Eingeweideschau
Ein Roman über vier Generationen einer Familie und ein ganzes Jahrhundert ist üblicherweise ein dicker Wälzer mit penibel recherchierten Details und notfalls fiktionaler Überbrückung von Leerstellen. Es geht aber auch ganz anders. Anna Maschik, 1995 geborene Autorin aus Österreich, die bisher Kurzprosa und Lyrik veröffentlicht hat, schafft ein solches Panorama auf nur 232 großzügig gesetzten Seiten in Fragmenten und lässt Leerstellen bewusst offen oder füllt sie mit magischem Realismus. Das mag ungewöhnlich klingen und ist es natürlich auch, aber es gelingt dermaßen gut, dass ihr Erstling Wenn du es heimlich machen willst, musst du die Schafe töten als einer von sechs Titeln auf der Longlist zum Debütpreis im Rahmen des Österreichischen Buchpreises 2025 steht.
Vier Frauen prägen die Familie
Anna Maschik konzentriert sich in ihrem von der eigenen Familiengeschichte inspirierten Roman ganz auf die Frauen. Henrike, Bäuerin auf einem Hof an der deutschen Nordsee, geboren am 1. Januar 1900, die den jüngeren Brüdern früh die Mutter und im Krieg auf dem Hof Mann und Sohn ersetzen muss, schlachtet aus Not illegal Schafe, weil die im Gegensatz zu Schweinen still sterben. Ihre Tochter Hilde will keinesfalls Bäuerin werden, heiratet einen österreichischen Soldaten und leidet unter Heimweh. Miriam, die dritte in der Reihe, entkommt nur knapp Hildes Abtreibungsversuch und erzieht ihre Tochter Alma, Ich-Erzählerin des Romans, allein.

Alma wiederum spürt dem Schicksal ihrer Vorfahrinnen, aber auch der Vorfahren nach, die bei jedem Todesfall wieder auftauchen und die Sterbenden in Empfang nehmen. Ständige Begleiterinnen sind außerdem Anna, die Hebamme, und Nora, die Totenfrau, die, wie Alma bei Miriams Tod erstmals bemerkt, „einander sehr ähnlich sehen“ (S. 230). Indem sie die Geschichte ihrer Vorfahrinnen zusammenträgt, in deren Innereien wühlt, wie Henrike einst in den Innereien der geschlachteten Schafe, ergründet sie die Auswirkungen von deren Leben auf ihr eigenes und was ihr von ihnen in die Wiege gelegt wurde:
Ich möchte mich vorstellen, ich bin Alma, und meine Erzählung ist eine Eingeweideschau. Leber, Lunge, Herz und Magen werden auf ihre Beschaffenheit untersucht. (S. 8)
Familienerbe
Vieles wiederholt sich. Henrike und Hilde singen nur für eines ihrer Kinder Schlaflieder, die benachteiligten beneiden ihre Geschwister um deren Privilegien, während diese wiederum unter ihrer Verantwortung leiden. Erst Miriam durchbricht die Kette, indem sie dem Drängen von Alma nach einem Geschwisterkind nicht nachgibt. Alle Frauen haben ein schwieriges Verhältnis zu ihren Töchtern, jedoch eine besondere Beziehung zur Natur und zu Gärten. Henrike, Hilde und Miriam sind gefangen in Sprachlosigkeit, bei Hilde und Miriam von ihren Müttern verordnet, im Buch spürbar durch unbedruckten Raum. Alma bricht dieses Schweigen, indem sie die Fragmente der Familiengeschichte aufschreibt, in Anekdoten und in Listen, einer weiteren Besonderheit dieses Romans:
SYNONYME FÜR »FRÜHER «:
Im Norden
Im Krieg
Im Dorf
Daheim (S. 102)
Obwohl ich magischen Anteilen in Geschichten sonst eher kritisch gegenüberstehen, haben sie mich hier überhaupt nicht gestört, sondern im Gegenteil die Realität in eigentümlicher Weise verstärkt: ein Sohn, der die ersten 15 Jahre seines Lebens verschläft, ein anderer, der zum Wolf und ein dritter, der immer mehr zu Holz wird, oder Miriam, die am Ende ihres Lebens – ein wunderschönes Bild – als Zitronenbaum erblüht.
Anna Maschik ist mit ihrem innovativen, manchmal springenden Erzählstil, ihrer Sprachsensibilität und ungewöhnlichen Metaphern ein ganz außerordentliches Debüt gelungen. Für mich ist sie eine neue Autorin, auf deren weitere Werke ich äußerst gespannt bin.
Anna Maschik: Wenn du es heimlich machen willst, musst du die Schafe töten. Luchterhand 2025
www.penguin.de/verlage/luchterhand-literaturverlag