Recherche und Dichtung
Ideen für einen Roman kann man sich nicht ausdenken – sie müssen zum Verfasser kommen, sie müssen in ihm emporsteigen, müssen denjenigen aufsuchen, der sie mit Fleisch und Blut versieht. Stehen die Ideen bei einem schreibenden Menschen schon vor der Tür und klopfen an, entkommt der Betreffende nicht. (Vorwort, S. 6/7)

Sechs in seiner Heimat überaus populäre Bände über verschiedene seiner Vorfahren im 19. Jahrhundert hatte der 1949 in Molde geborene norwegische Romanautor, Lyriker, Dramatiker, Theaterregisseur und Übersetzer Edvard Hoem bereits verfasst, als ihm eine Frau im Traum erschien und ihn fragte: „Und was ist mit mir?“ (S. 5). Es war Julie Elisabeth Hoem (1836 – 1911), verstorben ohne Nachkommen und ohne Zeugnisse von eigener Hand. Kirchenbücher, Zeitungsannoncen, Volkszählungen und Adressbücher geben lückenhaft Auskunft über ihr Leben. Das sind genau die Voraussetzungen, unter denen der großartige Geschichtenerzähler und Vergangenheitsbeschwörer Edvard Hoem in seinen historischen Familienromanen Meisterschaft beweist. „Hervordichten“ (S. 13) nennt er seine Arbeitsweise, bei der er mithilfe allgemeiner historischer Quellen verlorene Lebensabschnitte fiktional überbrückt und Orte, Zeiten und Personen zum Leben erweckt. Immer wieder kommt der Autor selbst zu Wort, benennt Leerstellen und kennzeichnet Fiktion.
Aufstieg
Julie Elisabeth Hoem war die jüngste Tochter des Geigenbauers Lars Hoem und seiner Frau Gunhild aus Christiansund. Ihre Mutter erkrankte bei der harten Arbeit als Klippfischfrau und starb, als Julie elf Jahre alt war. Von dieser Zeit an nahm das Mädchen sein Leben selbst in die Hand.
Durch ihr pfiffiges, wildes Naturell fiel Julie bereits mit dreizehn Jahren einem wohlhabenden Klippfischexporteur auf, der sie zunächst als Laufmädchen, dann als Küchenhilfe anstellte. Nach dem Tod ihres Vaters ging sie um 1853 nach Bergen und diente als Alleinmädchen, bevor sie die höchste Stelle in verschiedenen herausragenden Häusern der Stadt übernahm: als Hausmamsell. Das Privileg, Vorgesetzte der Dienstleute zu sein und mit der Herrschaft am Tisch zu sitzen, erfüllte sie mit großem Stolz, und sie erledigte die Haushaltsführung gewissenhaft und loyal. Allerdings bezahlte sie für ihre herausgehobene Position den Preis, nirgends dazuzugehören.
Alter
Nach einem Intermezzo im Haushalt eines norwegischen Pastorenpaares in Iowa, USA zwischen 1876 und 1881 fand Julie noch einmal eine Stelle als Hausmamsell mit acht Dienstleuten beim legendärsten unter den reichen Bürgern Bergens, dem Geschäftsmann und Reeder Peter Jebsen. Danach war ihre große Zeit ab 1887 abgelaufen und der Broterwerb wurde immer schwieriger. Hätte sie nicht wundersamerweise 1909 einen Platz im Altenheim Alders Hvile (Frieden des Alters) erhalten, sie wäre nach einem arbeitsreichen Leben ins Elend gestürzt.

Lebensbericht und Zeitbild
Die Hausmamsell ist weit mehr als die Biografie einer beeindruckend fleißigen und willensstarken Frau, erzählt im unverwechselbar ruhigen Hoem-Stil mit großer Sachkenntnis, Begeisterung für die Vergangenheit, klarer, kraftvoller Sprache ohne Klischees oder Verklärung und angenehm wertschätzend. Es ist darüber hinaus ein farbenprächtiges Bild der Zeit, in dem gesellschaftliche, soziale, technische und wirtschaftliche Entwicklungen genauso eine Rolle spielen wie Mode, Ernährung, Stadtplanung und Baustile. Zugleich ist es eine Hommage an die Stadt Bergen, Hauptstadt des Westlandes, und deren Wiederauferstehung nach dem großen Brand vom Mai 1855.
Für norwegische Leserinnen und Leser ist die familienbiografische Reihe mit diesem siebten Band abgeschlossen. Auf Deutsch gibt es in der hervorragenden Übersetzung von Antje Subey-Cramer, der wir unter anderem den genialen Begriff „Hausmamsell“ verdanken, erst vier, unabhängig zu lesende Teile: Der Heumacher, Die Hebamme, Der Geigenbauer und nun Die Hausmamsell. Als eingeschworene Edvard-Hoem-Bewunderin hoffe sehr auf weitere!
Edvard Hoem: Die Hausmamsell. Aus dem Norwegischen von Antje Subey-Cramer. Urachhaus 2025
www.urachhaus.de
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