Düstere Spannung und sprachliche Brillanz
Jakob Franck, seit zwei Monaten pensionierter Kriminalhauptkommissar, lebt schon länger wie ein Einsiedler in seiner nach seiner Scheidung eigentlich zu großen Münchner Wohnung. Auch nach seinem Abschied aus dem Polizeidienst besuchen ihn „seine“ Toten. Er hat wenig Kontakte nach außen, spielt lieber in der virtuellen Welt Poker in seinem Arbeitszimmer, das nie ein Kinderzimmer geworden ist.
Es gibt nur eine Situation, in der er Menschen richtig nahe gekommen ist: beim Überbringen von Todesnachrichten. Er hat diese von allen Kollegen gefürchtete Aufgabe freiwillig übernommen, hat Hinterbliebene aufgesucht und hat ihnen, nachdem er seinen Standardsatz gesagt hatte, auf die ihm angemessen erschienene Art und Weise beigestanden. So hat er die Mutter der erst 17-jährigen Esther, die sich vor über 20 Jahren mutmaßlich im Park erhängt hatte, sieben Stunden in den Armen gehalten.
Genau dieser Fall holt ihn nun in seinem Ruhestand wieder ein. Der Vater des Mädchens, der nie an den von der Polizei festgestellten Selbstmord glauben wollte, bittet ihn, den alten Fall noch einmal aufzurollen. Einen Verdächtigen liefert er gleich mit, einen benachbarten Zahnarzt, über dessen Verbindungen zu sehr jungen Mädchen gemunkelt wurde.
Francks Ehrgeiz ist geweckt, der Ermittler kommt wieder zum Vorschein. Mit Freiheiten, die er während seines aktiven Dienstes nicht hatte, und mit viel Zeit beginnt er, Nachforschungen zu dem Fall anzustellen. Er holt die alten Akten hervor, befragt Zeugen von damals und bedient sich seiner besonderen Methoden, der „Gedankenfühligkeit“, mit der er sich in Täter und Opfer hineinversetzt. Seine ungewöhnlich einfühlsame Befragungsweise und seine ruhige Art ermöglichen es den Gesprächspartnern, sich an längst vergessen geglaubte Details zu erinnern, so dass Franck trotz der langen Zeit viele neue Ermittlungsansätze findet und am Ende zu einer überraschenden Erkenntnis kommt.
Neben dem reinen Fall vermittelt Ani dem Leser anhand verschiedener Beispiele eine Ahnung davon, welche zerstörerische Auswirkungen ein Selbstmord auf das weitere Leben der Zurückbleibenden hat.
Der neue Krimi von Friedrich Ani sticht aus der Masse vor allem durch seine sprachliche Brillanz und die Qualität der Dialoge hervor. Die düstere Atmosphäre und die ruhige Spannung sind nichts für Thriller-Fans, aber sehr empfehlenswert für Anhänger detailreicher Kriminalliteratur.
Friedrich Ani: Der namenlose Tag. Suhrkamp 2015
www.suhrkamp.de