Ein exzellenter Abschluss der Neapolitanischen Saga
Mit Bedauern und ein bisschen Wehmut habe ich nach gut 2200 Seiten den vierten und letzten Band von Elena Ferrantes Neapolitanischer Saga zugeklappt. Von der Kindheit in den 1950er-Jahren an habe ich die beiden ungleichen Freundinnen Elena und Lila bis etwa 2010 begleitet, als Lila ihr lange angekündigtes Verschwinden in die Tat umsetzte. Den ersten Band, Meine geniale Freundin, über die Kindheit der beiden habe ich verschlungen und auch Band zwei, Die Geschichte eines neuen Namens, hat mir ausgezeichnet gefallen. Bei Band drei, Die Geschichte der getrennten Wege, der größtenteils nicht in Neapel spielt, habe ich mich aufgrund einiger Längen etwas schwerer getan, aber mit Band vier, Die Geschichte des verlorenen Kindes, ist Elena Ferrante in meinen Augen ein ausgezeichneter Abschluss gelungen. Das liegt vor allem daran, dass mit der Rückkehr Elenas zunächst nach Neapel, dann sogar in den Rione, alle früheren Fäden wiederaufgenommen werden und man erfährt, wie es den Kameraden aus der Kindheit weiter erging. Außerdem bewegt in diesem Teil Lilas Schicksal tief, ihr nach einem großen Unglück unstillbarer Schmerz, der letztlich in ihr (fast) vollkommenes Verschwinden mündet.
Wie zuletzt in Band eins sind auch im Abschlussband wieder beide Freundinnen auf dem Cover zusammen abgebildet. Nachdem Elena, inzwischen erfolgreiche Schriftstellerin, Vorreiterin der Frauenbewegung und berufstätige Mutter zweier Töchter, ihren Mann und Florenz 1979 für ihre Jugendliebe Nino Sarratore verlassen hat und in ihren Geburtsort zurückgekehrt ist, sind die beiden Freundinnen und Rivalinnen wieder vereint. Beide erwarten zur selben Zeit ein Kind, stehen gemeinsam das große Erdbeben von 1980 durch und nach den Geburten von Imma und Tina ziehen sie ihre fünf Kinder gemeinsam auf. Wie von ihrer Ex-Schwiegermutter und Lila prophezeit, erweist Nino sich als Frauenheld, der seine Ehe nicht aufgibt, seine Frau erneut schwängert und seine Geliebten vor allem nach der Nützlichkeit ihrer Kontakte wählt. Als Elena ihm unter großer Trauer endgültig den Laufpass gibt, geht sie in den Rione zurück und bezieht die Wohnung direkt über Lila. Eine Zeit relativer Ruhe kehrt ein bis zu jenem denkwürdigen Tag im September 1984, der alles verändert.
Elena Ferrante hat in die Geschichte um Elena und Lila wieder die politische und gesellschaftliche Entwicklung Italiens eingewoben, den Terrorismus, die mafiösen Strukturen, die Verbreitung von Drogen, die abgehobenen diskutierenden linken Bildungseliten, die Frauenbewegung und den Kampf der Parteien um die Macht. Doch in erster Linie habe ich diesen Band als Biografie zweier gegensätzlicher Frauen und einer ebenso strahlenden wie finsteren Freundschaft regelrecht verschlungen. Dass ich nie am Wahrheitsgehalt von Elenas Worten gezweifelt habe, liegt an der bewusst nüchternen Sprache, die Elena Ferrante gewählt hat. Dies sowie die gelungene Gesamtkomposition, die durch den vierten Teil perfekt abgerundet wird, sind die herausragenden Kennzeichen dieses Werkes. Dank und Anerkennung gebührt darüber hinaus Karin Krieger, die zwei Jahre an der Übersetzung der Tetralogie gearbeitet hat.
„Wozu sind nun alle diese Seiten gut gewesen?“ fragt Elena im Epilog. Zum ersten hat sie das zu Beginn des ersten Bandes gesetzte Ziel erreicht, Lila nach ihrem plötzlichen Verschwinden dem Vergessen zu entreißen – trotz ihres Versprechens, nie über sie zu schreiben. Und zweitens hat sie mich und viele Millionen Leser auf der ganzen Welt damit aufs Beste unterhalten.
Elena Ferrante: Die Geschichte des verlorenen Kindes. Suhrkamp 2018
www.suhrkamp.de