Fernando Aramburu, geboren 1959 im spanischen Baskenland, lebt seit Mitte der 1980er-Jahre in Hannover, schreibt jedoch trotzdem auf Spanisch und gehört zu den renommiertesten Autoren seines Geburtslandes. Ausgangspunkt für seinen Roman Der Junge ist ein reales Unglück, das sich am 23.10.1980 im baskischen Dorf Ortuella unweit von Bilbao ereignete. Damals lösten Schweißarbeiten im Keller einer Schule aufgrund einer defekten Propangasleitung eine Explosion aus, bei der 50 Kinder und drei Erwachsene umkamen.
Mutter, Vater, Großvater
Nicht die Folgen für die traumatisierte Dorfgemeinschaft stehen im Mittelpunkt des Romans, vielmehr konzentriert sich Fernando Aramburu ausschließlich auf eine fiktive Familie, deren sechsjähriger Sohn Nuco bei der Katastrophe sein Leben verlor. Seine Mutter Mariaje entledigt sich rasch fast aller Andenken an ihr einziges Kind, leidet unter großer Erschöpfung und Leere und kann nicht über ihre Trauer sprechen. Mit der Entschädigungszahlung kauft sie sich in den Friseursalon ihrer Freundin ein und entflieht immer wieder aus ihrem „privaten Kummergefängnis“ (S. 112) nach Bilbao. Vater José Miguel will die Tragödie auf unbedingt hinter sich lassen und schnellstmöglich ein weiteres Kind, was für Mariaje zur „sexuellen Plackerei“ (S. 154) wird. Der verwitwete Großvater Nicasio, der ein besonders inniges Verhältnis zu seinem Enkel hatte, findet seine ganz eigene Weise im Umgang mit der Tragödie, indem er sie leugnet. Während die Dorfbewohnerinnen und -bewohner an seinem Verstand zweifeln, ist Mariaje überzeugt, dass „im Augenblick der Tragödie für ihn die Zeit auseinandergebrochen ist und seither in zwei verschiedene Richtungen führt“ (S. 174). Einerseits besucht er Nuco jeden Donnerstag im Urnenhain auf dem Friedhof und spricht mit ihm, andererseits spaziert er, die imaginäre Hand des Enkels haltend, durchs Dorf und baut in seiner Wohnung dessen Kinderzimmer originalgetreu nach:
Nicasio erklärt, dass er, von Nucos Möbeln und Spielsachen umgeben, eine körperliche Nähe zu dem Jungen verspürt, die er auf dem Friedhof nicht fühle, oder jedenfalls, so sagt er, nicht auf dieselbe Art und Weise. (S. 225)
Drei Erzählstimmen Fernando Aramburu wählt für den Roman in der ausgezeichneten Übersetzung von Willi Zurbriggen zwei unterschiedliche Erzählstimmen, ergänzt durch zehn kursiv gedruckte Einschübe. Abwechselnd berichten ein allwissender Erzähler und die inzwischen über 70-jährige Mariaje von der Zeit vor, während, aber vor allem nach dem Unglück. Die Einschübe aus der Perspektive des Buches, das hier mit eigener, menschlicher Stimme spricht, bringen Bedenken, Kritik und Dank zur Sprache, geben Erklärungen für Entscheidungen seines Autors ab, rechtfertigen die Wahl des Themas und ersetzen Vor-, Nachwort und Danksagung gleichermaßen, ein ebenso origineller wie genialer Kunstgriff.
Teilweise herzzerreißend, aber nicht sentimental Obwohl Fernando Aramburu großes Einfühlungsvermögen, Taktgefühl und Respekt für die völlig unterschiedlich trauernden Familienmitglieder zeigt, wird der Text dank der sehr kargen Sprache, dem Verzicht auf überzogene Dramatik und der Distanz schaffenden Einschübe nie sentimental. Für mich hätte es die komplizierte Ehegeschichte von Mariaje und José Miguel mit den durchaus interessanten ethischen Fragen nicht gebraucht, da sie mich in der zweiten Hälfte des Buches von den spannenderen Themen Verlust, Trauer, Erinnerung und Weiterleben abgelenkt hat. Zweifellos ist Der Junge jedoch trotzdem eine sehr lohnende Lektüre, von der mir vor allem das reale Unglück, die einzigartige Figur des Großvaters mit seiner herzzerreißenden Trauer-Strategie und die Einschübe aus der Perspektive des Buches in Erinnerung bleiben werden.
Fernando Aramburu: Der Junge. Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Rowohlt 2025 www.rowohlt.de
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