Heidi Furre: Macht

  Eine von zehn

Eine von zehn Frauen in Norwegen teilt das Schicksal von Liv, der Protagonistin im Roman Macht der 1985 geborenen norwegischen Autorin Heidi Furre: Sie werden Opfer eines „Vorfalls“, einer Vergewaltigung. Wenige Taten landen vor Gericht, wenige davon enden mit einem Schuldspruch.

Auch Liv hat nach der verhängnisvollen Nacht zwar eine Notfallambulanz aufgesucht, die Tat aber nicht angezeigt. War das richtig? Anders als geplant, lässt sich die Erinnerung nicht wegdrücken und kommt auch 15 Jahre danach in Form von Flashbacks zurück, davor schützt  auch die perfekte Fassade aus Ehemann, Kindern, Haus und Arbeitsplatz im Pflegeheim nicht. Zahnarztbesuche, Vorsorgeuntersuchungen oder der nächtliche Heimweg kosten sie größte Anstrengungen. Zur besonderen Herausforderung wird der Umgang mit einem Angehörigen einer Patientin, der wegen sexuellen Missbrauchs angeklagt war und freigesprochen wurde.

Macht und Scham
Ganz im Sinne der MeToo-Bewegung geht es der Autorin nicht um den Täter oder gar um Details der Vergewaltigung, und das ist gut. Stattdessen stehen Livs Leben und die Langzeitfolgen im Zentrum. Neben den Thema Macht, Machtverlust und Zurückeroberung der Macht geht es auch um Scham – Scham darüber, Opfer geworden zu sein, freiwillig mit ihrem Date nach Hause gegangen zu sein und sich vielleicht nicht genug gewehrt zu haben. Anders als das französische Vergewaltigungsopfer Gisèle Pélicot, die im hundertfachen Vergewaltigungsprozess von Avignon sämtliches schockierende Beweismaterial öffentlich zeigen ließ, damit die Scham die Seiten wechseln sollte, verheimlicht Liv die Vergewaltigung sogar ihrem Mann Terje.

Heidi Furre: Macht. Logo „Nein heißt nein. Vergewaltigung = Sex ohne Zustimmung: © Amnesty International. Collage: © B. Busch. Cover: © DuMont.

Ein ungeordneter Gedankenstrom
Größtes Plus dieses Romans ist einerseits, dass Heidi Furre dem Opfer eines noch immer gerne verschwiegenen Themas eine Bühne gibt. Andererseits sind es die unzähligen äußerst prägnant formulierten, von Karoline Hippe klar übersetzten Sätze, die inmitten der eher langweiligen Alltagsschilderungen herausragen:

Der Vorfall war wie ein Komet. Er umkreiste mich in unregelmäßigen Flugbahnen. (S. 30)

Ich wurde von einem Werwolf gebissen. Es ist irreversibel, der Biss geht nicht weg, egal was ich tue. (S. 54)

Es ist eine Wunde, die ständig neue Formen annimmt, und bei jedem Kontrollverlust wieder aufreißt. (S. 167)

Auch die Hochglanz-Covergestaltung und die Abbildungen im Vor- und Nachsatz von Niki de Saint Phalle, ebenfalls Vergewaltigungsopfer und im Text präsent, sind überaus passend und gelungen. Allerdings entspricht der ungeordnete Gedankenstrom zwar zu Livs innerer Zerrissenheit, aber die im Klappentext versprochene „Schlagkraft“ hat der Text für mich leider trotzdem nicht versprüht. Eine Entwicklung der Protagonistin ist kaum wahrnehmbar, auch wenn sie sich endlich ihrer Freundin Frances und Terje öffnet, und das Ende war mir zu abrupt und zu vage. Statt einer Therapie flüchtet Liv in Pillen, bisweilen Alkohol, exzessives Shoppen und eine extreme Fixierung auf ihr Äußeres, ohne dass es ihrem Mann aufzufallen scheint. Kaum eine Rolle spielen die kleinen Kinder. Zwar fürchtet Liv, ihr Trauma an sie weiterzugeben, und leidet unter dem Gedanken, keine gute Mutter zu sein, aber Zeit scheint sie kaum mit ihnen zu verbringen.

Auf Abstand
Macht
ist ein Roman über den Umgang mit einem Trauma und zeigt die inneren Kämpfe, die Scham, die Zweifel und den nicht nachlassenden Schmerz einer Betroffenen. Leider hält die Protagonistin jedoch nicht nur ihr Umfeld, sondern auch uns Leserinnen und Leser so stark auf Abstand, dass mich das Buch, obwohl ich es mir aufgrund des Themas gewünscht hätte, nur teilweise erreichte.

Heidi Furre: Macht. Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe. DuMont 2023
www.dumont-buchverlag.de

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