Besser spät als nie
Die Erzählung Reichlich spät der 1968 geborenen irischen Autorin Claire Keegan spielt an einem einzigen wolkenlosen Freitag im Juli in Dublin, mit Rückblenden in die beiden Jahre davor. Cathal, ein junger Büroangestellter, sitzt an seinem Schreibtisch und schaut aus dem Fenster auf das bunte Treiben und die üppigen Blumenbeete:
So vieles im Leben verlief reibungslos, ungeachtet des Gewirrs menschlicher Enttäuschungen und des Wissens, dass alles einmal enden muss. (S. 9)
Von Beginn herrscht eine melancholische Atmosphäre. Cathal ist unruhig und unkonzentriert, Kollegin, Chef und Putzfrau gehen behutsam mit ihm um und signalisieren Mitleid, das sich beim Lesen sofort überträgt. Was ist geschehen? Welche Bedeutung hat der Tag für ihn?
Das Gefühl der Bedrohung steigt, als Cathal auf dem Weg zu seinem Haus in Arklow ist. Zwar kommt entgegen seiner Befürchtung tatsächlich ein Bus, aber Cathal verzichtet darauf, sein Handy auf neue Nachrichten zu prüfen, und seine Banknachbarin liest Die Frau, die gegen Türen rannte von Roddy Doyle, eine weibliche Anklage gegen die misogyne und rückständige irische Gesellschaft.
Als sich eine junge Frau auf den Platz ihm gegenüber setzt, löst ihr Duft bei Cathal unterdrückte Erinnerungen aus.
Lange Schatten
Zwei Jahre währte die Beziehung zwischen Cathal und der französisch-britischen Sabine, einer großzügigen, aktiven jungen Frau, die nach einigem Zögern schließlich in seinen unromantisch vorgetragenen Heiratsantrag einwilligte. Bei den Streitereien im Vorfeld der Hochzeit ging es vor allem um Geld, das Sabine ihm zu leichtfertig ausgab, aber auch um ihr Selbstbewusstsein:
Das war ein Teil des Problems: dass sie nicht hören und gut die Hälfte der Dinge auf ihre Weise tun wollte. (S. 35)
Schließlich brachte ihr Einzug bei ihm das Fass zum Überlaufen:
… das alles stellte und hängte sie im Haus auf und schob Dinge beiseite, als gehöre das Haus jetzt auch ihr. (S. 36)
Anders als bei Roddy Doyle, der konsequent der Sichtweise der misshandelten Frau folgt, wählt Claire Keegan die Perspektive des Mannes mit seinen verächtlichen Beobachtungen und seiner Zuflucht zur Vulgarität. Nur in ganz wenigen Augenblicken dämmert es Cathal, dass auf ihn „der lange Schatten der Sprache seines Vaters“ (S. 27) fällt. Dagegen rechtfertigt er eine abstoßende Szene aus seiner Jugend, in der sein Vater, sein Bruder und er die Mutter demütigten, als Scherz.
Lesen zwischen den Zeilen
Wie immer in den straffen Erzählungen von Claire Keegan hat jedes der von Hans-Christian Oeser mit viel Einfühlungsvermögen ins Deutsche übersetzte Wort Gewicht, muss man in den vier Kapiteln auf nur 55 großzügig bedruckte Seiten zwischen den Zeilen dessen lesen, was der unzuverlässige Erzähler uns glauben machen möchte. Es lohnt sich, bei jedem Satz der so ruhig erzählten und doch aufwühlenden Geschichte genau hinschauen, um keinen der bedeutungsvollen Hinweise zu übersehen. Stückweise enthüllt sich Cathals kleinlicher, egozentrischer Charakter, der ihm nur das Nehmen gestattet, nicht aber das Geben – in Sabines Augen der Kern der Frauenfeindlichkeit, für die es nicht physischer Gewalt bedarf.
Nicht nur optisch ist dieser Leinenband aus dem Steidl Verlag ein Genuss, auch inhaltlich und stilistisch ist Reichlich spät eine Perle der Literatur.
Claire Keegan: Reichlich spät. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl 2024
steidl.de
Weitere Rezension zu einer Erzählung von Claire Keegan auf diesem Blog: