Samuel und die anderen
Es gab eine Zeit, die vorwärts eilte, und eine Zeit, die rückwärts lief. Eine Zeit, die im Kreis ging, und eine, die sich nicht bewegte, nie mehr war als ein einzelner Augenblick. (S. 41)
Kaum hatte ich Die Unschärfe der Welt beendet, erschien der Roman der 1977 in Herrmannstadt, Siebenbürgen, geborenen Autorin Iris Wolff auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2020. Eine gute Wahl, auch wenn mein Start nicht leicht war, behinderte doch die titelgebende „Unschärfe“ zunächst die zeitliche und räumliche Verortung der Handlung und die Zuordnung der Figuren. Zum Rettungsanker wurde jedoch bald Samuel, dritte von vier Generationen dieses Familienromans. In jedem der sieben Kapitel spielt er eine zentrale Rolle für die Menschen seines Umfelds und sorgt für zeitliche Einordnung. Dabei bleibt auch er unscharf, wirkt auf jeden anders, und nicht einmal die Beschreibung seiner Augenfarbe stimmt überein.
Sieben Episoden, viele Leerstellen
Aus der Sicht seiner Mutter Florentine und in personaler Erzählform beginnt der Roman mit Samuels Geburt in den 1960er-Jahren. In einem Banater Dorf an der westlichen Außengrenze Rumäniens hat sein Vater Hannes seine erste Pfarrstelle angetreten. Samuel erlebt eine Kindheit und Jugend im Rumänien unter dem stalinistischen Conducător Nicolae Ceaușescu und dessen Geheimdienst Securitate, der sich besonders für die Gäste im Pfarrhaus interessiert und dessen Spitzel und Gehilfen sich bis in die Kirchengemeinde erstrecken. Im zweiten bis sechsten Kapitel stehen im Mittelpunkt Figuren wie Florentines slowakische Freundin Malva und ihr gewalttätiger Ehemann Konstanty, Samuels Großeltern Karline und Johann, seine Freundin Stana, sein Freund Oz, dem er beim Kampf gegen seine Drachen beisteht, und ein ehemaliger Gast im Pfarrhaus namens Bene, dem Samuel auf abenteuerlichem Weg ein zweites Mal begegnet. Das Schlusskapitel gibt die Sichtweise seiner Tochter Liv wieder, als die Familie nach der rumänischen Revolution weit verstreut lebt, gegen Fremdheit ankämpft und mit Deutsch, Slowakisch und Rumänisch über keine gemeinsame Sprache verfügt.
Viele Themen
Die Unschärfe der Welt ist kein politischer Roman, sondern ein Buch über Familie, Freundschaft, Zusammenhalt, Einsamkeit, Heimat und Sprache, in den die Wirren der Geschichte jedoch beträchtlichen einfließen. Die rigorose Familienpolitik Ceaușescus mit Tausenden toter Frauen, denen man nach verbotenen Abtreibungsversuchen medizinische Hilfe verweigerte, sein Personenkult und Nepotismus, die Zustände in den Gefängnissen, die wirtschaftliche Misere und der Ausverkauf der deutschsprachigen Bevölkerung kommen zur Sprache:
Dieses Land hielt eine Ordnung aufrecht, an die nur noch unter Mühe (oder gleich gar nicht) geglaubt wurde. Dennoch wurde darauf beharrt, es sei eine objektive Wirklichkeit. (S. 129)
Ein sprachlicher Genuss
Iris Wolff erzählt dies alles in einer sehr melodischen Sprache, stilsicheren Sätzen und originellen Bildern. Beeindruckt hat mich die große Empathie, die sie ihren eigenwilligen Figuren entgegenbringt. Vieles könnte ich hier zitieren, stellvertretend soll einer der für mich schönsten Abschnitte über die Wandlung von Stanas und Samuels Kinderfreundschaft in Liebe stehen:
Wenn sie nachdachte, wo Samuel in ihrem Körper wohnte, stellt sie fest, dass er inzwischen überall war. Sie fühlte ihn in den Fingerspitzen, in der Kraft ihrer Schultern. Mitten in der Brust hatte er einen weiten Raum eingenommen, in ihren Bauch sandte er ein leichtes, auffliegendes Gefühl. Neuerdings gab es eine Verbindung zwischen der Herzgegend und ihrem Unterleib, ein heißes, wirbeliges, ganz und gar beunruhigendes Gefühl. […] Samuel hatte, ohne es zu wissen, die Landkarte ihres Körpers für sich eingenommen […]. (S. 101)
Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt. Klett-Cotta 2020
www.klett-cotta.de
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