Zeitenwenden
Barbara Kingsolver, 1955 geborene, politisch, sozial und ökologisch engagierte US-amerikanische Autorin, hat neben anderen Auszeichnungen 2023 den Pulitzer Prize für ihren Roman Demon Copperhead bekommen. Nun hat der Verlag dtv in der exzellenten Übersetzung von Dirk van Gunsteren ihren bereits 2018 erschienenen Roman Unsheltered unter dem mehrdeutigen deutschen Titel Die Unbehausten veröffentlicht, ein Buch, das an Aktualität leider noch gewonnen hat.
Die beiden Handlungsstränge sind während der ersten Vorwahlen Donald Trumps 2016, im Roman nur „das Megafon“ genannt, und in den 1870er-Jahren angesiedelt. Verbindend ist der Ort: ein Grundstück in der Gemeinde Vineland, New Jersey, auf dem sich zu beiden Zeiten ein hoffnungslos baufälliges Haus ohne Fundament befindet, für dessen Renovierung Besitzer oder Besitzerinnen unmöglich die finanziellen Mittel aufbringen können.

2016
… wohnt dort seit Kurzem eine typische amerikanische Mittelstandsfamilie, die alles „richtig“ gemacht und sich an alle Regeln gehalten hat, und trotzdem vor dem Ruin steht: die arbeitslose Journalistin Willa Knox, selbsternannte Familienkrisen-Managerin, ihr Mann Iano Voukolies, promovierter Politikwissenschaftler, der nach der Schließung des Colleges in Virginia nun mit einem Einjahresvertrag in Philadelphia unter prekären Umständen lehrt, dessen aus Griechenland eingewanderter, pflegebedürftiger Vater Nick, glühender Trumpist und trotz fehlender Krankenversicherung wütender Verächter sozialstaatlicher Maßnahmen, die rebellische Tochter Tig, Mitte 20, Studienabbrecherin mit Dreadlocks, Konsumverweigerin und nach einem Kubaaufenthalt wieder bei den Eltern eingezogen, und schließlich der Sohn Zeke, arbeitsloser Harvard-Absolvent mit astronomischen Studienschulden und nach dem Selbstmord seiner Frau alleinerziehender Vater des Babys Dusty. Willa droht daran zu zerbrechen, dass der Lohn, den man ihrer Generation für harte Arbeit, Anpassung und Entwurzelung durch karrierebedingte Umzüge versprochen hatte, sich nicht erfüllen, weder für sie, noch für ihre Kinder:
Wie konnte es sein, dass zwei hart arbeitende Menschen, die im Leben alles richtig gemacht hatten, in ihren Fünfzigern praktisch mittellos dastanden? (S. 21)
Ausgerechnet Tig, die Tochter, die immer im Schatten von Willas Vorzeigesohn stand und nun am besten zurechtkommt, erklärt ihrer Mutter die Zeitenwende:
Du und Dad, ihr habt immer geschuftet für dieses größere, schönere, besser bezahlte Leben […] Ich sage, ihr habt euch auf die falsche Zukunft vorbereitet. (S. 417)
In den 1870er-Jahren
… tritt der jungverheiratete Naturkundelehrer Thatcher Greenwood eine Stelle in Vineland an, einer 1861 von dem charismatischen Despoten Charles K. Landis gegründeten utopischen Kolonie, und bezieht das marode Haus seiner Frau. In dem konservativen Städtchen stößt seine Begeisterung für Charles Darwin schnell auf Widerstand, gelten dessen Ideen doch als Ketzertum. Unterstützung findet Thatcher bei seiner Nachbarin, der Naturforscherin Mary Treat, die wie Vineland auf historischen Tatsachen beruht. Sie erklärt ihm:
Wenn die Menschen fürchten, ihre Gewissheiten zu verlieren, folgen sie jedem Tyrannen, der ihnen verspricht, die alte Ordnung wiederherzustellen. (S. 282)
Für beide Protagonisten, Willa und Thatcher, wird Mary Treat zur Hoffnungsträgerin. Thatcher holt sich bei der fortschrittlichen Frau intellektuelle und moralische Unterstützung, Willa hofft, aus deren Lebensgeschichte Kapital zu schlagen.
Wichtig, empfehlenswert, aber wenig subtil
Barbara Kingsolver verbindet die exzellent recherchierten Handlungsstränge trotz der Themenvielfalt genial über die maroden Häuser und wechselt kapitelweise die Zeitebene, wobei Stichwörter aus dem Ende des einen zur Überschrift des nächsten werden. Sowohl die Leugnung der Evolution als auch die von Klimawandel und Endlichkeit der Ressourcen bereitet den Boden für Tyrannen. Diese Spiegelung gelingt hervorragend, ebenso wie die erschreckende Zustandsbeschreibung der US-Gesellschaft kurz vor der ersten Trump-Präsidentschaft.
Obwohl ich Die Unbehausten mit großem Gewinn und Zustimmung gelesen habe und die Lektüre durchaus empfehle, haben mich der Streitschriftcharakter, die scharfe Zuordnung der Charaktere zu Gut und Böse ohne überraschende Entwicklungen und die zu deutliche Lenkung der Lesenden nicht zufriedengestellt. Manchen Holzhammer-Satz hätte es nicht gebraucht, dafür mehr Vertrauen in die Leserschaft, beispielsweise wenn Willa resümiert:
Dieses Haus ist wie unser Land – eine Ruine. (S. 609)
Wunderbar ist dagegen, dass Barbara Kingsolver trotz aller Katastrophenszenarien Hoffnung zulässt, die sich aus Humor, Liebe, Zuneigung, Fürsorge, Freundschaft und Erneuerungswillen speist.
Barbara Kingsolver: Die Unbehausten. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. dtv 2025
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