Cristina Rivera Garza: Lilianas unvergänglicher Sommer

  Ermittlungsakte 40/913/990-07

Statistisch gesehen stirbt weltweit alle zehn Minuten eine Frau oder ein Mädchen durch den Partner oder Ex-Partner, wobei die drei Monate nach der Trennung das höchste Gefahrenpotential darstellen. In Deutschland gab es 2023 laut BKA-Bundeslagebericht 360 Femizide, also Tötungsdelikte aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit, Tendenz steigend. In 155 Fällen waren die Täter Partnern oder Ex-Partnern, in 92 weiteren Familienangehörige.

Deutlich höhere Zahlen weisen Afrika, aber auch Amerika und Ozeanien auf. In Mexiko, wo der Straftatbestand des Femizids 2012 ins Bundesstrafgesetzbuch aufgenommen wurde, sind es zehn pro Tag.

Selten geschehen die Taten ohne Vorlauf. Die US-amerikanische Krankenschwester Jacquelin Campbell hat 1985 eine „Kartografie der Gewalt“ (S. 59) mit 22 Risikofaktoren für häusliche Übergriffe erstellt. Die Vorzeichen nicht erkannt zu haben, ist eine der Ursachen für Schuldgefühle Hinterbliebener.

Eine Akte ersetzen
Schuldgefühle, Scham, Trauer und die fehlende Sprache für den Femizid an ihrer Schwester Liliana Rivera Garza am 16.07.1990 ließen auch die mexikanische Schriftstellerin Cristina Rivera Garza jahrzehntelang stumm bleiben. Nach einer Odyssee durch mexikanische Behörden 2019 jedoch, bei der die Ermittlungsakten unauffindbar blieben, obwohl der mutmaßliche Täter Ángel González Ramoz nie gefasst und angeklagt wurde, fasste sie einen Entschluss:

In Zukunft, sage ich mir, während ich versuche, dem Augenblick zu entfliehen, werde ich mich daran erinnern, dass dies der Moment war, in dem ich erkannt habe, dass ich schreiben muss, um diese Akte zu ersetzen, die vielleicht für immer unauffindbar bleibt. (S. 36)

Entstanden ist ein äußerst persönliches Memoir über das kurze Leben Lilianas, das sie und nicht den mutmaßlichen Täter oder die Tat in den Mittelpunkt stellt, verbunden mit einem Blick auf die strukturellen und gesamtgesellschaftlichen Probleme hinter dem Phänomen Femizid. Getrennt durch einen Altersabstand von fünf Jahren und unterschiedliche Interessen fühlt sich die Autorin Liliana bis heute besonders bei ihrem gemeinsamen Hobby nah: dem Schwimmen.Cristina Rivera Garza: Lilianas unvergänglicher Sommer. Foto & Collage: © B. Busch. Cover: © Klett-Cotta.

Eine detailreiche Rekonstruktion
Mit Hilfe einer Unzahl von „Heften, Notizen, Aufzeichnungen, Collagen, Plänen, Briefen, Kassetten und Kalendern“ (Nachwort, S. 327), außerdem zahlreichen transkribierten, literarisch aufbereiteten Interviews im Freundes- und Familienkreis der 20-jährigen begabten, freiheitsliebenden, lebenshungrigen und umschwärmten Architekturstudentin, rekonstruiert Cristina Rivera Garza deren Persönlichkeit. Sechs Jahre währte die immer wieder unterbrochene Beziehung zu ihrem späteren Mörder, einem von Wut, rasender Eifersucht, Penetranz und Kontrollzwang getriebenen jungen Mann, der so gar nicht zu Lilianas studentischem Freundeskreis in Mexiko-Stadt passte, und von dem sie sich etwa im Mai 1990 endgültig befreite. Viele Fragen bleiben offen, da die kommunikative Liliana sich ausgerechnet in Beziehungsfragen äußerst bedeckt hielt. Ahnte sie die Gefahr? Warum kehrte Liliana immer wieder in die belastende Beziehung zurück? Eine Antwort darauf gibt die US-amerikanische Journalistin und Expertin für häusliche Gewalt Rachel Louise Snyder:

Opfer partnerschaftlicher Gewalt bleiben in der Beziehung, weil sie wissen, dass jede plötzliche Bewegung den Bären provoziert. (S. 235)  

Die inzwischen überwiegend in den USA lebende und lehrende, 1964 in Mexiko geborene Soziologin und Historikerin Cristina Rivera Garza gehört zu den wichtigsten Autorinnen ihres Herkunftslands. Für Lilianas unvergänglicher Sommer – der Titel bezieht sich auf ein Zitat von Albert Camus – erhielt sie den Pulitzer-Preis 2024 in der Kategorie Memoiren oder Autobiographie, der seit 2023 vergeben wird.

Ich hätte mir bei den Interviews und Notizen Kürzungen, für die Bilder erklärende Unterschriften gewünscht und streckenweise war mir der Text zu gefühlvoll, wenngleich das aus Sicht der Autorin verständlich ist. Gefallen haben mir die kämpferischen Passagen, die allgemeinen, nüchternen Betrachtungen zum Thema Femizid und besonders die ergreifende Schilderung der lebenslangen Auswirkungen einer solchen Tat auf die Hinterbliebenen.

Cristina Rivera Garza: Lilianas unvergänglicher Sommer. Übersetzt von Johanna Schwering. Klett-Cotta 2025
www.klett-cotta.de

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