Alex Schulman: 17 juni

   Flashback

Mit dem Roman 17 juni knüpft Alex Schulman thematisch an seine früheren fiktionalen Bücher Die Überlebenden und Endstation Malma an, aber auch an seine familienbiografischen Werke Skynda att älska über seinen Vater, Glöm mig über seine Mutter und Verbrenn all meine Briefe über seine Großeltern. Im Mittelpunkt steht ein einsames, schutzloses Kind aus einer dysfunktionalen Familie, dessen verdrängte Traumata tief ins Erwachsenenleben hineinwirken. Der Erwachsene möchte verstehen, wie er zu dem werden konnte, der er ist, woher seine plötzliche Wut kommt und sucht Versöhnung.

Die Wiederholung der immer gleichen Parameter, zu denen auch das vermeintlich idyllische Sommerhaus in Värmland gehört, könnte langweilig sein, fände Alex Schulman nicht immer wieder neue Versuchsanordnungen. In 17 juni sorgen ein ebenso geniales wie gespenstisches Gedankenexperiment und eskalierende Besessenheit für Spannung.

Warum?
17 juni
ist im Aufbau weniger komplex als Endstation Malma, aber ebenso raffiniert komponiert. Zwei Handlungsstränge laufen in zwei Zeitebenen parallel, bis sie schließlich zusammenfinden.

In der Gegenwart wird das unspektakläre Leben des 45-jährigen Stockholmer Lehrers Vidar Åkeby auf den Kopf gestellt, als er wie aus dem Nichts und ohne sich später daran zu erinnern einen 13-jährigen Schüler misshandelt. Vidar ist Single, sein Vater längst verstorben, die Mutter im Pflegeheim und zur älteren Schwester Tora war der Kontakt nie eng und ist nahezu eingeschlafen. Er ist nicht unglücklich, weder einsam noch besonders sozial und glaubt sich mit sich und seiner Kindheit im Reinen:

Jag var funktionell och mådde ganska bra. Det var inget med mig. (S. 28)

[Ich funktionierte und fühlte mich ziemlich gut. Mit mir war alles in Ordnung.]

Vom Schuldienst suspendiert, widmet er sich vergessenen Kartons aus der väterlichen Wohnung. Als ihm zufällig die Telefonnummer des längst aufgegebenen Sommerhauses der Familie in die Hände fällt, ruft er, einer spontanen Eingebung folgend, dort an, und sein Vater antwortet.

Fortan werden die Anrufe in die Vergangenheit zur Obsession, Vidar meldet sich mit immer neuen Namen und Anliegen, spricht mit seinem Vater, seiner misstrauischen, dominanten Mutter, der desinteressierten Tora und schließlich mit seinem achtjährigen Ich. Er landet immer im gleichen Tag, dem 17. Juni 1986, und niemand kann sich an seine vorhergehenden Anrufe erinnern.

Doppelte Eskalation
Während die polizeilichen Untersuchungen drängender werden und Vidar durch Missachtung des Kontaktverbots seine Schuld noch vergrößert, arbeitet er immer besessener an der lückenlosen Dokumentation des Sommertags. Je mehr er rekonstruiert, desto sicherer ist er, dass der 17. Juni 1986 ein Schlüssel zum Verständnis seiner Gegenwart ist. An der Fototapete mit der sonnendurchfluteten Waldlichtung in seinem Wohnzimmer kleben im Koordinatensystem aus Uhrzeit und Familienmitglieder hunderte Notizzettel, aber es klafft  auch eine Lücke…

Alex Schulman: 17 juni. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Albert Bonniers Förlag.

Viele vertraute Puzzleteile
17 juni
gehört, wie alle Bücher des 1976 geborenen schwedischen Erfolgsautors, Podcasters, Kolumnisten, Theaterregisseurs und Filmemachers Alex Schulman, zum Genre ”verklighetslitteratur”, in der sich Fakten und Fiktion mischen. Man kann die autobiografischen Anteile aus dieser düsteren Kreuzung zwischen Zeitreise und Psychotherapie herauslesen, muss es aber nicht. Erschütternd sind die zärtlichen Bemühungen des Erwachsenen, das Kind zu schützen und ihm Selbstvertrauen zu geben, versöhnlich der Erklärungsansatz zu den Verletzungen der Mutter, hoffnungsvoll die Annäherung der Geschwister.

Wer, wie ich, gerne in den Schulman-Kosmos eintaucht und Spaß am Wiederentdecken vertrauter Puzzleteilen aus früheren Büchern hat, kann sich auf die deutsche Ausgabe 2026 freuen. Ich konnte nicht warten, obwohl die Übersetzerin Hanna Granz den besonderen Schulman-Sound wunderbar trifft, habe mir den Roman sofort nach dem Erscheinen in der schönen Buchhandlung Wessman & Pettersson in Visby gekauft und ihn wie immer verschlungen.

Alex Schulman: 17 juni. Albert Bonniers Förlag 2025
www.albertbonniersforlag.se

 

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