Charles Lewinsky: Täuschend echt

  Kirsten meets Denis Scheck

Auch wer KI nicht bewusst nutzt, kommt im Alltag inzwischen ständig mit ihr in Kontakt: bei der Nutzung von Suchmaschinen oder Navigationsgeräten, sozialen Medien, Streaming-Diensten, Verkaufsplattformen, Übersetzungsprogrammen oder Sprachassistenten, zur Betrugserkennung bei Banken, in der Medizin und der Juristerei. Kein Wunder also, dass auch der Literaturbetrieb vor tiefgreifenden Veränderungen steht. Die Firma Media Control verspricht mit DemandSens für 2025 zahlenden Verlagen ein KI-Tool, das mit einer Trefferquote von mindestens 85% vor einer Buchveröffentlichung Verkaufszahlen vorhersagen soll, basierend auf vergangenen Trends. Angesichts dieser auf die Spitze getriebenen Kommerzialisierung von Literatur spricht die Süddeutsche Zeitung von einer „Atombombe“, der Literaturagent und Autor Thomas Montasser von „Mcdonaldisierung“.

Satire pur
Was dabei herauskommt, wenn mit Hilfe von KI nicht nur übersetzt und illustriert, sondern mit ChatGPT & Co. auch geschrieben wird, zeigt Charles Lewinsky auf ironische Art in seinem neuen Roman Täuschend echt. Unterhaltsam an diesem Buch sind allerdings nur die Teile, die nicht aus der Feder der KI stammen. Das KI-Produkt, ein kursiv gedruckter Roman im Roman über die junge Afghanin Schabnam, ist so vorhersehbar, klischeehaft, rührselig, sprachlich einfallslos und quälend langweilig, dass man seinen Sprung auf die Bestsellerliste und in Denis Schecks Literatursendung Druckfrisch – Höhepunkt des Romans für mich – nur als Satire auf den Literaturbetrieb lesen kann.

Charles Lewinsky: Täuschend echt. Foto: © B. Busch. Cover: © Diogenes.

Keine „Manipuliermasse“ mehr sein
Charles Lewinsky lässt seinen knapp 40-jährigen Ich-Erzähler, einen namenlosen Werbetexter mit Spezialgebiet Müsli, tief fallen: Freundin unter wüsten Beleidigungen mit der Kreditkarte durchgebrannt und fristlose Kündigung, nachdem die Müslifirma abgesprungen ist. Aus Trotz und Langeweile beginnt er, mit der KI zu spielen, zunächst zur Befriedigung seiner Rachegefühle, dann für einen Roman. Als sich völlig überraschend die Möglichkeit ergibt, das Ergebnis unter dem Titel Angst! für viel Geld zu publizieren, greift er zu. Obwohl er vertragsgemäß inkognito bleiben muss, verändert ihn der Erfolg:

Wenn man nicht mehr an sich zweifelt, werden die Dinge plötzlich einfacher. Das ist ein gutes Gefühl. (S. 209)

Gestärkt durch Kirsten, wie er die KI inzwischen zärtlich nennt, und völlig in ihrem Bann, tritt er seiner kleinlaut wiederaufgetauchten Ex-Freundin selbstbewusst entgegen. Nun soll sie ihm helfen, sein Lügengebäude zu schützen. Nicht nur der Müslimann, auch ich hatte Zweifel am Erfolg dieses Plans.

Ein Roman mit Steigerung
Täuschend echt
hat mich im ersten Viertel gelangweilt, weil ich weder dem Gejammer des Ich-Erzählers, noch gar den langen, kursiv gedruckten Passagen des KI-Romans etwas abgewinnen konnte. Je irrwitziger die Handlung jedoch wurde, und je einfallsreicher der Protagonist mit der KI experimentierte, die ihm nun vermehrt Listen mit Alternativangeboten ausspuckte, desto besser habe ich mich unterhalten, trotz unnötiger Wiederholungen. Zwar sind die Figuren im „handgeschriebenen“ Teil des Romans mindestens ebenso stereotyp wie bei ChatGPT, aber ihre extreme Überzeichnung hat mir im Gegensatz zur ernstgemeinten KI-Dramaturgie Spaß gemacht.

Die Romane des 1946 geborenen Schweizers Charles Lewinsky könnten unterschiedlicher kaum sein, jeder ist eine Überraschung und lässt sich deshalb nur schwer mit den Vorgängern vergleichen. Als nicht allzu tiefschürfender Unterhaltungsroman liegt Täuschend echt für mich im Mittelfeld: weit entfernt von Melnitz, aber stärker als Der Stotterer. Ich bin gespannt, was Denis Scheck („der Mann frisst Bücher wie ich früher Schokoriegel“, S. 226) zu sich als Romanfigur sagt.

Charles Lewinsky: Täuschend echt. Diogenes 2024
www.diogenes.ch

 

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