutal ist das Leben hier, unmenschlich, überwältigend, einsam, außergewöhnlich und großartig. Nicht eine einzige Sache ist angenehm. (S. 33)

Samantha Harvey: Umlaufbahnen. Foto (Mond u. Venus): © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: dtv.

Bedrohte Schönheit
So unterschiedlich ihre Herkunft, Vergangenheit, Sorgen und Träume sind, bilden sie doch auf Zeit eine „fliegende Familie“ und sind „Hände“, „Seele“, „Bewusstsein“, „Atem“, „Verstand“ und „Herz“ einer atemberaubenden Unternehmung. Sie unterlaufen die behördlichen Vorgaben, die ihnen im All, von wo aus keine Grenzen, Mauern oder Schranken auf der Erde zu erkennen sind, getrennte Toiletten für Russen und Nicht-Russen zuweisen. Wissentlich nehmen sie die gesundheitlichen Folgen ihres dreimonatigen Dauerloopings im All in Kauf und sind nicht weniger Versuchsobjekte als die mitreisenden Labormäuse. Freiheit oder Privatsphäre gibt es nicht, sie müssen mit der Trennung von ihren Familien zurechtkommen und werden, trotz regelmäßiger Kontakte, „als Fremde zurückkehren“. Ihr Lohn ist der Perspektivwechsel durch den Blick von oben auf die Erde, der zugleich unfassbare Schönheit und beängstigende Fragilität offenbart:

Wenn sie nach unten blicken beginnen sie, die Politik des Wachstums und Erwerbs zu sehen, eine millionenfache Potenz des Verlangens nach mehr. Und sie müssen nicht einmal nach unten blicken, denn sie selbst sind Teil dieser Rechnung, mehr noch als alle anderen – in ihrer Rakete, deren Antrieb beim Start so viel Benzin wie Millionen Autos verbrennt. (S. 124)

Eine verdiente Booker-Prize-Trägerin
Umlaufbahnen ist ein schmaler Roman von größter Originalität und trotz seiner Handlungsarmut gleichermaßen faszinierend und fesselnd. Die Kapiteleinteilung folgt den 16 Umlaufbahnen eines Tages, in dessen Verlauf sich auf der Erde ein verheerender Taifun entwickelt, eine Mondmission das Raumschiff überholt und ein minimaler Riss in einem der in die Jahre gekommenen Module geringfügig wächst. Einerseits schildert Samantha Harvey in ihrem fünften Buch die Abläufe und Erfahrungen an Bord so genau, dass die Lektüre bei mir, die ich mich bisher kaum für Raumfahrt interessierte, einen großen Wissenszuwachs brachte. Andererseits ist der Roman ein großartig bildhafter, sehr rhythmischer Text aus dem Genre Nature Writing in ausgezeichneter Übersetzung von Julia Wolf, dessen Höhepunkt für mich die unvergleichliche Beschreibung eines Polarlichts war. Nicht zuletzt sind Samantha Harveys Überlegungen zu den großen Themen der Menschheit und zur existenziellen Bedrohung durch den menschengemachten Klimawandel klar, aufrüttelnd und nie plump, denn für die Crew wie auch für gesamte Menschheit gilt:

Ohne die Erde sind wir alle erledigt. (S. 19)

Ein großartiges Lese-Highlight gleich am Jahresbeginn 2025, poetisch und erschütternd, aber trotzdem nicht entmutigend.

Samantha Harvey: Umlaufbahnen. Aus dem Englischen von Julia Wolf. dtv 2024
www.dtv.de

 

Rezensionen zu Romanen, die mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurden, auf diesem Blog:

1984
1989
2017
2020
2021

Colum McCann & Diane Foley: American Mother

  Ein Erinnerungsbuch für den vom IS ermordeten Sohn

 

 

Am 19. August 2014 ermordeten IS-Terroristen in der syrischen Wüste den US-amerikanischen Journalisten James W. Foley, der seit November 2012 ihre Geisel war. Das schockierende Video von seiner Enthauptung stellten sie ins Netz:

Die Welt reagierte mit fassungslosem Entsetzen oder brach beim Anblick einer verwundeten Weltmacht in Jubel aus. (S. 65)

Seine Mutter, Diane Foley, beschreibt in ihrem gemeinsam mit dem Autor Colum McCann verfassten Erinnerungsbuch ihre Gefühle so:

Der seelische Schmerz lässt sich nur metaphorisch beschreiben. Ich war erschlagen, mein Herz in tausend Stücke gerissen. (S. 57)

Ganz nah dran
James W. Foley, geboren 1973, kam aus einer typisch amerikanischen Mittelschichtfamilie. Er wuchs zusammen mit vier jüngeren Geschwistern behütet in einer sehr katholisch geprägten Familie in New Hampshire auf. Im Gegensatz zu seinen Geschwistern suchte er lange nach seiner Berufung und fand sie schließlich zunächst als angestellter, später freier Kriegsberichterstatter im Irak, in Afghanistan, während des arabischen Frühlings in Libyen und schließlich in Syrien:

Seine Devise lautete: «Früher da sein, länger bleiben, dichter rangehen.» (S. 129)

Für seine Suche nach Wahrheit und sein Bestreben, allen eine Stimme zu geben, ging er bewusst ein extrem hohes Risiko ein. Obwohl er bereits 2011 in Libyen eine sechswöchige Entführung durch Regierungstruppen erlebte, brach er nur wenige Monate später ins noch gefährlichere Syrien auf.

Ein Buch in drei Teilen
Diane Foley widmet den mittleren und Hauptteil ihres Buches American Mother, den der Autor Colum McCann in der Ich-Form aufgeschrieben hat, einerseits dem Andenken ihres Sohnes, um den schrecklichen Enthauptungsbildern etwas entgegenzusetzen. Sie schildert dessen Werdegang, seine Motive und seinen, wie sie sagt, moralisch begründeten Mut. Dass diese Beschreibungen oft heldenhaft überhöht erscheinen, kann man der Mutter nachsehen. Andererseits schildert sie, was sie in den Monaten der Entführung erlebte: gelbe Erinnerungsbändern an den Bäumen ihrer Straße, aber ein Wegducken der Obama-Regierung, die Verweigerung von Verhandlungen, wie europäische Regierungen sie erfolgreich für ihre Entführungsopfer führten, und Strafandrohungen, sollte die Familie selbst mit den Entführern in Kontakt treten:

Wir hielten an Grundsätzen fest, nicht an Menschen. (S. 179)

Ab dem Frühjahr 2013, nachdem sie ihre Stelle als Krankenschwester gekündigt hatte, kämpfte Diane Foley öffentlich für einen anderen Umgang mit US-amerikanischen Geiseln im Ausland, ohne Erfolg. Erst mit der Gründung einer Stiftung nach James‘ Tod, in der sie bis heute arbeitet, konnte sie Verbesserungen für Entführungsopfer und ihre Angehörigen, vor allem aber geregelte politische Zuständigkeiten erreichen.

Colum McCann mit Diane Foley: American Mother. Fotos & Collage: © B. Busch. Cover: © Rowohlt.

Im ersten und dritten Teil des Buches schreibt Colum McCann über drei Treffen zwischen Diane Foley und einem der Mörder ihres Sohnes, Alexanda Kotey, einem zum Islam konvertierten Ex-Briten. Sie fanden nach dessen Verhaftung, Auslieferung und seinem Deal mit der Staatsanwaltschaft Ende 2021 und im Juni 2022 gegen den Rat ihrer Familie und Freunde und ohne, dass sie den genauen Grund dafür angeben kann, statt. Neben ihrer religiösen Überzeugung und dem Wunsch, dem Hass etwas entgegenzusetzen, war wohl ihre Überzeugung, damit den Absichten ihres Sohnes ganz nahe zu kommen, Triebfedern dafür.

American Mother ist ein durch und durch amerikanisches Buch, ganz wie der zu recht vom englischen Original übernommene Titel. Es enthält keine tiefergehende politische Reflexion, verzichtet auf Außenperspektive und ist ganz Erinnerungsbuch. Diane Foleys Kraft und Energie, die sie aus der Familie schöpft, haben mir imponiert, ebenso wie ihr Glaube. Ihr unreflektierter Patriotismus und ihre tief religiöse Weltsicht ohne jeden Schatten eines Zweifels waren mir dagegen entschieden zu dick aufgetragen.

Colum McCann mit Diane Foley: American Mother. Aus dem Englischen von Volker Oldenburg. Rowohlt 2025
www.rowohlt.de

Meine Lese-Highlights, Interviews und literarischen Begegnungen 2024

Das Lesen nimmt so gut wie das Reisen die Einseitigkeit aus dem Kopfe. (Jean Paul)

14 Bücher sowie ein Hörbuch aus 14 Verlagen und unterschiedlichen Genres haben es auf meine persönliche Hitliste 2024 geschafft. Es sind Titel, die mich im Laufe des Jahres am nachhaltigsten beschäftigt haben und die zu Freunden wurden, weil sie mir die Welt nähergebracht und die Einseitigkeit in meinem Kopf verringert haben. Wie immer ist mein Kriterium nicht, dass die Bücher sich bereits über lange Zeit als Klassiker bewährt haben, oder die Überzeugung, dass sie auch in hundert Jahren noch gelesen werden. Es ist eine subjektive Auswahl von Werken, denen ich im für mich genau richtigen Augenblick begegnet bin. Sie alle haben nun einen Ehrenplatz in meinem Bücherregal.

von oben:

Matthias Jügler: Maifliegenzeit. Penguin 2024
Tore Renberg: Die Lungenschwimmprobe. Aus dem Norw. von Karoline Hippe und Ina Kronenberger. Luchterhand 2024
Claire Keegan: Das dritte Licht. Aus dem Engl. von Hans-Christian Oeser. Steidl 2023
Carl Nixon: Kerbholz. Aus dem Engl. von Jan Karsten. CulturBooks 2023
Matteo B. Bianchi: Von dem, der bleibt. Aus dem Ital. von Amelie Thoma. dtv 2024
Sabine Rennefanz: Kosakenberg. Aufbau 2024
Francesca Melandri: Alle, außer mir. Aus dem Ital. von Esther Hansen. Gelesen von Gabriele Blum. Argon 2018
Maria Borrély: Das letzte Feuer. Aus dem Franz. von Amelie Thoma. Kanon 2024
Iris Wolff: Lichtungen. Klett-Cotta 2024
Anšlavs Eglītis: Schwäbisches Capriccio. Aus dem Lett. von Berthold Forssman. Guggolz 2024
Daniela Krien: Mein drittes Leben. Diogenes 2024
Raffaela Romagnolo: Die Sterne ordnen. Aus dem Ital. von Maja Pflug. Diogenes 2024
Maria Parr: Himbeereis am Fluss. Illustriert von Åshild Irgens. Aus dem Norw. von Christel Hildebrandt. Dressler 2024
Kirsten Boie: Skogland brennt. Oetinger 2024
Edvard Hoem: Der Heumacher. Aus dem Norw. von Antje Subey-Cramer. Urachhaus 2024

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Zwei Ideen konnte ich 2024 auf meinem Blog neu umsetzen. Zum einen gibt es nun die Rubrik Literatur in Bildern, in der ich alle meine Fotos zu Autorinnen, Autoren und literarischen Orte unterbringen kann. Zum anderen habe ich begonnen, Übersetzerinnen und demnächst auch Übersetzer zu interviewen. Bei einem Gespräch mit der Hoem-Übersetzerin Antje Subey-Cramer im November 2023 wurde mir bewusst, wieviel Interessantes sie zu erzählen haben. Meine ersten beiden Interviews sind 2024 entstanden, weitere sind in Planung:

Antje Subey-Cramer. © privat

 

Interview mit der Übersetzerin Antje Subey-Cramer

 

Amelie Thoma. © Edgar Rai 2021

 

 

Interview mit der Übersetzerin Amelie Thoma

 

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Neben dem Lesen, einer eindrucksreichen Frankfurter Buchmesse im Herbst 2024 und einer fantastischen Norwegenreise im Sommer 2024 werden mir von diesem Jahr drei Begegnungen mit einer Autorin und zwei Autoren im Gedächtnis bleiben: Im Januar war Iris Wolff im Stuttgarter Literaturhaus mit ihrem Roman Lichtungen zu Gast, an gleicher Stelle habe ich im Juni Didier Eribon mit Eine Arbeiterin erlebt. Nachdem ich im Herbst 2023 für ein musikalische Lesung mit Edvard Hoem eigens nach Hamburg gereist war, konnte ich ihn im April 2024 erneut bei einer großartigen Lesung zu Der Geigenbauer und Die Geschichte von Mutter und Vater in Bellheim bei Karlsruhe erleben.

Lesung und Interview am 30.01.2024 im Literaturhaus Stuttgart mit Iris Wolff und SWR-Redakteurin Katharina Borchardt. Fotos: © B. Busch & U. Gmähle. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Klett-Cotta
Lesung und Interview am 20.06.2024 im Literaturhaus Stuttgart mit Didier Eribon (links) und dem Übersetzer und Journalisten Tobias Haberkorn (rechts). Foto & Collage: © B. Busch. Buchcover: © Suhrkamp.
Lesung mit Edvard Hoem am 12.04.2024 in Bellheim bei Karlsruhe. Fotos: © B. Busch & A. Schütz. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Urachhaus, Insel

 

Allen Besucherinnen und Besuchern auf meinem Blog wünsche ich ein gesundes, Frieden bringendes und erfülltes Jahr 2025!

 

Meine Lese-Highlights früherer Jahre:

2019
2020
2020
2021
2022
2023

Scott Preston: Über dem Tal

  Düsternis und Gewalt

Als in Großbritannien 2001 die gefürchtete Maul- und Klauenseuche ausbrach, entschied die Blair-Regierung gegen den Widerstand der Bauernverbände, mehrere Millionen Nutztiere zu töten und zu verbrennen. Besonders betroffen waren die Landwirtschaft und der Tourismus in der Grafschaft Cumbria im Nordwesten des Landes, in der sich der Lake District Nationalpark befindet.

Leben in den Fells
Bei den Schafbauern der kargen, ärmlichen Fells von Cumbria spielt der Debütroman Über dem Tal von Scott Preston, der im Lake District aufwuchs. Sein 2001 knapp 40-jähriger Ich-Erzähler Steve Elliman, Sohn eines Schafbauern mit kleiner Herdwick-Herde auf gepachtetem Grund, erzählt gut 30 Jahre später rückblickend:

Wir züchten unsere Herden auf den Felshängen und bringen den Schafen bei, sie ratzekahl zu fressen – hat fünftausend Jahre gedauert, aber sie haben es geschafft. Hinterließen nichts als nackten Stein, nass und schwarz, und lernten das Moos lieben. (S. 6)

Als Steve, ein LKW-Fahrer, nach einem Anruf seines Vaters heimkehrt, erlebt er das Inferno hautnah:

War mir nicht sicher, ob ich je wieder ein Schaf sehen konnte, ohne mir vorzustellen, dass Blut aus einem Loch im Schädel rann. (S. 26/27)

William Herne, Nachbar der Ellimans in sechs Kilometer Entfernung mit 1000 Schafen auf eigenem Grund scheitert beim Versuch, einen Teil seiner Herde zu verstecken.

Wieder verlässt Steve seine Heimat, kehrt jedoch nach dem Tod seines Vaters erneut zurück, heuert bei William und seiner neu aufgezüchteten Herde ohne Lohn und Vertrag an, lebt bei ihm, seiner Frau Helen und dem Sohn Danny und folgt ihm bedingungslos.

Von Schafbauern zu Schwerkriminellen
Leider ändert der Roman nach diesem zwar blutigen, aber fulminant-fesselnden Auftakt das Genre hin zur gewalttätigen Gangster- und Wildwest-Geschichte. Nachdem sich William und mit ihm Steve auf Schwerkriminelle einlassen, jagt eine Actionszene die nächste. William wird die Geister, die er rief, nicht mehr los, entpuppt sich jedoch als ebenbürtig. Zwar beherrscht der Autor die vielen rasanten Abschnitte ebenso virtuos wie die getragenen, aber die Motive für die Verwandlung aller zu skrupellosen Verbrechern waren mir zu vage. Die explizit geschilderte Brutalität und Verrohung sowohl anderen gegenüber als auch insbesondere untereinander konnte ich kaum nachvollziehen und der Fortgang hat mich immer weniger berührt.

Auch wenn die Gangart im letzten Teil wieder ruhiger wird und mit dem Auftauchen eines weit über 20 Jahren alten Schafs sogar einen mystischen Anstrich bekommt, stellte sich meine anfängliche Begeisterung nicht mehr ein.

Scott Preston: Über dem Tal. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © John Murray, S. Fischer.

Schaf in Flammen gegen landschaftliche Idylle
Vergleicht man das englische Originalcover mit dem der deutschen Ausgabe, scheinen sie für völlig unterschiedliche Romane entworfen. Sicher hätte ich nicht nach der englischen Ausgabe mit dem Schaf in Flammen gegriffen, allerdings passt es inhaltlich besser als das wunderschöne, idyllische Landschaftsbild der deutschen Fassung, auch wenn Scott Preston die Region Cumbria und das Leben der Schafbauern beeindruckend atmosphärisch beschreibt. Die minimalistischen Sätze und Dialoge, mit denen der schwer durchschaubare Steve Williams Geschichte und damit auch seine eigene erzählt, passen sehr gut zur rauen Umgebung, den einsilbigen Menschen und dem kargen Leben. Viele Szenen und zunächst unbedeutende Details erklären sich erst im Nachhinein.

Trotz aller sprachlicher und struktureller Stärken hatte der Roman für mich im Plot und in der Darstellung der Entwicklung seiner durchweg abstoßenden Figuren deutliche Schwächen. Leider trübte auch die Vielzahl brutaler, viel zu ausführlicher Actionszenen, so gekonnt und kinoreif sie auch geschrieben sein mögen, mein Lesevergnügen.

Scott Preston: Über dem Tal. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. S. Fischer 2024
www.fischerverlage.de

Heidi Furre: Macht

  Eine von zehn

Eine von zehn Frauen in Norwegen teilt das Schicksal von Liv, der Protagonistin im Roman Macht der 1985 geborenen norwegischen Autorin Heidi Furre: Sie werden Opfer eines „Vorfalls“, einer Vergewaltigung. Wenige Taten landen vor Gericht, wenige davon enden mit einem Schuldspruch.

Auch Liv hat nach der verhängnisvollen Nacht zwar eine Notfallambulanz aufgesucht, die Tat aber nicht angezeigt. War das richtig? Anders als geplant, lässt sich die Erinnerung nicht wegdrücken und kommt auch 15 Jahre danach in Form von Flashbacks zurück, davor schützt  auch die perfekte Fassade aus Ehemann, Kindern, Haus und Arbeitsplatz im Pflegeheim nicht. Zahnarztbesuche, Vorsorgeuntersuchungen oder der nächtliche Heimweg kosten sie größte Anstrengungen. Zur besonderen Herausforderung wird der Umgang mit einem Angehörigen einer Patientin, der wegen sexuellen Missbrauchs angeklagt war und freigesprochen wurde.

Macht und Scham
Ganz im Sinne der MeToo-Bewegung geht es der Autorin nicht um den Täter oder gar um Details der Vergewaltigung, und das ist gut. Stattdessen stehen Livs Leben und die Langzeitfolgen im Zentrum. Neben den Thema Macht, Machtverlust und Zurückeroberung der Macht geht es auch um Scham – Scham darüber, Opfer geworden zu sein, freiwillig mit ihrem Date nach Hause gegangen zu sein und sich vielleicht nicht genug gewehrt zu haben. Anders als das französische Vergewaltigungsopfer Gisèle Pelicot, die im hundertfachen Vergewaltigungsprozess von Avignon sämtliches schockierende Beweismaterial öffentlich zeigen ließ, damit die Scham die Seiten wechseln sollte, verheimlicht Liv die Vergewaltigung sogar ihrem Mann Terje.

Heidi Furre: Macht. Logo „Nein heißt nein. Vergewaltigung = Sex ohne Zustimmung“: © Amnesty International. Collage: © B. Busch. Cover: © DuMont.

Ein ungeordneter Gedankenstrom
Größtes Plus dieses Romans ist einerseits, dass Heidi Furre dem Opfer eines noch immer gerne verschwiegenen Themas eine Bühne gibt. Andererseits sind es die unzähligen äußerst prägnant formulierten, von Karoline Hippe klar übersetzten Sätze, die inmitten der eher langweiligen Alltagsschilderungen herausragen:

Der Vorfall war wie ein Komet. Er umkreiste mich in unregelmäßigen Flugbahnen. (S. 30)

Ich wurde von einem Werwolf gebissen. Es ist irreversibel, der Biss geht nicht weg, egal was ich tue. (S. 54)

Es ist eine Wunde, die ständig neue Formen annimmt, und bei jedem Kontrollverlust wieder aufreißt. (S. 167)

Auch die Hochglanz-Covergestaltung und die Abbildungen im Vor- und Nachsatz von Niki de Saint Phalle, ebenfalls Vergewaltigungsopfer und im Text präsent, sind überaus passend und gelungen. Allerdings spiegelt der ungeordnete Gedankenstrom zwar Livs innere Zerrissenheit, aber die im Klappentext versprochene „Schlagkraft“ hat der Text für mich leider trotzdem nicht versprüht. Eine Entwicklung der Protagonistin ist kaum wahrnehmbar, auch wenn sie sich endlich ihrer Freundin Frances und Terje öffnet, und das Ende war mir zu abrupt und zu vage. Statt einer Therapie flüchtet Liv in Pillen, bisweilen Alkohol, exzessives Shoppen und eine extreme Fixierung auf ihr Äußeres, ohne dass es ihrem Mann aufzufallen scheint. Für ihre kleinen Kinder fürchtet Liv, dass sie ihr Trauma weitergeben und keine gute Mutter sein könnte, aber Zeit scheint sie kaum mit ihnen zu verbringen.

Auf Abstand
Macht
ist ein Roman über den Umgang mit einem Trauma und zeigt die inneren Kämpfe, die Scham, die Zweifel und den nicht nachlassenden Schmerz einer Betroffenen. Leider hält die Protagonistin jedoch nicht nur ihr Umfeld, sondern auch uns Leserinnen und Leser so stark auf Abstand, dass mich das Buch, obwohl ich es mir aufgrund des Themas gewünscht hätte, nur teilweise erreichte.

Heidi Furre: Macht. Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe. DuMont 2023
www.dumont-buchverlag.de