Im Schatten einer monumentalen Familienlüge
Kaputte Familien bieten Stoff für interessante Romane, aber so düster wie in der norwegischen Saga um die Familie Neshov ist die Fantasie der Autorinnen und Autoren trotzdem selten. Drei Brüder, die sich nichts zu sagen haben und unterschiedlicher kaum sein könnten, bilden die mittlere Generation: Tor, 55 Jahre alt, ein schweigsamer Schweinebauer auf dem im Verfall begriffenen Familienhof nahe Trondheim, Margido, 52 Jahre, erfolgreicher, aber spartanisch lebender Bestatter, der stets professionell-distanziert auftritt, und Erlend, 39 Jahre, extravaganter Schaufensterdekorateur, homosexuell, der seit seiner Flucht vor den Vorurteilen gegen ihn als „Männermann“ in Kopenhagen lebt. Margido war nach einem heftigen Streit mit seiner Mutter Anna vor sieben Jahren nicht mehr auf dem Hof, bei Erlend sind es schon 20 Jahre. Tor erlebte nur eine einzige Liebesnacht, dann vertrieb seine besitzergreifende Mutter seine schwangere Freundin. Mit seiner Tochter Torunn führt er seltene Telefonate und hat sie nur ein einziges Mal getroffen. Seine ganze Zuneigung gehört seinen Schweinen, obwohl sie kaum sein Auskommen sichern. Margido war stets Single und muss sich der Annäherungsversuche frisch verwitweter Kundinnen erwehren. Erlend hat zwar seit 12 Jahren einen festen Partner, leidet jedoch unter Verlustängsten, die er mit Luxus und Alkohol zu überdecken versucht. Torunn, Hundetrainerin in Oslo, hat ihren untreuen Partner vor einem halben Jahr verlassen.
Keine Generation ist glücklich
Bei den Eltern der Brüder sieht es noch schlimmer aus. Sie leben zwar unter einem Dach, aber nur nebeneinander. Die 80-jährige Anna regiert, obwohl dem Haushalt nicht mehr ganz gewachsen, noch immer mit harter Hand über Hof, Sohn und Ehemann. Letzterer, der im Roman namenlos bleibt, vegetiert ungepflegt, nahezu unsichtbar, von Frau und Sohn verachtet vor sich hin.
Einziger Lichtblick scheint der Großvater gewesen zu sein, das Herz des Hofes, ein geselliger Optimist, für die Enkel da und immer in Bewegung. Seit seinem Tod vor 22 Jahren sind die Außenkontakte abgebrochen und das Leben auf dem Hof erstarrt.
Ein Todesfall als Initialzündung
Als Anna in der Woche vor Weihnachten einen Schlaganfall erleidet und kurz darauf im Krankenhaus stirbt, finden sich schlagartig alle auf dem Hof ein. Torunn und Erlend starten zu Tors Entsetzen eine Hausputzaktion und schließlich wird sogar der Weihnachtsabend mit einem gemeinsamen Festmahl begangen. Doch als der Vater, für alle überraschend, nach ungewohntem Alkoholgenuss das Wort ergreift, platzt eine weihnachtliche Bombe. Das Lügenhaus, das seine Schatten auf sämtliche Familienmitglieder warf, stürzt krachend ein.
Hörbuchfassung in perfekter Besetzung
Das Lügenhaus ist der erste von sechs Bänden über die Bauernfamilie Neshov, die zwischen 2007 und 2022 erschienen und die 1957 bei Trondheim geborene Anne B. Ragde zu einer der bekanntesten Autorinnen Norwegens machten. Ich habe mir die Geschichte auf vier CDs in 318 Minuten vorlesen lassen, leider gekürzt, aber mit den Sprecherinnen und Sprechern Ulrike Grote (Anna), Walter Kreye (Tor), Matthias Brandt (Margido), Gustav Peter Wöhler (Erlend) und Wiebke Puls (Torgunn) ebenso hochkarätig wie optimal passend besetzt. Zwar hat mich die Geschichte, die auch eine Hommage an die aussterbende Bauernschaft, Erinnerung an den Größenwahn der deutschen Besatzung und eine Auseinandersetzung mit Homosexualität und Homophobie ist, nicht sofort gepackt, aber je mehr die Figuren interagierten, desto dramatischer wurde es – bis zum umwerfenden Showdown. Unmöglich deshalb, nicht bald mit dem zweiten Band, Einsiedlerkrebse, fortzufahren.
Anne B. Ragde: Das Lügenhaus. Aus dem Norwegischen von Gabriele Hoefs. Gekürzte Lesung von Matthias Brandt, Ulrike Grote, Walter Kreye, Wiebke Puls und Gustav Peter Wöhler. Hörbuch Hamburg 2009
www.hoerbuch-hamburg.de