Ermittlungen im Zarenreich
Am 13.05.1876 erschießt sich im Moskauer Alexandergarten vor den Augen der entsetzten Spaziergänger der 23-jährige Jurastudent und Alleinerbe eines Millionenvermögens Pjotr Alexandrowitsch Kokorin. Dass dies nicht, wie die Moskauer Neueste Nachrichten berichten, „ein bedauerlicher Vorfall, der vom herrschenden Zynismus unter der heutigen Jugend Zeugnis ablegt“ ist, davon ist der Neuling im Kriminalkommissariat, der 20-jährige Erast Petrowitsch Fandorin, Kollegienregistrator im 14. Beamtenrang, sofort überzeugt. Obwohl sein altgedienter, bequemer Vorgesetzter Xaveri Gruschin diese Meinung keineswegs teilt, erhält der ebenso naive wie eifrige Fandorin die Erlaubnis für weitere Nachforschungen und stürzt sich Hals über Kopf in diese Aufgabe. Sosehr er aber ein Geheimnis hinter dieser vermeintlichen Selbsttötung wittert, sowenig hätte er sich zu Beginn ausmalen können, welchen Umfang seine Ermittlungen schließlich annehmen würden, wie oft er sich gleich einer Katze mit sieben Leben in letzter Sekunde würde retten müssen und welch weltumspannender Verschwörung er mit Hilfe seines innovativen neuen Vorgesetzten schließlich auf die Spur kommt…
Das schüchterne, tollpatschige und ehrgeizige Stehaufmännchen Fandorin ist mir aufgrund dieser Eigenschaften und der ironisch-distanzierten Perspektive des Autors Boris Akunin schnell ans Herz gewachsen. Der erste Band der Reihe ist eine temporeiche Geschichte voller unerwarteter Wendungen, bei der man nie weiß, wer auf welcher Seite steht. Dass die Logik dabei das ein oder andere Mal auf der Strecke bleibt, ist schade, hat mich aber nicht übermäßig gestört. Dafür hat mir die Sprache, die der Handlungszeit angepasst ist, Spaß gemacht, ebenso wie die ironischen Anspielungen auf den Beamtenapparat des Zarenreichs. Mit Grigori Tschchartischwili, Moskauer Philologe, Kritiker, Essayist und Übersetzer aus dem Japanischen, schreibt ein Autor unter dem Pseudonym Boris Akunin diese historischen Krimis, dem man nicht nur seine Belesenheit, sondern auch seine Freude am Schreiben deutlich anmerkt. Das vorliegende Buch erschien im Original 1998, auf Deutsch erstmals 2001, und machte Akunin nicht nur in Russland äußerst populär.
Mir ist Fandorin durch einen glücklichen Zufall im Urlaub in die Hände gefallen. Mehr noch denn als Krimi hat es mir als Porträt der russischen Gesellschaft in der Endphase des Zarenreichs gefallen, und wenn der Aufbau Verlag es als Roman bezeichnet, soll wahrscheinlich genau dieser Aspekt hervorgehoben werden.
Boris Akunin: Fandorin. Aufbau 2003
www.aufbau-verlag.de