Geschichte als „ominöses Spiegelkabinett“
Mit dem Beginn des Angriffskriegs von Wladimir Putin auf die souveräne Ukraine im Frühjahr 2022 tauchten in den Medien geografische Namen auf, die der 1964 geborenen italienischen Autorin Francesca Melandri aus anderem Zusammenhang bekannt waren: aus Anekdoten und Mythen ihres Vaters vom „Rückzug aus Russland“ im Winter 1942/43, der sich, wie sie nun begriff, vorwiegend in der Ukraine abspielte. Der Plünderungsfeldzug in die Kornkammer des Ostens, der „Krieg für Brot“, den die Italiener ab Sommer 1941 an der Seite Nazi-Deutschlands führten, ist aus dem kollektiven Gedächtnis der Nation weitgehend verschwunden. Dagegen hält sich hartnäckig und in bequemer Selbsttäuschung die nationale Opfererzählung vom Rückzug in eisiger Kälte mit unzureichendem Schuhwerk, die dem großen Betrug Mussolinis, der verbrecherischen deutschen Wehrmacht und den russischen Bolschewisten zuzurechnen sind.
Geschichten und Geschichte
Francesca Melandri geht in Kalte Füße zurück zum Holodomor in der Ukraine 1932/33, als aufgrund einer von Stalin provozierten Hungersnot über drei Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer starben. Sie streift die kolonialen Verbrechen Italiens während des Äthiopienkriegs, die im Zentrum ihres sehr empfehlenswerten Romans Alle, außer mir stehen. Zu Beginn von Mussolinis Russlandfeldzug im Sommer 1941 an der Seite der Wehrmacht war Francesca Melandris Vater Franco Melandri (1919 – 2012), Journalist, bekennender Faschist und Leutnant der Alpini, in Griechenland stationiert. Als er im Sommer 1942 in der Ukraine ankam, waren ein Großteil der Juden und Widerständler bereits liquidiert. Die russische Gegenoffensive ab Dezember 1942 zwang die Italiener zum legendären Rückzug. Nur einer von zehn italienischen Soldaten kehrte zurück, darunter Franco Melandri. Nach monatelangem Lazarettaufenthalt wurde er nach Jugoslawien versetzt. Noch Ende März 1945 verfasste er einen glühenden Artikel für den Faschismus, der seine Tochter bis heute fassungslos macht. Mit Unterstützung seines ehemaligen Journalistenkollegen und Partisanen Massimo Rendina (1920 – 2015), den er gerettet hatte und der ihn als „anständigen Faschisten“ bezeichnete, wurde er schließlich rehabilitiert.

Brief an den toten Vater
Francesca Melandri hat dieses Buch in Form eines Briefes an den Vater, den sie liebte, nicht als seine Richterin oder Anwältin verfasst, sondern in dem Wunsch, zu verstehen: den Vater, der außer in Anekdoten nicht über Krieg und Faschismus sprach, aber auch die Parallelen und Unterschiede zwischen „seinem“ Krieg und dem heutigen. Kalte Füße ist weder „nur“ Roman noch Biografie oder Sachbuch, sondern ein interessanter Genremix, klug aufgebaut, manchmal etwas im Kreis drehend und sehr emotional, ein glühendes Statement für die Ukraine und gegen die zögerliche Ignoranz derer, die Krieg nicht aus eigener Erfahrung kennen und die Tragödie mit warmen Füßen aus der Distanz verfolgen.
Ich habe mir Kalte Füße in der ARD-Audiothek von der hervorragenden Nina Kunzendorf vorlesen lassen, deren Intonierung der Anrede „Papa“ mir jedes Mal einen Schauer über den Rücken gejagt hat. Obwohl ich ihr sehr gerne zugehört habe, weil sie den Text langsam und gut akzentuiert liest, habe ich gelegentlich das gedruckte Buch vermisst, um Gedankengänge zu wiederholen und mein eigenes Tempo zu wählen.
Kalte Füße ist eine hochaktuelle, sehr empfehlenswerte Mischung aus Familien- und Zeitgeschichte, eine Reflexion über Schuld und Verantwortung sowie ein glühendes Plädoyer gegen den aggressiven imperialistischen Kolonialismus Russlands und für Demokratie.
Das Buch ist 2024 im Verlag Klaus Wagenbach erschienen.
Francesca Melandri: Kalte Füße. Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Gelesen von Nina Kunzendorf. Eine Produktion von NDR-Kultur und Bayern 2 in der ARD-Audiothek. 2024
www.ardaudiothek.de
Weitere Rezension zu einem Roman von Francesca Melandri auf diesem Blog: