Reich und verkorkst
Die erfolgreiche Krimireihe Mörderisches Island der 1988 geborenen Isländerin Eva Björg Ægisdóttir spielt an verschiedenen Orten im Westen der Insel, für die allesamt die Kripo Akranes zuständig ist. Schauplatz des vierten Bandes, Verlassen, ist Snæfellsnes ([‚stn̥aiːfɛlsnɛs], „Schneeberghalbinsel“). Diese in den Nordatlantik ragende lange, schmale, dünn besiedelte und geschichtenträchtige Halbinsel bietet auf einer Fläche von 1 468 km² nahezu alles, wofür Island bekannt ist: einen erloschenen Vulkan, Lavafelder, Krater, spektakuläre Klippen, Höhlen, schwarze und weiße Strände, Schluchten, Wasserfälle, Berge, Robben- und Vogelkolonien.
Risse unter der Oberfläche
In dieser spektakulären Umgebung trifft sich im November 2017 der Snæberg-Clan. Hier, wo der sagenhafte Aufstieg der Familie zu einer der reichsten, bekanntesten und einflussreichsten der Insel in Wirtschaft, Politik und Partyszene mit einem Fischereibetrieb begann, kommen die Nachfahren zum 100. Geburtstag ihres verstorbenen Vaters, Großvaters und Urgroßvaters zusammen. Standesgemäß hat man ein ganzes abgelegenes, futuristisches Luxushotel mitten im Lavafeld gemietet. Während der Alkohol an diesem draußen wie drinnen zunehmend stürmischen Wochenende in Strömen fließt, werden, angeheizt durch Alkohol, Nähe, Bosheit und alte Geheimnisse, immer größere Spannungen und Risse sichtbar:
Um unsere Familie zu verstehen, muss man sich eine Herde Flusspferde vorstellen, die in einem viel zu kleinen Wasserloch badet; alle rempeln sich gegenseitig an. Wenn so viele Egos aufeinanderprallen, kann jede Kleinigkeit das Fass zum Überlaufen bringen. (S. 28)
Zwei Zeitebenen, mehrere Perspektiven
In zwei nahe beieinanderliegenden Zeitebenen, dem 5.11.2017, an dem eine Leiche an den Klippen gefunden wird, und den beiden Tagen davor, und aus vier Ich-Perspektiven erfahren wir, was sich zugetragen hat. Jeweils aus ihrer Sicht schildern sie die beiden Tage vor dem Leichenfund: die etwa 30-jährige Hotelangestellte Irma mit ihrer Obsession für die Jetset-Familie, die etwa gleichaltrige Petra Snæberg, eine erfolgreiche Innenausstatterin, deren 16-jährige Tochter Lea Snæberg mit ihren Social-Media-Verstrickungen und der ganz und gar nicht standesgemäße Tischler Tryggvi, seit einem Jahr Partner von Petras alkoholkranker Tante. Alle vier leiden unter alten Geheimnissen und Verletzungen, die während des Treffens stückweise zu Tage treten. Nur wenige Kapitel, die mit „Jetzt, Sonntag, 5. November 2017“ überschrieben sind, zeigen die Ermittlungsarbeit von Sævar und seinem Chef Hörður, bekannt aus den drei Vorgängerbänden Verschwiegen (Band 1), Verlogen (Band 2) und Verborgen (Band 3). Fans der Reihe werden deren Protagonistin vermissen: die Ermittlerin Elma. Da Verlassen aber die Vorgeschichte zu diesen Bänden abbildet, wird auf den letzten Seiten lediglich ihr Kommen zur Polizeistation Akranes angekündigt.
Viel Island und Psychodrama, weniger Ermittlungsarbeit
Der Stammbaum vorn im Buch erleichtert die Übersicht über die zahlreichen Familienmitglieder, die sich vor allem in ihrer Überheblichkeit, ihrer Trunksucht und ihren Kommunikationsdefiziten ähneln. Echte Sympathieträgerinnen und –träger sucht man mit wenigen Ausnahmen vergeblich. Dafür bietet dieser Band wieder sehr viel isländisches Flair, immer wieder Cliffhanger, einen Spannungsbogen bezüglich der erst ganz zum Schluss aufgedeckten Identität der Leiche und vor allem die Frage, ob die Bedrohung von innen oder doch gar von außen kommt.
Ein gelungener, in sich abgeschlossener Teil der Krimireihe, mit mehr Psychodramatik in mysteriöser Atmosphäre als Ermittlungsarbeit, übertrieben alkoholgesättigt, aber unterhaltsam und spannend erzählt und mit einer für mich überraschenden Auflösung. Für den nächsten Band wünsche ich mir allerdings trotzdem ein Wiedersehen mit der sympathischen Ermittlerin Elma.
Eva Björg Ægisdóttir: Verlassen. Aus dem Isländischen von Freyja Melsted. Kiepenheuer & Witsch 2025
www.kiwi-verlag.de
Weitere Rezension zur Krimiserie Mörderisches Island von Eva Björg Ægisdóttir auf diesem Blog: