Die Übersetzerin Hanna Granz war nach ihrem Studium der Skandinavistik, Romanistik und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Bonn und Greifswald zunächst im Literaturhaus Leipzig tätig. Seit 2012 arbeitet sie als freiberufliche Übersetzerin, vor allem aus dem Schwedischen, aber auch aus dem Norwegischen und Dänischen.
Mir ist Hanna Granz erstmals 2020 als Übersetzerin von Patrick Svensson und seinem Buch Das Evangelium der Aale begegnet, einer Mischung aus autobiografischer Vater-Sohn-Geschichte und Natur- sowie Kulturgeschichte dieses Fisches und den dementsprechend anspruchsvoll zu übersetzenden biologischen Details.
Mit großer Freude habe ich auch die von ihr übersetzten Bücher von Alex Schulman gelesen und weiß, seit ich drei seiner damals noch unübersetzten autobiografischen Romane im Original gelesen habe, wie perfekt sie den Ton dieses von mir sehr geschätzten Autors trifft.
Mein letzter von Hanna Granz ebenfalls sehr einfühlsam ins Deutsche übertragener Roman war Das Echo der Sommer der samischen Autorin Elin Anna Labba.

Liebe Frau Granz, Sie übersetzen vor allem aktuelle Literatur, haben aber auch schon Klassiker von Selma Lagerlöf neu übersetzt. Was ist generell anders bei der Arbeit mit Klassikern? Würden Sie gerne mehr Klassiker übersetzen?
Anders ist natürlich, dass man in eine ganz andere Zeit eintaucht, und entsprechend einen etwas anderen Sprachwerkzeugkasten braucht. Wenn es Neuübersetzungen sind, gibt es Vorgänger:innen, denen man Respekt zollt, von denen man sich aber gleichzeitig absetzen möchte. Es heißt ja, Originaltexte altern nicht, Übersetzungen dagegen schon. Man muss also eine Balance zwischen Zeitkolorit und etwas modernerer Sprache finden, durch die der Text einerseits sicher verortet und andererseits einem heutigen Lesepublikum zugänglicher gemacht werden kann. Das finde ich sehr reizvoll.
Sind Ihre Übersetzungen grundsätzlich Auftragsarbeiten oder haben Sie auch schon Bücher „entdeckt“ und Verlagen vorgeschlagen?
Die meisten sind Auftragsarbeiten – entweder kommen Verlage von sich aus auf mich zu, oder weil Kolleg:innen mich empfohlen haben. Einen eigenen Vorschlag unterzubringen, ist mir bisher nur ein einziges Mal gelungen – oder sagen wir zweimal, beim zweiten aber auf Umwegen und vor allem dadurch, dass jemand wusste, dass ich bereits mit dem Text gearbeitet hatte. Wenn es gelingt, ist das jedes Mal ein Glücksfall.
Lesen Sie die zu übersetzenden Bücher, bevor Sie mit der Arbeit beginnen? Oder lassen Sie sich überraschen?
Ich lese eigentlich immer zuerst das ganze Buch. Erstens, weil ich wissen will, worauf ich mich einlasse. Und zweitens, weil es manchmal einen Twist in der Geschichte gibt, auf den ich beim Übersetzen vorbereitet sein muss – gerade, wenn er sich vorher bereits unterschwellig ankündigt. So etwas muss man meiner Meinung nach vorwegnehmen können, man darf nicht reinstolpern. Und bei der Übersetzung dann weder zu viel gucken lassen, noch etwas unterschlagen – das gelingt nur, wenn man vorher Bescheid weiß.
Bei „Die Überlebenden“ von Alex Schulman gibt es gegen Ende eine überraschende Wendung, bei der ich zurückgeblättert habe, um mich zu vergewissern, dass ich nichts überlesen hatte. Ging es Ihnen bei der Übersetzung ähnlich? Mussten Sie eventuell einzelne Stellen überarbeiten? Waren Sie ebenso überrascht?
Genau, das ist so ein Beispiel! Da war es wichtig, vor dem Übersetzen Bescheid zu wissen. Beim Lesen hat mich die Wendung genauso überrascht wie Sie. Weil ich dann aber vorbereitet war, konnte ich gut damit umgehen, es gewissermaßen innerlich vorbereiten, sodass ich nichts überarbeiten musste.
Bei den Büchern von Alex Schulman kommen einige Szenen immer wieder in leicht abgewandelter Form vor. Mir als Leserin macht das großen Spaß, wie geht es Ihnen damit?
Oh, das freut mich, dass man es auch so sehen kann! Als Übersetzerin liest man sehr kritisch, und ich habe dann oft gehadert und gedacht: Na, Mensch, das hat er doch schon mal geschrieben, das kann ich doch so nicht bringen! – Aber dann habe ich mich erinnert, dass es mir bei Romanen von z.B. Paul Auster auch oft so ging, dass ich beim Lesen Dinge wiedererkannt habe, und dass es da eher wie ein Nach-Hause-Kommen war, etwas Vertrautes. Das ist im Grunde auch das Tolle, wenn man eine:n Autor:in über Jahre immer wieder übersetzt: Man kennt dann seine Welt, in diesem Fall den Schulman-Kosmos, und kann da gleich wieder eintauchen – das schenkt Souveränität und Sicherheit. Darüber hinaus ist man bereits mit dem Ton, mit dem Sound vertraut und kann auch diesen sozusagen wiederaufnehmen. „Endstation Malma“ fällt da vielleicht ein bisschen raus, aber die anderen, die autobiografischen oder autofiktionalen Romane, die haben diesen ganz großen Wiedererkennungseffekt.
Ihre Übersetzung von „Das Echo der Sommer“ hat mir besonders gut gefallen, einerseits wegen der poetischen Abschnitte aus der Sicht eines Sees, andererseits wegen der guten Verständlichkeit bezüglich der Belange der Sámi. Mussten Sie dafür Sekundärliteratur über deren Lebensweise, Geschichte, Politik und Kultur heranziehen? Ist eine solche Zusatzarbeit angesichts des Zeitdrucks bei Übersetzungen und des Seitenhonorars überhaupt möglich?
Gerade bei dieser Übersetzung war es mir aufgrund enormen Zeitdrucks kaum möglich, Extra-Recherchen zu betreiben. Aber ich habe alles versucht und auf die Mittel zurückgegriffen, die mir in der Kürze der Zeit zur Verfügung standen. Zum einen habe ich die Autorin gebeten, mir Fotos zu schicken, um diese Landschaft im Vorher-Nachher wirklich bildlich vor mir sehen zu können. Zum anderen gab es zufällig kurz vor der Manuskript-Abgabe eine Ausstellungseröffnung zu samischer Kultur im Museum europäischer Kulturen in Berlin. Da ging es vor allem um die Frage der Restitution, also, wie man Ausstellungsstücke behandelt, und ob es in manchen Fällen nicht angemessener wäre, sie den entsprechenden indigenen Völkern zurückzugeben – vieles ist ja einfach geraubt worden. Gleichzeitig ist es so wichtig, sich die Dinge anschauen und sich ein Bild von fremden Kulturen machen zu können. Schön für mich war bei dieser speziellen Veranstaltung, dass auch gejoikt wurde, das ist ja auch ein zentrales Element der samischen Kultur und immer wieder Thema im Roman, dass die Sámi ihre Landschaften, ihre Seen und ihr Erleben ganz allgemein singen und dadurch weitergeben. Das war wirklich schön und wichtig, dass ich das auf diese Weise erleben konnte. Und dann wurden im Museum natürlich auch viele Alltagsgegenstände und Kleidungsstücke gezeigt, das hat ebenfalls beim Übersetzen geholfen. Kurz zusammengefasst: Die Zeit ist meist viel zu knapp – aber es wäre toll, so etwas intensiver betreiben zu können, und ich persönlich nutze jede Gelegenheit, um mir lebendige Eindrücke zu verschaffen.
Versuchen Sie, vor, während oder nach der Übersetzungsarbeit Kontakt zu den Autorinnen und Autoren aufzunehmen, soweit sie noch am Leben sind?
Ja, eigentlich immer, und in 95 % der Fälle stehe ich auch tatsächlich in Kontakt mit ihnen. Das ist hilfreich und unheimlich belebend; ein bisschen vielleicht, wie wenn man ein fremdes Kind betreut und sich vorher bei der Mutter/beim Vater über dessen Besonderheiten und Bedürfnisse erkundigt … Man übernimmt ja die Verantwortung für den Text und muss genau wissen, wie er tickt, wie er gemeint ist, was er braucht usw., und ob man bestimmte Signale oder Marker tatsächlich richtig versteht. Es entsteht dabei oft auch ein enges Vertrauensverhältnis, sehr respektvoll und immer bemüht um die Sache. Ich liebe diesen Austausch sehr.
Können Sie neben den genannten drei von Ihnen übersetzte Bücher empfehlen, die Leserinnen und Leser dieses Blogs unbedingt kennenlernen sollten?
Johanne Lykke Holm ist eine besondere Autorin, die ich Ihren Leser:innen gerne ans Herz lege, und wenn man Krimis mag, die ein bisschen mehr sind als bloß Genre-Literatur, dann empfehle ich wärmstens Tove Alsterdal. Ihre Romane haben immer eine wahre Begebenheit in der näheren oder ferneren Vergangenheit als Hintergrund und sind wahnsinnig gut recherchiert – es macht großen Spaß, sie zu übersetzen und zu lesen! Ein sehr erhellendes Buch war aber auch „Die Autistinnen“ von Clara Törnvall. Da habe ich ebenfalls viel gelernt – über die besondere Form des Autismus bei Frauen, aber auch über gesellschaftliche Strukturen und ihre oft einschränkenden Auswirkungen auf den Einzelnen.
Können Sie Übersetzungsaufträge ablehnen, wenn Ihnen die Bücher nicht zusagen?
Ja. Wenn ich z.B. gar keinen Zugang zum Text finde, dann lehne ich Aufträge ab. Manchmal mit Bauchgrimmen, wenn die Auftragslage gerade dünn ist, aber auch hier gilt: Ich habe als Übersetzerin eine Verantwortung, ich muss dem Text gerecht werden können. Und ihn irgendwie mögen, sonst wird es nichts.
Die Kunst des Übersetzens ist nicht nur eine mechanische Aufgabe, sie erfordert auch ein hohes Maß an Kreativität und Flexibilität. Wie finden Sie die Balance zwischen Texttreue, Anpassung kulturellen Nuancen und dem Jonglieren mit verschiedenen Bedeutungen?
Durch Vorstellungskraft, Lebenserfahrung und Lesen in der Ziel-, also meiner Muttersprache Deutsch. Und natürlich, indem ich immer wieder versuche, mir Sprache, Kultur und gesellschaftliche Zusammenhänge im Herkunftsland des Textes zu vergegenwärtigen. Je mehr man eintauchen kann, desto besser; anschließend muss man aber auch auftauchen, einen Schritt zurücktreten und den Text den Gepflogenheiten der Zielsprache anpassen. Oft sind es ganz kleine Nuancen, die aber eben doch den Unterschied machen, und bei denen man durch ein ganz bisschen Drehen an einem Schräubchen plötzlich viel mehr Authentizität bekommt. Eine alte Übersetzerweisheit lautet (etwas abgewandelt): Man muss die einzelnen Szenen nachtanzen können, dann funktioniert der Text.
Nur sehr wenige Verlage nennen die Übersetzerinnen und Übersetzer auf dem Cover. Wird nach Ihrer Ansicht den Übersetzerinnen und Übersetzern literarischer Werke zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt? Was würden Sie sich wünschen?
Ich glaube, da ticken wir Übersetzer:innen nicht anders als andere auch. Natürlich wünschen wir uns, gesehen und in unserer Arbeit gewürdigt zu werden. Auch sehe ich mich eben nicht als Dienstleisterin, sondern als Künstlerin: Ich schaffe ein fremdsprachiges Werk in meiner Sprache neu. Das hat sehr viel mit Kreativität und Menschlichkeit zu tun. Anschließend mit auf dem Cover zu stehen, wäre schlicht eine adäquate Anerkennung meiner Leistung. Einige Verlage machen das inzwischen ja auch schon. Ähnliches gilt übrigens auch für Rezensionen. Manchmal liest man ja begeisterte Pressestimmen, die sich gerade über die Sprache lobend äußern. Da denke ich dann oft: Ja genau, und das ist mein Verdienst. Wäre schön, das gewürdigt zu wissen.
In Zeiten von KI kann eine Frage nach ihrer Nutzung im Bereich literarischer Übersetzungen nicht fehlen. Nutzen Sie KI für Ihre Arbeit? Sehen Sie Ihren Beruf langfristig in Gefahr?
KI ist seit einer Weile ein großes Thema in unserer Branche, das natürlich auch Verunsicherung mit sich bringt. Was, wenn die Tools immer besser werden, was, wenn wir nicht mehr gebraucht werden? Umso wichtiger scheint mir, immer wieder den künstlerischen und menschlichen Faktor hervorzuheben, uns als Übersetzer:innen sichtbar zu machen und zu sagen: Seht her, das ist es, was uns ausmacht und weshalb es wichtig ist, dass Übersetzung, aber auch Sprache insgesamt, in unserer, in menschlicher Hand bleibt. Allein schon wegen der vielen Manipulationsmöglichkeiten, die diese ganzen Tools (auch politisch übrigens!) bieten. Das hat wieder mit der Verantwortung zu tun. Ich würde mal behaupten, KI hat kein Ethos, keine Moral, kein Verantwortungsgefühl. Wir dagegen schon, das macht uns als Menschen aus. Ich habe noch nie mit KI oder Sprachmodellen gearbeitet, es ist (bis auf Google-Recherchen) reine Handarbeit, und darauf bin ich auch ein bisschen stolz.
Was sind Ihre nächsten Projekte?
Derzeit sitze ich an einem Krimi, als nächstes kommt – tatsächlich! Sie dürfen sich freuen! – ein neuer Schulman.
Ganz herzlichen Dank für Ihre Zeit!
Es war mir ein Vergnügen!
Rezensionen zu Büchern in der Übersetzung von Hanna Granz auf diesem Blog: