Francesca Melandri: Alle, außer mir

  Lebenslügen

Manchmal bedarf es eines äußeren Anstoßes, um einen lang gehegten Lektürewunsch endlich in die Tat umzusetzen. Bei Alle, außer mir der 1964 in Rom geborenen Autorin Francesca Melandri, 2017 in Italien erschienen und 2018 in Deutschland als Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels ausgezeichnet, war es eine vom Pen Berlin e.V. organisierte Diskussionsrunde mit der Autorin und ihren Kollegen Paolo Giordano und Antonio Scurati anlässlich des Gastlandauftritts Italiens auf der Frankfurter Buchmesse 2024.

Gastlandauftritt Italiens auf der FBM 2024 mit einer Veranstaltung des Pen Berlin e.V.: Birgit Schönau (Moderation), Francesca Melandri, Antonio Scurati und Paolo Giordano (von links). Fotos: © B. Busch.

Ein Paukenschlag zu Beginn
In der drückenden Augusthitze 2010 bereitet sich Rom auf den Besuch von Berlusconis Busenfreund Gaddafi vor. Als die Anfang 40-jährige Lehrerin Ilaria Profeti gestresst bei ihrer Wohnung im quirligen Multikultiviertel Esquilin ankommt, steht ein junger Afrikaner mit einem äthiopischen Pass auf den Namen Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti im Treppenhaus, über den Sudan, libysche Gefängnisse und das Mittelmeer nach Lampedusa gelangt und angeblich ihr Neffe. Ihren dementen Vater Attilio Profeti kann sie nicht mehr fragen, ob er während seiner kaum thematisierten Zeit in Ostafrika einen Sohn gezeugt hat. So macht sich Ilaria, die trotz ihrer linksliberalen Gesinnung heimlich mit einem  Abgeordneten der Berlusconi-Partei liiert ist, nur unterstützt von ihrem 12 Jahre jüngeren Halbbruder Attilio junior, selbst auf die Suche nach dem Familiengeheimnis. Schon einmal hat ihr Vater sie überrascht, als er der damals 16-Jährigen seine Zweitfamilie präsentierte. Ihre Recherchen führen weit in die allgemein verdrängte martialische italienische Kolonialgeschichte des 20. Jahrhunderts und den Rassismus der Mussolinizeit zurück, deren Folgen sich bis heute in der Flüchtlingskrise niederschlagen.

Der Patriarch
Attilio Profeti, geboren 1915 im Provinzstädtchen Lugo in der Romagna, war der verwöhnte Lieblingssohn einer vom Leben enttäuschten Mutter und eines Bahnbeamten. 1935 brach er sein Philosophiestudium ab und meldete sich freiwillig zu den Schwarzhemden nach Abessinien, um im völkerrechtswidrigen Angriffs- und Eroberungskrieg Mussolinis gegen das Kaiserreich Äthiopien zu kämpfen und anschließend dort ein Apartheitsregime zu etablieren. Obwohl er als Assistent des faschistischen Anthropologen Lidio Cipriani an dessen rassentheoretischer Ideologie mitwirkte, lebte er mit der Äthiopierin Abeba zusammen und zeugte einen Sohn, der nach Attilios fünfjährigem Ostafrika-Aufenthalt 1941 zur Welt kam.

Gewitzter Opportunist, skrupelloser Stratege, auf den eigenen Vorteil bedacht, charismatisch, arrogant, aber auch stets mit einer gehörigen Portion Glück gemäß seines Lebensmottos „Alle, außer mir“ beschenkt, überstand Attilio die Zeit in Afrika unbeschadet, machte anschließend Karriere in einem windigen Immobilienunternehmen und gründete zwei Familien. Doch auch bei ihm gibt es, neben der Liebe zu seinen Kindern, Grautöne: 1985 rettete er trickreich und beherzt seinen äthiopischen Sohn aus einem Gefängnis der Derg-Diktatur und verhalf seinem ehemaligen Kriegskameraden und dessen äthiopischer Familie zur Ausreise.

Francesca Melandri: Alle, außer mir. Foto & Collage: © B. Busch. Cover: © Argon.

Lange Schatten
Ich habe Alle, außer mir in ca. 19 Stunden als ungekürzte Lesung auf 3 MP3-CDs gehört, überzeugend vorgetragen von Gabriele Blum, die mit ihrer angenehmen Stimme gleichermaßen den tragischen wie auch den durchaus vorhandenen humorvollen Sequenzen gerecht wird. Es bedarf einiger Konzentration, um den Perspektiv- und Zeitwechseln sowie den Schicksalen der Haupt- und zahlreichen Nebenfiguren zu folgen, aber wer sie aufbringt, wird mit einer anschaulich-lehrreichen Erzählung belohnt. Francesca Melandri hat die koloniale und postkoloniale Geschichte gründlich recherchiert und schlägt dramaturgisch geschickt den Bogen zur heutigen Migrationswelle.

Ein ebenso wichtiger, wie angesichts des Rechtsrucks – nicht nur in Italien – bedrückender Roman, den man unbedingt lesen oder hören sollte.

Francesca Melandri: Alle, außer mir. Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Gelesen von Gabriele Blum. Argon 2018
www.argon-verlag.de

 

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