Lebenslügen und Selbstbetrug
Zu Beginn der 1980er-Jahre wächst Sedgewick Kumar, genannt Sedd, bei seinen Großeltern Zacchariassen im ehemals prunkvollen, familieneigenen Berghotel Fåvnesheim im norwegischen Fjell auf. An seine früh aus seinem Leben verschwundene Mutter hat er keine Erinnerung. Weder über sie, noch über seinen indischstämmigen Vater, dem er sein exotisches Äußeres und den Nachnamen verdankt, wollen seine Großeltern mit ihm sprechen, und es braucht viel Geduld und Geschick, ihnen, dem Koch Jim oder dem Bezirksarzt Dr. Helgesen Informationshappen abzuringen.
Auch über eine andere Sache wird im Hotel nicht gesprochen: die ausbleibenden Gäste, die sich dank des Ölbooms vor der norwegischen Küste inzwischen lieber Reisen in den Süden gönnen, allen Modernisierungsanstrengungen, Annehmlichkeiten und der Gediegenheit, auf die man in Fåvnesheim so stolz ist, zum Trotz:
Es gilt, nicht darüber zu sprechen, denn dann gilt es nicht. (S. 333)
Statt der brutalen Realität und den wachsenden Schulden ins Auge zu blicken, öffnet Direktor Zacchariassen die Post nicht mehr und hält, wie auch seine aus Österreich stammende kapriziöse Frau, unbeirrbar den Schein aufrecht. Doch so wenig ihre Panzer die Hummer vor dem Tod im Kochtopf schützen, wenn sie einmal im Bassin des Restaurants gelandet sind, so wenig bewahren die demonstrative Realitätsverweigerung, die Rundum-Sorglos-Hochzeitspakete und die Schutzhülle aus „Klasse und Ordnung“ (S. 34) das etwas verstaubte Familienunternehmen vor dem Ruin.

Eine jugendliche Erzählstimme
Dem naiv-altklugen, folgsamen, stets die Formulierungen seiner Großeltern wiedergebenden Sedd, der im Alter von 15 Jahren rückblickend seine Erinnerungen an diese letzten Jahre zu Papier bringt, enthüllen sich die wirtschaftlichen Probleme erst nach und nach, gilt sein Hauptaugenmerk doch den rätselhaften Eltern. Für erwachsene Leser oder Leserinnen verdichten sich dagegen die Alarmzeichen früh. Literarische Anspielungen auf die Ahnungslosigkeit der Titelfigur Cedric aus Der kleine Lord von Frances Hodgson Burnett als vorweggestelltes Zitat oder der Hinweis auf Lillelord von Johan Borgen (1902 – 1979), der wie kein anderer Autor darin „die Lebenslügen und den Selbstbetrug der spätbürgerlichen Gesellschaft“ (S. 189) beschrieb, erhärten den Verdacht.
Längst nicht nur eine Tragödie
Doch der Roman Ein Hummerleben des 1965 geborenen Norwegers Erik Fosnes Hansen aus dem Jahr 2016, auf Deutsch in der gewohnt vorzüglichen Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel 2019 erschienen, ist längst nicht nur eine Tragödie, auch wenn sich die Themen Tod und Vergänglichkeit wie ein roter Faden durch den Text ziehen. Vielmehr schafft der Autor den Spagat zwischen melancholischem Trauerspiel und komödienhaften Szenen voller ironischer Seitenhiebe: auf die Neigung der Norweger zu autobiografischen Texten, ehrgeizige deutsche Sportangler, die Sehnsucht junger Mädchen nach Märchenhochzeiten oder eine Weihnachtsfeier enthemmter Bestatterinnen und Bestatter.
Ein Hummerleben ist ein empfehlenswerter Roman über das Ende einer Ära aus der Sicht eines wortgewandten Teenagers, mehr charakter- als plotzentriert, ruhig, bisweilen Geduld erfordernd, mit feinem Humor erzählt und mit einem furiosen Showdown.

Erik Fosnes Hansen: Ein Hummerleben. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Kiepenheuer & Witsch 2021
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