Kirsten Boie: Skogland brennt

  Topaktueller Politthriller für ältere Jugendliche

Das Kinderbuch Skogland, erschienen 2005, ist für mich einer der besten modernen Kinderromane und sticht auch im herausragenden Werk von Kirsten Boie noch hervor. Wie die Autorin für Kinder ab 11 Jahren vom großen Abenteuer der schüchternen 14-jährigen Jarven aus einer norddeutschen Kleinstadt erzählt, die sich plötzlich als Prinzessin des fiktiven nordeuropäischen Skogland wiederfindet und dort zum Spielball in den politischen Auseinandersetzungen zwischen dem dominierenden Süden und dem unterdrückten Norden wird, ist ebenso spannend wie lehrreich.

In der Fortsetzung aus dem Jahr 2008, Verrat in Skogland, gerät die junge Demokratie im inzwischen vereinigten Königreich Skogland durch einen Putschversuch in große Gefahr und Jarven, die noch mit ihrer neuen Rolle als Prinzessin kämpft, steht erneut mittendrin. Beide Bände handeln gleichermaßen von der Entwicklung der Protagonistin wie von politischen Themen: Rassismus, Einwanderung, Unterdrückung, Machtmissbrauch, Aufstand, Diktatur und Demokratie.

© B. Busch. Cover: © Kein & Aber, Oetinger.

Ein Jugendroman mit realem Vorbild
2024 hat Kirsten Boie die Reihe nochmals fortgesetzt, wobei sich Skogland brennt, wie man an der furchterregenden Triggerwarnung am Ende des Buchs erkennt, an Jugendliche frühestens ab 15 Jahren richtet. Obwohl man die Vorgängerbände dank eingebauter Erklärungen und Personenregister nicht kennen muss, ist es doch hilfreich. Reales Vorbild der Handlung ist das Attentat des norwegischen Rechtsextremisten Anders Behring Breivik vom 22.07.2011 in Oslo und auf der Insel Utøya. Sowohl der zeitliche Ablauf als auch das Ausmaß an Opfern stimmen überein.

Wie in dem vorzüglichen, wenn auch schwer erträglichen Sachbuch Einer von uns der norwegischen Journalistin Åsne Seierstad über die Breivik-Attentate geht es mit dem Massaker auf der Insel los. Beide Bücher beginnen mit einem rennenden Kind und blenden nach einem kurzen Einführungskapitel zurück.

Kirsten Boie: Skogland-Reihe.Collage: © B. Busch. Cover: © Oetinger.

Alte Seilschaften und jugendliche Ungeduld
Jarven, halb Süd-, halb Nordskogin, hat sich nach knapp zwei Jahren inzwischen in Skogland eingelebt. Die zunächst feindlich gesinnte Südskogin Ylva von Thunberg ist ihre beste Freundin, Joas, der Sohn des neuen Innenministers aus Nordskogland, ihr Freund. Trotz eines Gesetzes zur Gleichstellung beider Landesteile kehrt in Skogland keine Ruhe ein. Junge nordskogische Rebellen verüben Anschläge, weil ihnen die Angleichung zu langsam geht. Radikale Südskogen nutzen diese für ihre Zwecke, kämpfen gegen den Verlust ihrer Privilegien, sabotieren die neue Regierung und gründen die Arisch Patriotische Partei (APP). Durch Intrigen und Fake-News in den sozialen Medien wollen sie das Rad der Geschichte zurückdrehen.

Während Jarven und Ylva ein gemeinsames Sommercamp für nord- und südskogische Jugendliche auf der Insel Sommarsö planen, radikalisiert sich ihr Mitschüler Hjalmar von Söderberg, ein größenwahnsinniger Außenseiter und Schulverweigerer aus altem südskogischem Adel, immer mehr. Er fühlt sich zum Retter der arischen Rasse berufen und ordert im Darknet Materialien zum Bombenbau und Waffen. In 137 kurzen Kapiteln aus wechselnder Perspektive entwickelt sich temporeich das unheilvolle Geschehen.

Terror versus Vision
Wie immer in ihren Kinder- und Jugendbüchern traut und mutet Kirsten Boie ihren Leserinnen und Lesern sehr viel zu, selbst mir als Erwachsener stockte immer wieder der Atem. „Show, don’t tell“ ist oberstes Gebot, nirgends sieht man den mahnenden Zeigerfinger. Stattdessen stellt die Autorin dem größenwahnsinnigen Faschisten und kaltblütigen Mörder, der sich als erbärmlicher, isolierter Feigling entpuppt, die Vision von einem besseren Skogland gegenüber, für das es jedoch Geduld, Großzügigkeit, Mut, Vertrauen und verlässliche Freundschaften braucht.

Ein topaktueller, höchst spannender, großartig geschriebener Jugend-Politthriller mit einem starken Plädoyer für Gerechtigkeit, Toleranz und Zusammenhalt.

Kirsten Boie: Skogland brennt. Oetinger 2024
www.oetinger.de

 

Weitere Rezensionen zu Büchern von Kirsten Boie auf diesem Blog:

                   

Anšlavs Eglītis: Schwäbisches Capriccio

  Zwischen Krähwinkel und Idylle

Vier Jahre lang hatte der Schriftsteller Anšlavs Eglītis (1906 – 1993) während seines Exils in Tailfingen auf der Schwäbischen Alb Zeit, die Eigenheiten der Älblerinnen und Älbler und ihr Miteinander zu studieren. 1944 aus seiner Heimat Lettland vor der vorrückenden Roten Armee geflohen und in Berlin ausgebombt, strandete er Anfang 1945 auf dem Weg in die Schweiz zufällig in der schwäbischen Kleinstadt, die er erst 1949 Richtung USA wieder verließ. Diese Eckdaten stimmen, obwohl das 1951 im US-Exil erschienene Buch Schwäbisches Capriccio gewiss keine Autobiografie ist, mit denen seines Protagonisten Pēteris Drusts überein. Auch der will zunächst nur eine Nacht in „Pfifferlingen“ bleiben:

Was für eine lächerliche Vorstellung, ohne Not in diesem unbedeutenden Nest zu bleiben. (S. 15)

In 20 Episoden, in denen Pēteris Drusts nicht immer selbst auftaucht, werden die Pfifferlingerinnen und Pfifferlinger auf höchst unterhaltsame Art lebendig. Manche tauchen mehrmals auf, bei anderen weiß man es wegen häufiger Namensgleichheit nicht genau, denn bei den Vor- und Nachnamen herrscht wenig Kreativität. Überhaupt ist der Gleichklang in Pfifferlingen groß: die Hausfrauen führen ihre Arbeiten synchron durch, alle Einwohnerinnen und Einwohner haben die gleichen roten Wangen, mutmaßlich wegen der arktischen Temperaturen in den ungeheizten Schlafzimmern, und die „Liliputhäuschen“ sind einheitlich weiß und adrett.

Am Ende der Welt
Warum aber bleibt der studierte Weltbürger Drusts trotz des merkwürdig unverständlichen Dialekts, der sprichwörtlichen Sparsamkeit bis hin zum peinlichen Geiz, dem ungenießbaren Most, der allgemeinen Schläfrigkeit und bisweilen Einfältigkeit, sonderbaren Traditionen, dem Beharren auf dem Althergebrachten, der übersteigerten Standorttreue und der Ignoranz der Welt draußen trotzdem ganze vier Jahre in diesem „schlimmen Krähwinkel“? Schon als seine Zimmerwirtin ihm die erste Mahlzeit serviert, schwant ihm, solche „Provinznester“ könnten ihre Vorzüge haben. Und wirklich:

In ganz Europa tobte der Krieg, aber in Pfifferlingen bekam man davon so gut wie nichts mit. (S. 59)

Anšlavs Eglītis: Schwäbisches Capriccio. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Guggolz.

Nach der Trümmerstadt Berlin ist Pfifferlingen zwar ein überaus spießiges Provinzstädtchen, dafür aber intakt und gepflegt und mit optimal an ihren Mikrokosmos angepassten Einheimischen. Man grüßt freundlich, nie herrscht Eile, ein natürlicher Widerspruchsgeist sorgt für den kreativen Umgang mit Anordnungen von oben oder außerhalb und Ausländern geht es „eindeutig besser als in Preußen“ (S. 43), ein Landstrich, der bei Drusts nach den verhassten Russen ebenfalls schlechter wegkommt als Schwaben. Beim Abschied schwingt daher Wehmut mit:

Er verspürte eine eigenartige Wärme gegenüber dieser fremden Stadt, die ihm einen friedlichen und behaglichen Unterschlupf gewährt hatte. (S. 294)

Nicht nur heiter
„Ein ungewöhnliches Buch, das in keine Kategorie passen will“, nennt der Übersetzer Berthold Forssman Schwäbisches Capriccio in seinem vorzüglichen Nachwort, und das Titelblatt nennt keine Genrezuordnung. Für mich ist es trotz der Einzelepisoden ein Roman: mit der Kleinstadt Pfifferlingen als durchgängigem Protagonisten und einem Schlusskapitel, das virtuos den Bogen zum Anfang schlägt, was das Buch großartig abrundet.

Auch oder gerade als Schwäbin habe ich Schwäbisches Capriccio mit großer Freude gelesen und darüber gegrübelt, was davon schwäbisch, deutsch oder einfach ländlich ist. Ich habe über die grotesk überzeichnete Pfifferlinger Einfalt, die messerscharfe Beobachtungsgabe des Autors und seine humorvoll-bissige Erzählweise gelacht, wurde ernst bei Themen wie der sowjetischen Okkupation Lettlands oder der zweifelhaften deutschen Entnazifizierung oder war gerührt von Pfifferlinger Befindlichkeiten, Drusts Heimweh oder seinem Liebeskummer.

Ein weiterer neuentdeckter Klassiker aus dem Verlag Guggolz, dessen Lektüre sich unbedingt lohnt.

Anšlavs Eglītis: Schwäbisches Capriccio. Aus dem Lettischen und mit einem Nachwort von Berthold Forssman. Guggolz 2024
guggolz-verlag.de

Trygve Gulbranssen: Und ewig singen die Wälder

  Ein Fels in der Brandung

Was könnte sich besser als Vorlesestoff auf einer langen Reise durch Norwegen eignen, als die weltweit in über 12 Millionen Exemplaren verkaufte und in über 30 Sprachen übersetzte Björndal-Trilogie von Trygve Gulbranssen (1894 – 1962)? Die historische Familiensaga aus dem ländlichen Ost-Norwegen umfasst die Bände Und ewig singen die Wälder, im Original 1933 erschienen, und die auf Deutsch unter dem Titel Das Erbe von Björndal zusammengefassten Teile zwei und drei von 1934/35.

Zwei verfeindete Höfe
Und ewig singen die Wälder
beginnt in den 1760er-Jahren. Zwischen dem Dorf im offenen Land mit dem mächtigen Hof Borgland der Adelsfamilie von Gall und dem aufstrebenden Björndaler Waldhof herrschen seit jeher Misstrauen und Vorurteile:

Aber sie kamen einander nicht nahe, die Menschen aus den Wäldern und die aus dem offenen Land. Nie hatten sie miteinander gesprochen. Stolz gingen die aus dem offenen Land an den Waldleuten vorbei, wenn sie sich trafen – hielten sie für Pack und Schlimmeres und begegneten ihnen nicht gern in der Dunkelheit. […] Man hielt sie kaum für Christen, und Zauberei, Zügellosigkeit und wüste Schlägereien wurden ihnen nachgesagt. (S. 9)

Während in der Siedlung im offenen Land der einstmals wertlose Wald zugunsten von Wiesen, Äckern und Viehzucht gerodet und damit jegliche Verbindung zur Wildnis unterbunden wurde, leben die Björndaler noch nahe an der unkultivierten Natur und pflegen ihre Traditionen:

Und nördlich vom offenen Land hatte der Wald seit jeher bestehen dürfen. Dunkel und mächtig sang er sein altes Lied über Höhen und Hänge unendlich nach Norden fort. Trolle, Huldren und Spuk aller Art waren dort zu Hause. (S. 8)

Drei Generationen der starken, immer reicheren Björndaler begleitet der erste Band der Trilogie: Torgeir Björndal, seine Söhne Tore und Dag, die mit Hilfe des Handelshauses Holder in der Stadt erfolgreich Geschäfte machen, und Dags Söhne, wiederum Tore und Dag genannt. Beide Dags überleben ihre Brüder, beide heiraten Frauen aus der Stadt: der alte Dag die reiche Erbin Terese Holder, der junge Dag die verarmte Majorstochter Adelheid Barre.

Trygve Gulbranssen: Und ewig singen die Wälder. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Ullstein.

Die lange Kette
Und ewig singen die Wälder ist ein Roman im romantischen Stil, inspiriert von norwegischen Volkserzählungen und Berichten über die bäuerlichen Vorfahren des Autors aus dem Mund seiner Mutter. Stets steht die Bedeutung des Geschlechts über der des Einzelnen, begreifen sich die Björndaler als Glieder einer Kette aus Vor- und Nachfahren. Zentral sind die inneren Kämpfe des alten Dag, seine kaum beherrschbaren Rachegelüste, sein Hadern mit Gott, sein Stolz, aber auch sein Verhältnis zur Barmherzigkeit.

Ein unverwüstlicher Roman
Zu Unrecht wurde Trygve Gulbranssen nach 1945 Nähe zum Nationalsozialismus vorgeworfen. Im Gegensatz zu seinem deutschen Verlag Langen-Müller hielt er sich bewusst von den Nazis fern und teilte die Ideologie der deutschen Besatzer nicht.

Auch wenn der Roman mit seiner epischen Erzählweise, seiner Pathetik und seinem Rollenbild heute etwas aus der Zeit gefallen scheint, lohnt sich die Lektüre auch fast 100 Jahre nach seinem Erscheinen noch: wegen seiner Schilderungen der Natur im Kreislauf der Jahreszeiten, der unbeugsamen Menschen und des ländlichen Milieus seiner Zeit. Deshalb möchte ich unbedingt bald die Fortsetzung lesen über die Björndaler und ihren Hof, der wie ein Fels in der Brandung steht:

Jahre vergingen, die Zeiten änderten sich draußen in der Welt; doch auf Björndal blieb alles beim alten. (S. 85)

Trygve Gulbranssen: Und ewig singen die Wälder. Übersetzt von Ellen de Boor. Ullstein 1978

Giulia Caminito: Das große A

  Italien – Afrika und zurück

„Seit vielen Jahren ist Wagenbach der deutschsprachige Verlag mit den meisten Büchern aus und über Italien“, heißt es in der Broschüre, die dem erst 2024 übersetzten Debütroman Das große A von Giulia Caminito aus dem Jahr 2016 beiliegt. Zuvor erschienen von ihr auf Deutsch bereits Ein Tag wird kommen (2020) und Das Wasser des Sees ist niemals süß (2022), alle drei in Italien preisgekrönt. Die 1988 geborene Autorin gehört zur Delegation des Ehrengastlands Italien auf der Frankfurter Buchmesse 2024, das seine Literatur unter dem Motto Verwurzelt in der Zukunft präsentiert.

Giulia Caminito: Das große A. Collage: © B. Busch. Cover: © Wagenbach.

Der Traum von Afrika
Kein Wunder, dass sich die fantasiebegabte, sehr schmächtige Giadina, genannt Giada, während und nach dem Zweiten Weltkrieg weg aus dem Bombenhagel und vom Hunger im lombardischen Provinzstädtchen Legnano nahe Mailand wünscht. Ihre Sehnsucht gilt dem „Großen A“, Afrika, wo ihre Mutter Adele, männlicher Spitzname Adi, lebt, seit sie die Familie verlassen hat. In Assab in der ehemaligen italienischen Kolonie Eritrea, die seit 1941 Großbritannien untersteht, führt sie die Bar „Da Adi“. Ihre drei Kinder sind bei verschiedenen Familien untergebracht, Giada bei Adis liebloser faschistischer Schwester, die das Kostgeld unterschlägt.

Zum Jahreswechsel 1949/50 geht Giadas Wunsch endlich in Erfüllung: von Venedig aus fährt die inzwischen Siebzehnjährige ans Horn von Afrika:

Giada würde viele Dinge des großen A lieben. (S. 65)

Aber als sie das erste Mal ankam, waren alle Träume verflogen, wer weiß wohin, mit Sack und Pack emigriert. (S. 67)

Caminito, Giulia: Das große A. Wagenbach 2024. Foto: © M.A. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: Wagenbach.

Vom Mädchen zur Frau
Statt in einem gemütlichen Zimmerchen mit rosa Spitzengardinen für sich allein findet sich Giada in den Hinterzimmern der Bar wieder, in der sie abwechselnd mit der Mutter bedient. Unerträgliche Hitze, jahrelange Trockenheit, salzige Luft, das Nichts der Wüste, Staub, Dreck, Verwahrlosung, stechende Gerüche und kaum geselliges Leben – nichts davon hat sie erwartet. Aber es gibt auch den jungen Hamed, dem sie Lesen und Schreiben beibringt und mit dem sie lacht, ihre geliebte Gazelle Checco, die das Dasein als Haustier nicht lang überlebt, und schließlich den ebenso gutaussehenden wie unzuverlässigen und rastlosen Giacomo Colgada aus wohlhabender Familie in Asmara, der ihr Ehemann wird. An ihm, der nach Belieben auftaucht und verschwindet, und an seinen Eskapaden wächst Giadas Persönlichkeit in den folgenden Jahren, mit ihm geht sie nach Addis Abeba, Äthiopien, wo die Italiener ausgelassen ihr privilegiertes Leben genießen. Nichts hasst sie mehr, als Püppchen und Spielball zu sein, und für ihren Sohn Massi wird sie zur Löwenmutter. 1960, als das goldene Zeitalter für Italiener in Afrika endet, folgt sie ihrer Mutter, ihrem zweiten „Großen A“, ins fremd gewordene Italien nach Ravenna, ohne Gewissheit, ob Giacomo ihnen folgt.

Lesen mit allen Sinnen
Giulia Caminito hat sich bei ihrem Debüt für die Figur der Adele am Leben ihrer Urgroßmutter orientiert. Sie verbindet Themen wie Kolonialwesen, Faschismus, Rassismus, Auswanderung, Heimkehr und Fremdsein mit außergewöhnlich intensiven Naturschilderungen und den Lebenswegen zweier starker, zäher Frauen, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten männlichen Machtansprüchen Grenzen setzen. All dies ist sehr gelungen, wenn auch nicht so außergewöhnlich wie die Erzählweise: sprunghaft, oft aufzählend, aneinanderreihend, vieles nur andeutend, schroff, springend, alle Sinne ansprechend – kurz: großartig, wenn man bereit ist, sich darauf einzulassen.

Giulia Caminito: Das große A. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Wagenbach 2024
www.wagenbach.de

Weitere Rezension zu einem Roman von Giulia Caminito auf diesem Blog:

Irma Nelles: Die Gräfin

  Aussteigerin im Watt

Im Wattenmeer vor der nordfriesischen Halbinsel Nordstrand liegt, neben vielen anderen Halligen, die Hallig Südfall. Von 1910 bis zu ihrem Tod 1953 gehörte sie der 1863 geborenen Diana Gräfin von Reventlow-Criminil, die dort als Aussteigerin auf der einzigen Warft zunächst sommers, später ganzjährig mit wenigen Bediensteten und ihren Tieren lebte. Bis heute erinnert man sich in Nordfriesland an die eigenwillige und mutige „Hallig-Gräfin“, die dem Luxus im holsteinischen Schloss Emkendorf und dem Umgang mit dem europäischen Hochadel zugunsten eines schlichten Lebens ohne Strom und fließendem Wasser entsagte. Die 1946 geborene und kurz vor der Veröffentlichung ihres Debütromans Die Gräfin verstorbene Autorin Irma Nelles stammt von der Insel Nordstrand und ist mit den Erzählungen um die Hallig-Gräfin aufgewachsen.

Ein überraschendes Ereignis
Sechs Tage am Ende des Sommers 1944 umfasst der nur 169 Seiten starke Unterhaltungsroman, in dem die Autorin auf das Leben der inzwischen 80-jährigen Gräfin blickt. Nach der Rückeroberung von Paris durch die Alliierten hoffen Diana und ihre wenigen Vertrauten, die immer wieder Verfolgten zur Flucht verhelfen, auf ein rasches Kriegsende. Doch zuvor findet Diana im Watt einen abgestürzten Officer der Royal Airforce, John Philip Gunter, und dessen einmotoriges Aufklärungsflugzeug. Zusammen mit ihrem Kutscher und Hausmeister Knut Maschmann, ihrer jungen Haustochter Meta Olsen und dem aus Nordstrand herbeigerufenen Ärztepaar Käthe und Carl Braack kümmert sie sich um den Verletzten und versteckt ihn vor der Gestapo und ihren Helfern.

Irma Nelles: Die Gräfin. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Hanserblau

Verschenktes Potential
Das große Plus dieses Romans sind zweifellos die sehr atmosphärischen Beschreibungen der nordfriesischen Natur und des Hallig-Lebens. Da pfeift der Wind zwischen den Seiten, lebt man unter dem Diktat von Ebbe und Flut, blickt ängstlich auf die Sturmflut des Jahres 1936 zurück und sieht den „silbern flirrenden Horizont“ sowie die „nur wenige Zentimeter mit Wasser bedeckte Meeresfläche, in der sich der Himmel spiegelte, als wären sie eins“ (S. 17). Genau wie den plattdeutschen Gesprächsteilen merkt man auch den Einsprengseln über den Heimat- und Rungholt-Forscher Andreas Busch (1883 – 1972) oder den von den Nationalsozialisten als entartet gebrandmarkten Föhrer Maler Gustav Mennicke (1899 – 1988), der zeitweise in Südfall Schutz fand, die Verbundenheit der Autorin mit ihrer Heimat an. Leider erreicht jedoch weder die unspektakuläre Romanhandlung noch die sprachliche Umsetzung diese Qualität und der Einbau des zweifellos interessanten Hintergrundwissens wirkt oft gekünstelt. Besonders die häufig leblosen Dialoge, die weniger der Interaktion der Sprechenden als der Information der Leserinnen und Leser dienen, haben mir nicht gefallen. Immer wieder verliefen Andeutungen im Sand, ergaben sich für mich Lücken in der Logik oder widersprach sich der Text, beispielsweise wenn die Hauptperson zunächst den Pomp auf dem heimatlichen Schloss als Grund für ihren Rückzug anführt, wenig später jedoch die „wundervolle Zeit“ (S. 109) preist. Unglaubhaft auch, dass der vom Arzt ins Gipsbett Verbannte bei der Bergung des Flugzeugs hilft und eine Liebesnacht erlebt. Die Monologe Dianas über ihre Leben konnte ich schwer mit dem Bild der wortkargen Frau in Einklang bringen, auch wenn die unerwartete Begegnung sie sehr bewegt.

Bei einem anderen Finale hätte ich vielleicht über manches hinweggesehen, doch bleibt mir der überaus plötzliche Schluss mit jeder Menge loser Fäden ebenso rätselhaft wie der Prolog. Schade, denn mit dem guten Gespür der Autorin für friesische Atmosphäre und ihrer interessanten Protagonistin wäre mehr möglich gewesen.

Irma Nelles: Die Gräfin. Hanserblau 2024
www.hanser-literaturverlage.de/verlage/hanserblau

Ljuba Arnautović: Erste Töchter

  Wie viele Heimaten passen in einen Körper?

 

 

Das Schicksal der Familie Arnautović lässt an ein Schachspiel denken: Zuerst wird der Vater Karl auf dem Schachbrett der europäischen Geschichte erbarmungslos herumgeschoben, dann degradiert er seine vier Ehefrauen und seine Kinder zu Schachfiguren, die er nach Belieben versetzt.

Schutzbundkinder
1934
wird der neunjährige Karl zusammen mit seinem älteren Bruder Slavko, Söhne österreichischer Sozialisten, als sogenanntes Schutzbundkind ins vermeintlich rettende Exil in die Sowjetunion geschleust. Auf gute Jahre folgen sowjetische Kinderheime, Leben auf der Straße und Jugendgefängnis, nachdem sie als Volksfeinde in Stalins Terrormühle geraten sind. Slavko kommt bereits 1942 um, Karl überlebt zehn Jahre im Gulag. Erst Ende 1955 kehrt er heim, wird nie wieder seine nächtlichen Geister los und kennt nur noch ein Ziel:

Nie wieder Opfer sein! (S. 11)

Ljuba Arnautović: Erste Töchter. Foto: © B. Busch. Cover: © Zsolnay

Vier Ehen, sechs Kinder
Dafür wird er, der nur filterlos raucht, bis zu seinem Tod im Jahr 2000 viermal eine zu seinem jeweiligen Lebensabschnitt passende Frau heiraten: Die Russin Nina ist ihm nach der Freilassung aus dem Gulag nützlich und ist die Mutter seiner Töchter Luna und Lara. Erika, Slavkos Ex-Freundin, verhilft ihm in Wien zum Berufseinstieg und betreut die Töchter, die er der in Österreich hilflosen Nina entreißt. Dörte, die dritte und promovierte Ärztin aus gutem Haus, bringt vier Kinder zur Welt und verschafft ihm in München Zutritt in eine höhere Gesellschaftsschicht. Während der Ehe mit ihr nimmt er Luna und Lara zu sich nach München, schickt die rebellierende Lara jedoch bald zurück zu ihrer leiblichen Mutter Nina nach Wien. Ludmila, die späte vierte Ehefrau, ist wiederum Russin.

Im Mittelpunkt stehen jedoch die beiden Schwestern Luna und Lara, die auf Karls Geheiß Orte, Schulen, Heime und Mütter wechseln und die er schließlich, als sie dreizehn und zehn Jahre alt sind, auseinanderreißt:

Die Schwestern sind fortan wie Erich Kästners doppelte Lottchen in einem ihrer Lieblingsbücher, sogar ihre Vornamen beginnen mit einem L. […] Nur wird in dieser echten Geschichte das Happy End ausbleiben. (S. 51)

Wie unterschiedlich sich ihrer beider Leben entwickeln, sie sich entfremden und durch äußere Ereignisse schließlich wieder annähern, erzählt die 1954 in Kursk geborene, in Wien lebende Autorin Ljuba Arnautović in kurzen, zeitlich vor- und zurückspringenden Sequenzen. Nicht immer habe ich verstanden, warum über einzelne Ereignisse vergleichsweise ausführlich, über andere, in meinen Augen wichtigere, dagegen sehr verkürzt berichtet wird. Im Hintergrund läuft, soweit es für Lunas politische Entwicklung von Bedeutung ist, die Zeitgeschichte: Studentenunruhen, Konsumverweigerung, Frauenbewegung, Hausbesetzungen, die RAF.

Dritter Teil einer Familiengeschichte
Erste Töchter
ist ein autofiktionaler Roman, vor allem in der Figur Lara betont die Autorin in ihrer Danksagung ausdrücklich die Fiktion. Leider wusste ich nicht, dass es zwei Vorgängerbände gibt: Im Verborgenen von 2018 über Karls Mutter Eva und Junischnee von 2021 über Karl. Obwohl der nur 155 Seiten starke Roman Erste Töchter in 39 Kapiteln viele biografische Splitter enthält, bleibt doch ohne Kenntnis der anderen Bände manches unklar, tauchen Personen ebenso unvermittelt auf, wie sie wieder verschwinden, was unbefriedigend ist und mir stellenweise unfertig erschien. Trotzdem hat sich für mich die Lektüre dieses sehr emotionslos und berichthaft geschriebenen Buches gelohnt: wegen eines mir bislang unbekannten Puzzleteils der Geschichte und einer Frau, die sich angesichts eines Besuchs bei der Großmutter in Kursk fragt:

Sie hat doch schon zwei Heimaten – wie viele passen in einen Körper? (S. 79)

Ljuba Arnautović: Erste Töchter. Zsolnay 2024
www.hanser-literaturverlage.de/verlage/zsolnay

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Brennende Felder

  Rauschkind

 

Im oberösterreichischen Rosental, einem fiktiven Dorf nahe Wels, brennen in der Sommerhitze heißgelaufene Mähdrescher und Ballenpressen, fast als stünden die Felder in Flammen. Von den apokalyptischen Bildern bemerkt die Protagonistin Luisa Fischer zunächst nichts, kreisen ihre Gedanken doch beständig nur um eines: sie selbst.

Brennende Felder von Reinhold Kaiser-Mühlecker, 1982 in Oberösterreich geborener Bio-Landwirt und Schriftsteller, ist der dritte Roman um die drei Kinder der Bauernfamilie Fischer. Während der älteste Sohn, Alexander, aus Fremde Seele, dunkler Wald sich von den Eltern abwandte, übernahm der jüngere, Jakob, aus Wilderer den Hof. Luisa floh früh aus der Familie und dem Dorf. Zwei gescheiterte Ehen später, mit einer beachtlichen Liste verflossener Wohnorte, verlassener Liebhaber und zwei bei den Vätern in Göteborg und Kopenhagen zurückgebliebenen Kindern, lebt sie seit kurzem wieder in ihrem Heimatdorf. Neuer Lebenspartner ist ausgerechnet Robert/Bob Fischer, der Mann, den sie für ihren Vater hielt, bis die Mutter ihr bei einem Streit an ihrem fünfzehnten Geburtstag das Wort „Rauschkind“ entgegenschleuderte. Keinen Gedanken verschwendet Luisa an Mutter und Brüder. Erst spät fällt ihr auf, dass sie und Bob mit der riesigen Fensterfront der Villa lebten, „als wären sie die Hauptdarsteller einer sehr speziellen, noch nie dagewesenen und bizarren Realityshow“ (S. 137)

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Brennende Felder. Collage: © B. Busch. Cover: © S. Fischer

Ein wiederkehrendes Schema
Dabei befindet sich ihre Beziehung zu Bob am Beginn des Romans bereits in einer fortgeschrittenen Phase von Luisas Beziehungsschema: Anziehung – Alltagslangeweile – Ausstiegsphantasien – Abbruch – Abscheu. Das Ende ist nur eine Frage der Zeit und ernsthafter Alternativen, da löst sich das Problem auf höchst abenteuerliche Weise von selbst.

Wie immer dauert es nicht lange, bis sie den nächsten Kandidaten aufs Korn nimmt: Ferdinand Goldberger, allseits beliebter Ministerialbeamter im Landwirtschaftsministerium und Hofbesitzer in Rosental mit elfjährigem Sohn. Ein neues Spiel beginnt.

Zwischen Lachen und Weinen
Ich habe mich zu Beginn des Romans mit der mehr als speziellen Protagonistin und ihrer verqueren Selbstwahrnehmung gequält, gar zu überzogen erschienen mir ihr Charakter und die Ausgangslage. Sobald ich beides jedoch akzeptiert hatte, entwickelte Luisas ungebremster Gedankenstrom einen unerwarteten Sog und ließ mich schwanken zwischen Lachen über ihr völlig abstruses Selbstbild und ihre schriftstellerischen Ambitionen und Weinen über die verbrannte Erde, die sie rundherum und besonders bei ihren Kindern hinterlässt. Mag ihr auch unter den unsympathischen Figuren der Literatur ein Spitzenplatz zukommen, als Romanfigur ist sie dank ihrer manischen Selbstüberschätzung, Widersprüchlichkeit, Egomanie, Rücksichtslosigkeit und eingebildeten Opferrolle auf erschreckende Art interessant. Schade nur, dass ich ohne Kenntnis der beiden anderen Bände so gar kein Gefühl für Luisas Familie bekam, vielleicht hätte ich sonst besser verstanden, wie sie zu einer derartigen Person werden konnte. Geholfen haben mir dagegen die sporadisch in den unzuverlässigen Erzählstrom eingestreuten klarsichtigen Momente und die Urteile anderer:

War es nicht ungeheuerlich, dass Hjalmar damals gesagt hatte, sie sei gestört und solle sich in Behandlung begeben? (S. 314)

Brennende Felder ist ein Buch mit Leerstellen, die Raum für Spekulationen (oder einen Folgeband?) lassen. Nur als Randthemen schwingen die aktuelle Situation der Landwirtschaft oder Umweltproblematiken mit, weshalb es für mich kein typischer Dorf- oder Heimatroman ist. Vielmehr ist es die gekonnt geschriebene Geschichte einer krankhaften, sich beharrlich der Realität verweigernden und zunehmend gefährlichen Frau, der ich im wahren Leben niemals begegnen möchte.

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Brennende Felder. S. Fischer 2024
www.fischerverlage.de

Interview mit der Übersetzerin Antje Subey-Cramer

Antje Subey-Cramer arbeitet nach einem Studium der Nordistik und Musikwissenschaft als freie Lektorin und Übersetzerin. Zum ersten Mal begegnete mir ihr Name als Übersetzerin des sehr empfehlenswerten Jugendbuchs „Battle“ von Maja Lunde aus dem Norwegischen. Inzwischen schätze ich sie vor allem für ihre hervorragenden Übersetzungen der Bücher des Norwegers Edvard Hoem. Drei Titel von ihm liegen mittlerweile in ihrer Übersetzung im Verlag Urachhaus vor: „Die Hebamme“ (2021), „Der Geigenbauer“ (2022) und „Der Heumacher“ (2024).

Im Herbst 2023 habe ich Antje Subey-Cramer bei einer Lesung von Edvard Hoem in Hamburg kennengelernt. Was sie mir über ihre Arbeit erzählt hat, war so interessant, dass ich sie nun um ein Interview für meinen Blog gebeten habe.

Antje Subey-Cramer. © privat

Liebe Frau Subey-Cramer, mit „Der Heumacher“ ist im Frühjahr 2024 schon der dritte Roman von Edvard Hoem in Ihrer Übersetzung erschienen. Worin liegt für Sie die Besonderheit dieses Autors?

Edvard Hoem verfügt über eine ganz eigene, besondere Sprache – schlicht und ungekünstelt. Dadurch treten die Beschreibungen der Figuren und der Landschaft klar hervor, ohne sprachliche Überfrachtung, trotzdem atmosphärisch dicht. Das verleiht seinen Geschichten eine besondere Authentizität.

In Norwegen gibt es zwei unterschiedliche Schriftsprachen, Nynorsk und Bokmål. Edvard Hoem schreibt im seltener genutzten Nynorsk. Welche Bedeutung hat das für seine Texte?

Nynorsk, eine Schriftsprache, die im Zuge der Nationalromantik Mitte des 19. Jahrhunderts aus den vielen west- und zentralnorwegischen Dialekten gebildet wurde (als Antwort auf das als „unnorwegisch“ und feiner geltende Bokmål, das ans Dänische angelehnt ist), gilt als ungekünstelt, direkt, als „Sprache des Volkes“. Insofern kann man vielleicht sagen, dass Nynorsk die sprachliche Form ist, die Edvard Hoems literarischer Sprache am besten entspricht und mit ihr sehr gut harmoniert. Letztlich liegt Nynorsk Edvard Hoem aber auch schlicht näher als Bokmål, denn dort, wo er aufgewachsen ist, ist Nynorsk die vorherrschende Schriftsprache.

Gibt es Besonderheiten in der norwegischen Sprache, die im Deutschen anders oder gar nicht funktionieren?

Das Gute (und manchmal auch das Gefährliche …) ist, dass die beiden Sprachen sich so ähnlich sind. Oft lese ich einen Satz und habe sofort die (für mein Empfinden!) adäquateste Entsprechung im Ohr. Schwierig zu übersetzen sind endlose Schachtelsätze, die man beim Lesen des norwegischen Originals überhaupt nicht als solche empfindet. Würde man sie aber eins zu eins übersetzen (also zum Beispiel eine lange Reihung von Relativsätzen übernehmen), wird der Zieltext nicht nur unübersichtlich und schwer verständlich, sondern auch schwerfällig und holprig zu lesen. Hier muss man oft eingreifen und die Sätze trennen.

Edvard Hoem nutzt oft ein sehr spezielles, auch älteres Vokabular, ich denke beispielsweise an die Fachbegriffe zum Geigenbau oder zum Heumachen. Nutzen Sie dafür auch speziell alte Wörterbücher? Und wie gehen Sie vor, wenn Sie keine Übersetzung finden?

Ich verwende tatsächlich verschiedene Wörterbücher, und zwar nicht nur norwegisch-deutsche (bzw. Bokmål-Deutsch oder Nynorsk-Deutsch). Wichtig sind für mich auch die Wörterbücher, die die Herkunft und Bedeutung alter Begriffe erklären – sowohl im Norwegischen als auch im Deutschen. Zum Glück gibt es mittlerweile die Möglichkeit, manche dieser Wörterbücher im Internet abzurufen. Das „Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache“, DWDS (der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute), ist eine große Hilfe, wenn man versucht, Entsprechungen für ein Wort zu finden, das eine Figur in einer bestimmten Zeit gebraucht haben könnte. Da ist meine Frage oft: Kann die Figur dieses Wort schon gekannt haben, oder ist es zu neu? Wenn ich nicht ganz sicher bin, was ich mir unter einem Begriff vorstellen soll (weil er so alt ist und ich keine zufriedenstellende Übersetzung finde), dann lese ich auch gerne im „Store norske leksikon“ nach. Hier findet man hilfreiche Informationen zur Etymologie und zur Verwendung des Begriffs in unterschiedlichen Zusammenhängen.

Abgesehen von den Wörterbüchern, die im Internet zur Verfügung gestellt werden, benutze ich im Übrigen auch die Möglichkeit, Bibelübersetzungen aus verschiedenen Zeiten im Internet einzusehen. Das ist besonders bei den Romanen von Edvard Hoem hilfreich, der sich häufig auf Bibelstellen bezieht oder Figuren aus der Bibel zitieren lässt. Wenn der Roman im 19. Jahrhundert spielt, kann ich natürlich nicht die Revision der Lutherbibel von 1984 verwenden …

Haben Sie vor, während oder nach der Übersetzungsarbeit Kontakt zum Autor?

Ich habe meist gegen Ende der Übersetzung Kontakt zum Autor, wenn sich ein paar Fragen angesammelt haben. Die Besonderheit bei Edvard Hoem ist, dass er selbst sehr gut Deutsch spricht und meinen Text liest, bevor dieser in den Druck geht. In diesem Stadium kommen wir häufig noch einmal über den einen oder anderen Punkt ins Gespräch. Zum Beispiel fragte er mich, warum ich prest nicht mit „Pfarrer“, sondern mit „Pastor“ übersetzt habe. Dass der Begriff „Pastor“ im Deutschen ganz eindeutig auf einen evangelischen Geistlichen hinweist, der Begriff „Pfarrer“ dagegen sowohl für katholische als auch evangelische Geistliche benutzt werden kann, war ihm neu. Und ein-, zweimal sind ihm auch Übersetzungsfehler aufgefallen – dafür war ich dann sehr dankbar.

Lesen Sie die zu übersetzenden Bücher, bevor Sie mit der Arbeit beginnen? Oder lassen Sie sich überraschen?

Ich lese die Bücher auf jeden Fall vorher und entdecke dabei schon die eine oder andere „Klippe“, die es eventuell zu umschiffen gilt. Dann mache ich mir Notizen am Rand, manchmal schon mit konkreten Lösungsideen. Das Interessante ist, dass ich beim Übersetzen häufig wieder zu ganz anderen Lösungen gelange, die sich erst im Fluss des Übersetzens ergeben und sich viel organischer einfügen als die erste Idee.

Die Kunst des Übersetzens ist nicht nur eine mechanische Aufgabe, sie erfordert auch ein hohes Maß an Kreativität und Flexibilität. Wie finden Sie die Balance zwischen Texttreue, Anpassung kultureller Nuancen und dem Jonglieren mit verschiedenen Bedeutungen?

Die von Ihnen beschriebene Balance finde ich letztendlich durch das genaue Hören auf den Text. Für mich ist es immer ein langsames Herantasten an die je eigene Sprache des Buches, die je eigene Sprache des Autors. Es dauert manchmal eine Zeit, bis sich das Gefühl einstellt, dass man den Ton des Buches trifft. Das ist dann allerdings ein großartiges und sehr befriedigendes Erlebnis! Weil sich dieses Gefühl nicht immer sofort einstellt, habe ich Bücher auch schon mal in der Mitte angefangen zu übersetzen, um dann, wenn ich dort wieder angelangt war, noch einmal zu überprüfen, ob der Übergang „passte“. An die Rohübersetzung, also den ersten Durchgang, schließt sich ja dann noch ein zweiter Durchgang an, in dem ich mich sozusagen selbst lektoriere. Da fallen einem dann z.B. die Stellen auf, die sich nicht flüssig lesen lassen.

In Norwegen gibt es zahlreiche bisher noch nicht ins Deutsche übersetzte Romane von Edvard Hoem. Können wir uns auf weitere Übersetzungen von Ihnen freuen? Was plant der Verlag Urachhaus?

Zurzeit arbeite ich an der Übersetzung des Romans „Husjomfru“, also „Die Hausmamsell“. Hauptfigur ist Julie Hoem, die jüngste Tochter des Geigenbauers. Mit diesem Buch über eine seiner Ahninnen nimmt uns Edvard Hoem wieder mit in die Vergangenheit Norwegens. Wir tauchen ein in die Lebenswelt einer privilegierten Hausangestellten in Bergen Mitte bzw. Ende des 19. Jahrhunderts und lernen dabei ihre Sehnsüchte und Ziele, ihre Gedanken und Träume kennen.

Nur sehr wenige Verlage nennen die Übersetzerinnen und Übersetzer auf dem Cover. Wird nach Ihrer Ansicht den Übersetzerinnen und Übersetzern literarischer Werke zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt? Was würden Sie sich wünschen?

Mir persönlich genügt es vollkommen, im Innenteil des Buches genannt zu werden. Für mich besteht ein großer Unterschied zwischen der Kreativität literarischen Schreibens und der des literarischen Übersetzens. Als Übersetzerin beziehe ich mich auf einen bereits vorliegenden Text, ich reagiere darauf. Anders der Autor, der vor dem leeren weißen Blatt sitzt und quasi aus dem Nichts bzw. aus sich allein schöpft. Letzteres bewundere ich zutiefst und könnte es mir für mich selbst nicht vorstellen. Trotzdem bin ich manchmal belustigt, wenn sich Leser und Leserinnen so gar keine Gedanken darüber machen, wie eine Übersetzung zustande kommt. Bei unbedarften Lesern herrscht ja nicht selten die Meinung, es gäbe nur „die eine“, sogar „richtige“ Übersetzung (und damit ist dann häufig gemeint: die wörtliche).

In Zeiten von KI kann eine Frage nach ihrer Nutzung im Bereich literarischer Übersetzungen nicht fehlen. Nutzen Sie KI für Ihre Arbeit? Sehen Sie Ihren Beruf langfristig in Gefahr?

Nein, ich nutze KI nicht, und mir fehlt zurzeit auch die Fantasie, wie qualitativ hochwertiges literarisches Übersetzen durch KI geleistet werden könnte. Ich spreche hier natürlich nicht von qualitativ mittelmäßiges Übertragungen – die kann KI selbstverständlich generieren. Aber wenn ich an die Vielzahl von Synonymen denke, die mir zum Teil bei der Übersetzung eines Begriffs zur Verfügung stehen, und sehe, welche Überlegungen ich zugrunde lege, bevor ich mich für genau eines dieser Synonyme entscheide, weil es in meinen Augen der Sprache des Autors oder dem Lesefluss an dieser Stelle des Textes am gerechtesten wird, dann kann ich mir den Einsatz von KI tatsächlich nicht vorstellen.

Es gibt ja schon Anfragen von Verlagen, ob man als Übersetzer bzw. als Übersetzerin einen KI-generierten Text „überarbeiten“ könne – da wird dann natürlich kein Übersetzerhonorar gezahlt, sondern ein Lektoratshonorar. Ein solches Angebot finde ich unverschämt, und ich würde es in jedem Fall ablehnen.

Im August ist das Buch „Kindermärchen aus aller Welt“ erschienen, ein Vorlesebuch für Kinder ab fünf Jahren im Oetinger Verlag, das Sie herausgeben. Können Sie etwas darüber erzählen? Wie kam es zu der Idee und wie haben Sie die Auswahl getroffen?

Ja, das stimmt, allerdings erscheint dieses Buch bereits in zweiter Auflage – die erste ist aus dem Jahr 2019, insofern freut es mich sehr, dass der Verlag dieses Buch jetzt mit neuem Einband wieder herausbringt. Bevor ich mit dem Übersetzen angefangen habe, war ich als Lektorin tätig – zuerst festangestellt in einem Kinderbuchverlag, danach freiberuflich. Während dieser Zeit bekam ich den Auftrag, eine Märchensammlung zusammenzustellen. Das hat mich sehr gefreut, weil ich als Kind so gerne Märchen gelesen habe. Ich habe dann mithilfe vieler (zum Teil auch sehr alter) Bücher und Märchensammlungen Geschichten ausgesucht, die ich für Kinder geeignet fand und die zudem die vielfältigen Erzähltraditionen widerspiegeln, die es in verschiedenen Ländern gibt. Und meine Lieblingsmärchen sind natürlich dabei, zum Beispiel „Das Feuerzeug“ von H. C. Andersen.

Ganz herzlichen Dank für Ihre Zeit!

 

Rezensionen zu Büchern in der Übersetzung von Antje Subey-Cramer auf diesem Blog:

    Hoem  

Laura Spence-Ash: Und dahinter das Meer

  Irrungen, Wirrungen

Die Verschickung von Kindern zum Schutz vor gegnerischen Bombenangriff gab es im Zweiten Weltkrieg nicht nur in Nazideutschland. Während aber deutsche Schulkinder und Mütter mit Kleinkindern ab Oktober 1940 lediglich aus den vom Luftkrieg bedrohten Städten in weniger gefährdeten Gebieten im Deutschen Reich untergebracht wurden, schickten britische Eltern bis zu einem deutschen U-Boot-Angriff auf ein Transportschiff am 18. September 1940 mit 77 toten Kindern ihre sogar nach Amerika.

Zwischen zwei Welten
Dies ist die spannende Ausgangssituation im Debütroman Und dahinter das Meer der 1959 geborenen US-Amerikanerin Laura Spence-Ash. Ab dem Sommer 1940 liegt zwischen der elfjährigen Arbeitertochter Beatrix Thompson aus London und ihren Eltern ein Ozean, weil ihr Vater es zu ihrem Schutz so will. In Boston wartet auf die zunächst wütende und verängstigte Beatrix, die künftig Bea genannt wird, ein überaus freundlicher Empfang: Mutter Nancy Gregory hat sich seit langem eine Tochter gewünscht, Vater Ethan ist ihr nach anfänglichen Zweifeln schnell zugetan und für die Söhne William und Gerald, 13 Jahre bzw. 9 Jahre alt, wird sie zur Schwester, die das Leben der Familie positiv verändert. Beatrix selbst fühlt sich im lichtdurchfluteten großen Haus der Gregorys und vor allem auf der Sommerinsel vor der Küste von Maine wie ihr Idol Prinzessin Margret. Da sowohl ihre Eltern als auch sie selbst in ihren Briefen zum Schutz des jeweils anderen nicht die Wahrheit schreiben, wird die Entfremdung schnell größer:

Dieser Ozean, in dem sie jetzt schwimmt, und der sie voneinander trennt, ist während des vergangenen Jahres breiter geworden. (S. 67)

Abendstimmung in Maine. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © mare

Umso schwerer für alle, als Beatrix pflichtbewusst im August 1945 nach einer Zeit der Ungewissheit überstürzt nach London zurückkehren muss, zumal William und sie inzwischen heimlich mehr als nur Geschwister sind. Schwierig gestaltet sich nach der Rückkehr das Verhältnis zu ihrer Mutter Millie, die nie mit ihrer Trauer über den Verlust der Tochter zurechtkam, immer Neid auf die Gregorys verspürte und nun am liebsten Beatrix‘ Erinnerungen an die fünf Jahre in der Ferne auslöschen würde.

Alles strebt Richtung Happy End
So interessant die Thematik dieses Romans ist, so hätte ich mir, vor allem in der zweiten Hälfte, eine andere Fokussierung gewünscht. Sehr schön erzählt Laura Spence-Ash von Beatrix‘ Ankommen und Auftauen bei den Gregorys und besonders von den Familiensommern auf der Insel. Allerdings verschiebt sich der Schwerpunkt zunehmend auf Nebenhandlungen und die Liebesgeschichte, bei der sich meine sehr frühe Ahnung trotz mancher Irrungen und Wirrungen genau bestätigte. Dafür bleiben in der eigentlich gekonnt mit großen Zeitsprüngen von 1940 bis 1977 konzipierten Handlung wichtige Ereignisse wie Beatrix‘ Rückkehr nach London ausgespart. In sehr kurzen, einen Lesesog erzeugenden Abschnitten wird personal aus der Sicht acht verschiedener Akteure erzählt, mit der Folge, dass ich keinem von ihnen richtig nahekam, nicht einmal Beatrix. Schade außerdem, dass Konflikte, Gefühle und Charakteränderungen mehr beschrieben als durch die Handlung gezeigt werden, was sie für mich leider oftmals nicht nachvollziehbar machte.

Auch wenn der Roman bei mir deshalb nicht wie gewünscht funktioniert hat: Für alle, die einen sommerlichen Liebesroman mit viel Wohlfühlatmosphäre suchen, dürfte Und dahinter das Meer eine passende Empfehlung sein.

Laura Spence-Ash: Und dahinter das Meer. Aus dem amerikanischen Englisch von Claudia Feldmann. mare 2024
www.mare.de

Daniela Krien: Mein drittes Leben

  Der schmale Grat

 

Zwischen 400 und 500 Radfahrerinnen und Radfahrer verunglücken jedes Jahr tödlich auf deutschen Straßen. An einige von ihnen erinnern inzwischen weiße, oft blumengeschmückte Gedenkräder, sogenannte Ghostbikes, am Straßenrand. Hinter jedem Opfer stehen trauernde Angehörige, manche Hinterbliebenenfamilien zerbrechen an diesem Schicksalsschlag.

Gefangene der Todessekunde
Auch die Ehe der Mittvierzigerin und Ich-Erzählerin Linda hält der unterschiedlich gelebten Trauer nicht Stand. Waren sie und ihr Mann Richard nach dem Unfalltod ihres einzigen gemeinsamen Kindes, der 17-jährigen Sonja, zunächst gleichermaßen „Gefangene jener Todessekunde“ (S. 97), begann Richard sich allmählich zu befreien:

Hat sich nur eines Tages umgedreht und nach vorn gesehen, während mein Blick indie Vergangenheit gerichtet blieb. (S. 14)

Foto: © A. Schütz. Collage: © B. Busch. Cover: © Diogenes

Linda dagegen konnte und wollte den Schmerz nicht loslassen. Nach überstandenem Schilddrüsenkrebs ließ sie ihren fassungslosen Mann in der Leipziger Wohnung zurück und zog etwa zwei Jahre nach Sonjas Tod allein in einen halbverfallenen, 40 Autominuten entfernten Dreiseithof am Rande eines unansehnlichen Straßendorfs, wo es keine „Erinnerungsfallen“ (S. 24) gibt:

Das Niemandsland zwischen Leben und Tod, das ich bewohne, spiegelt sich in der Landschaft wider und verschmilzt mit ihr. Die Schönheit hat hier kein Recht. (S. 82)

Hier lebt die ehemals erfolgreiche Kunstkuratorin und überzeugte Städterin zu Beginn des Romans Mein drittes Leben seit zwei Jahren alleine mit einer Hündin und Hühnern. Nach Abbruch fast aller Brücken besuchen sie nur noch die neue Bekannte Natascha mit ihrer schwerbehinderten Tochter Nine und 14-tägig Richard, den sie trotz allem noch liebt. Doch nun ist dessen Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft zerbrochen, seine Geduld aufgebraucht. Mit der Schriftstellerin Brida Lichtblau scheint für ihn ein Neubeginn möglich. Natascha erklärt es Linda so:

Er hat sich gerettet. Auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod hat er sich für das Leben entschieden, während Sie versucht haben, ihn zu den Toten rüberzuziehen. (S. 71)

© B. Busch. Cover: © Diogenes

Jedes Wort am richtigen Platz
Mein drittes Leben ist das fünfte Buch der 1975 geborenen, in Leipzig lebenden Autorin Daniela Krien. Während ich zwei ihrer früheren Romane, Die Liebe im Ernstfall und Der Brand, mit kleinen Abstrichen gerne gelesen habe, hat mir dieser neueste sensationell gut gefallen. Wie sie den Absturz ihrer Protagonistin haarscharf beobachtend begleitet, einfühlsam und doch gänzlich ohne Kitsch Worte für das Unsagbare findet, ist überragend. Ebenso gelungen sind die zaghaften Anzeichen der Wende nach überschrittenem Tiefpunkt, über die Linda selbst am meisten staunt:

Das Überraschende daran ist, dass ich überhaupt eine Zukunft sehe. (S. 279)

Mit glasklaren Formulierungen erfasst Daniela Krien alle Zwischentöne dieser vier Jahre währenden Entwicklung, spiegelt sie am Wechsel der Jahreszeiten und in der Natur und macht aus dem schwierigen Stoff ein überraschend gut lesbares Buch, akribisch recherchiert bis in medizinische Details. Viele der Nebenhandlungen haben Potential für weitere Geschichten, bisweilen lassen sich Parallelen zum Leben der Autorin ausmachen. Kein Wunder, wenn man der Schriftstellerin Brida Lichtblau, die schon in Die Liebe im Ernstfall eine tragende Rolle spielte, glaubt:

Alle Schriftsteller tun das. Wir beuten unser eigenes Leben und auch das Leben der anderen aus. (S. 246)

Mein drittes Leben von Daniela Krien war neben Lichtungen von Iris Wolff und Maifliegenzeit von Matthias Jüngler mein Favorit für den Deutschen Buchpreis 2024 und steht nun erfreulicherweise tatsächlich auf der Longlist. Ich drücke fest die Daumen!

Daniela Krien: Mein drittes Leben. Diogenes 2024
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Daniela Krien auf diesem Blog: