Der schmale Grat
Zwischen 400 und 500 Radfahrerinnen und Radfahrer verunglücken jedes Jahr tödlich auf deutschen Straßen. An einige von ihnen erinnern inzwischen weiße, oft blumengeschmückte Gedenkräder, sogenannte Ghostbikes, am Straßenrand. Hinter jedem Opfer stehen trauernde Angehörige, manche Hinterbliebenenfamilien zerbrechen an diesem Schicksalsschlag.
Daniela Krien: Mein drittes Leben. Diogenes 2024
www.diogenes.ch
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Gefangene der Todessekunde
Auch die Ehe der Mittvierzigerin und Ich-Erzählerin Linda hält der unterschiedlich gelebten Trauer nicht Stand. Waren sie und ihr Mann Richard nach dem Unfalltod ihres einzigen gemeinsamen Kindes, der 17-jährigen Sonja, zunächst gleichermaßen „Gefangene jener Todessekunde“ (S. 97), begann Richard sich allmählich zu befreien:
Linda dagegen konnte und wollte den Schmerz nicht loslassen. Nach überstandenem Schilddrüsenkrebs ließ sie ihren fassungslosen Mann in der Leipziger Wohnung zurück und zog etwa zwei Jahre nach Sonjas Tod allein in einen halbverfallenen, 40 Autominuten entfernten Dreiseithof am Rande eines unansehnlichen Straßendorfs, wo es keine „Erinnerungsfallen“ (S. 24) gibt:
Hier lebt die ehemals erfolgreiche Kunstkuratorin und überzeugte Städterin zu Beginn des Romans Mein drittes Leben seit zwei Jahren alleine mit einer Hündin und Hühnern. Nach Abbruch fast aller Brücken besuchen sie nur noch die neue Bekannte Natascha mit ihrer schwerbehinderten Tochter Nine und 14-tägig Richard, den sie trotz allem noch liebt. Doch nun ist dessen Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft zerbrochen, seine Geduld aufgebraucht. Mit der Schriftstellerin Brida Lichtblau scheint für ihn ein Neubeginn möglich. Natascha erklärt es Linda so:
Jedes Wort am richtigen Platz
Mein drittes Leben ist das fünfte Buch der 1975 geborenen, in Leipzig lebenden Autorin Daniela Krien. Während ich zwei ihrer früheren Romane, Die Liebe im Ernstfall und Der Brand, mit kleinen Abstrichen gerne gelesen habe, hat mir dieser neueste sensationell gut gefallen. Wie sie den Absturz ihrer Protagonistin haarscharf beobachtend begleitet, einfühlsam und doch gänzlich ohne Kitsch Worte für das Unsagbare findet, ist überragend. Ebenso gelungen sind die zaghaften Anzeichen der Wende nach überschrittenem Tiefpunkt, über die Linda selbst am meisten staunt:
Mit glasklaren Formulierungen erfasst Daniela Krien alle Zwischentöne dieser vier Jahre währenden Entwicklung, spiegelt sie am Wechsel der Jahreszeiten und in der Natur und macht aus dem schwierigen Stoff ein überraschend gut lesbares Buch, akribisch recherchiert bis in medizinische Details. Viele der Nebenhandlungen haben Potential für weitere Geschichten, bisweilen lassen sich Parallelen zum Leben der Autorin ausmachen. Kein Wunder, wenn man der Schriftstellerin Brida Lichtblau, die schon in Die Liebe im Ernstfall eine tragende Rolle spielte, glaubt:
Mein drittes Leben von Daniela Krien war neben Lichtungen von Iris Wolff und Maifliegenzeit von Matthias Jüngler mein Favorit für den Deutschen Buchpreis 2024 und steht nun erfreulicherweise tatsächlich auf der Longlist. Ich drücke fest die Daumen!