Schmelztiegel Nordkalotte
Über die Sámi, das indigene Volk der Nordkalotte, habe ich seit 2023 mehrere Romane von Angehörigen dieser Volksgruppe gelesen. Von den Kvenen, finnischen Einwanderern in die norwegische Finnmark und ihren Nachfahren, hatte ich dagegen auch bei einer Reise durch Lappland und die Finnmark 2024 bis zu einer Veranstaltung mit der Kvenin Ingeborg Arvola im Rahmen des Gastlandauftritts Norwegens auf der Leipziger Buchmesse 2025 noch nie gehört. Der erste Band ihrer Eismeer-Trilogie mit dem Titel Der Aufbruch ist inspiriert vom Leben ihrer Ur-Urgroßmutter und wurde 2022 mit dem renommierten norwegischen Brageprisen ausgezeichnet.

Nordwärts
Der Roman spielt in den Jahre 1859 bis 1862, als viele armen Finninnen und Finnen zur Saisonarbeit an die fischreiche Küste der norwegischen Finnmark zogen, oder dorthin auswanderten:
Vielleicht ist Gehen einfacher als Bleiben […] Es ist nicht leicht in der alten Heimat, wenn der Hunger an die Tür klopft. (S. 374)
Unter denen, die ihr Glück weiter nördlich suchten, war die 35-jährige Brita Caisa Seipajærvi mit ihrem elfjährigen Sohn Aleksi und dem dreijährigen Heikki. Ihr Aufbruch war allerdings nicht nur der Armut geschuldet, sondern auch ihrer Scham und Wut über die gegen sie als ledige Mutter verhängte demütigende Kirchenstrafe. Brita, deren Schönheit ebenso legendär war wie ihre für Tiere und Menschen heilenden Hände, verließ die Bauerngemeinde Sodankylä im finnischen Lappland 1859 in der Absicht, einen solidenVersorger für sich und ihre Söhne zu finden:
Ich brauche keine verheirateten Männer, ich brauche einen Mann zum Heiraten. […] Ein Fischer aus Pykeijä soll es sein. (S. 66)

Wider alle Vernunft
Kurz vor Pykeijä, norwegisch Bugøynes, am Varangerfjord, wo ihr älterer Bruder sich niedergelassen hatte, verdingte sie sich vorübergehend als Magd bei Mikkel Aska und seiner Frau Gretha, einem kinderlosen kvenischen Paar mit einem wohlhabenden Hof in Neiden. Entgegen aller Vorsätze verliebte sich die leidenschaftliche Brita in den Hofbesitzer und er sich in sie. Als die verzweifelte Gretha sie wegen Ehebruchs anzeigte, drohte ihnen bei der für Herbst 1862 anberaumten Gerichtsverhandlung Gefängnis und Mikkel der Verlust seines Hofs. Der um sein Zukunftsversprechen betrogene Aleksi kehrte sich wütend von seiner Mutter ab und viele versuchten, Brita zur Raison zu bringen, doch zu spät:
Mikko sitzt in meinem Herzen wie eine Frühlingsblume im Moor. (S. 188)
Lieder vom Eismeer
Der Aufbruch ist die dramatische Geschichte einer verbotenen Liebe zwischen einer willensstarken, unbeugsamen, leidenschaftlichen Frau und einem verheirateten Mann vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Umbruchs im Schmelztiegel verschiedener Ethnien, Kulturen und Sprachen. Kvenen trafen auf alteingesessene Sámistämme, die um Rentierweiden, Holz, Beeren und Fische kämpften, und norwegische Kaufleute, die sich an der Unwissenheit beider Gruppen bereicherten. Ingeborg Arvola taucht tief in das Alltagsleben der Nordländer ein, beschreibt die Natur, harte Arbeit auf den Höfen und beim Fischfang, Bräuche, Obrigkeit, Religiosität, Aberglauben und die schwelenden Konflikte sowohl innerhalb der Gruppen, als auch gegeneinander, die vor dem Ting häufig mit dem Verlust von Hab und Gut endeten. Die nüchterne Schilderung der harten Lebensbedingungen steht in scharfem Kontrast zu poetischen Naturbeschreibungen und der obsessiven Liebesbeziehung. Nicht Tempo und Action, sondern historische Genauigkeit, glaubhafte Charaktere und viel Atmosphäre prägen den Roman. Herausfordernd sind die zahlreichen Figuren und Orte mit unterschiedlichen Namensvarianten, eine Schwierigkeit auch für die Autorin, wie sie in ihrem Nachwort schreibt.
Ich bin sehr gespannt auf die Fortsetzung der Trilogie, deren Originaltitel Sanger fra ishavet, Lieder vom Eismeer, den Charakter des Textes noch besser treffen.
Ingeborg Arvola: Der Aufbruch. Aus dem Norwegischen von Katharina Martl. btb 2025
www.penguin.de
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