Italien – Afrika und zurück
„Seit vielen Jahren ist Wagenbach der deutschsprachige Verlag mit den meisten Büchern aus und über Italien“, heißt es in der Broschüre, die dem erst 2024 übersetzten Debütroman Das große A von Giulia Caminito aus dem Jahr 2016 beiliegt. Zuvor erschienen von ihr auf Deutsch bereits Ein Tag wird kommen (2020) und Das Wasser des Sees ist niemals süß (2022), alle drei in Italien preisgekrönt. Die 1988 geborene Autorin gehört zur Delegation des Ehrengastlands Italien auf der Frankfurter Buchmesse 2024, das seine Literatur unter dem Motto Verwurzelt in der Zukunft präsentiert.
Der Traum von Afrika
Kein Wunder, dass sich die fantasiebegabte, sehr schmächtige Giadina, genannt Giada, während und nach dem Zweiten Weltkrieg weg aus dem Bombenhagel und vom Hunger im lombardischen Provinzstädtchen Legnano nahe Mailand wünscht. Ihre Sehnsucht gilt dem „Großen A“, Afrika, wo ihre Mutter Adele, männlicher Spitzname Adi, lebt, seit sie die Familie verlassen hat. In Assab in der ehemaligen italienischen Kolonie Eritrea, die seit 1941 Großbritannien untersteht, führt sie die Bar „Da Adi“. Ihre drei Kinder sind bei verschiedenen Familien untergebracht, Giada bei Adis liebloser faschistischer Schwester, die das Kostgeld unterschlägt.
Zum Jahreswechsel 1949/50 geht Giadas Wunsch endlich in Erfüllung: von Venedig aus fährt die inzwischen Siebzehnjährige ans Horn von Afrika:
Giada würde viele Dinge des großen A lieben. (S. 65)
Aber als sie das erste Mal ankam, waren alle Träume verflogen, wer weiß wohin, mit Sack und Pack emigriert. (S. 67)
Vom Mädchen zur Frau
Statt in einem gemütlichen Zimmerchen mit rosa Spitzengardinen für sich allein findet sich Giada in den Hinterzimmern der Bar wieder, in der sie abwechselnd mit der Mutter bedient. Unerträgliche Hitze, jahrelange Trockenheit, salzige Luft, das Nichts der Wüste, Staub, Dreck, Verwahrlosung, stechende Gerüche und kaum geselliges Leben – nichts davon hat sie erwartet. Aber es gibt auch den jungen Hamed, dem sie Lesen und Schreiben beibringt und mit dem sie lacht, ihre geliebte Gazelle Checco, die das Dasein als Haustier nicht lang überlebt, und schließlich den ebenso gutaussehenden wie unzuverlässigen und rastlosen Giacomo Colgada aus wohlhabender Familie in Asmara, der ihr Ehemann wird. An ihm, der nach Belieben auftaucht und verschwindet, und an seinen Eskapaden wächst Giadas Persönlichkeit in den folgenden Jahren, mit ihm geht sie nach Addis Abeba, Äthiopien, wo die Italiener ausgelassen ihr privilegiertes Leben genießen. Nichts hasst sie mehr, als Püppchen und Spielball zu sein, und für ihren Sohn Massi wird sie zur Löwenmutter. 1960, als das goldene Zeitalter für Italiener in Afrika endet, folgt sie ihrer Mutter, ihrem zweiten „Großen A“, ins fremd gewordene Italien nach Ravenna, ohne Gewissheit, ob Giacomo ihnen folgt.
Lesen mit allen Sinnen
Giulia Caminito hat sich bei ihrem Debüt für die Figur der Adele am Leben ihrer Urgroßmutter orientiert. Sie verbindet Themen wie Kolonialwesen, Faschismus, Rassismus, Auswanderung, Heimkehr und Fremdsein mit außergewöhnlich intensiven Naturschilderungen und den Lebenswegen zweier starker, zäher Frauen, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten männlichen Machtansprüchen Grenzen setzen. All dies ist sehr gelungen, wenn auch nicht so außergewöhnlich wie die Erzählweise: sprunghaft, oft aufzählend, aneinanderreihend, vieles nur andeutend, schroff, springend, alle Sinne ansprechend – kurz: großartig, wenn man bereit ist, sich darauf einzulassen.
Giulia Caminito: Das große A. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Wagenbach 2024
www.wagenbach.de
Weitere Rezension zu einem Roman von Giulia Caminito auf diesem Blog: