Irma Nelles: Die Gräfin

  Aussteigerin im Watt

Im Wattenmeer vor der nordfriesischen Halbinsel Nordstrand liegt, neben vielen anderen Halligen, die Hallig Südfall. Von 1910 bis zu ihrem Tod 1953 gehörte sie der 1863 geborenen Diana Gräfin von Reventlow-Criminil, die dort als Aussteigerin auf der einzigen Warft zunächst sommers, später ganzjährig mit wenigen Bediensteten und ihren Tieren lebte. Bis heute erinnert man sich in Nordfriesland an die eigenwillige und mutige „Hallig-Gräfin“, die dem Luxus im holsteinischen Schloss Emkendorf und dem Umgang mit dem europäischen Hochadel zugunsten eines schlichten Lebens ohne Strom und fließendem Wasser entsagte. Die 1946 geborene und kurz vor der Veröffentlichung ihres Debütromans Die Gräfin verstorbene Autorin Irma Nelles stammt von der Insel Nordstrand und ist mit den Erzählungen um die Hallig-Gräfin aufgewachsen.

Ein überraschendes Ereignis
Sechs Tage am Ende des Sommers 1944 umfasst der nur 169 Seiten starke Unterhaltungsroman, in dem die Autorin auf das Leben der inzwischen 80-jährigen Gräfin blickt. Nach der Rückeroberung von Paris durch die Alliierten hoffen Diana und ihre wenigen Vertrauten, die immer wieder Verfolgten zur Flucht verhelfen, auf ein rasches Kriegsende. Doch zuvor findet Diana im Watt einen abgestürzten Officer der Royal Airforce, John Philip Gunter, und dessen einmotoriges Aufklärungsflugzeug. Zusammen mit ihrem Kutscher und Hausmeister Knut Maschmann, ihrer jungen Haustochter Meta Olsen und dem aus Nordstrand herbeigerufenen Ärztepaar Käthe und Carl Braack kümmert sie sich um den Verletzten und versteckt ihn vor der Gestapo und ihren Helfern.

Irma Nelles: Die Gräfin. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Hanserblau

Verschenktes Potential
Das große Plus dieses Romans sind zweifellos die sehr atmosphärischen Beschreibungen der nordfriesischen Natur und des Hallig-Lebens. Da pfeift der Wind zwischen den Seiten, lebt man unter dem Diktat von Ebbe und Flut, blickt ängstlich auf die Sturmflut des Jahres 1936 zurück und sieht den „silbern flirrenden Horizont“ sowie die „nur wenige Zentimeter mit Wasser bedeckte Meeresfläche, in der sich der Himmel spiegelte, als wären sie eins“ (S. 17). Genau wie den plattdeutschen Gesprächsteilen merkt man auch den Einsprengseln über den Heimat- und Rungholt-Forscher Andreas Busch (1883 – 1972) oder den von den Nationalsozialisten als entartet gebrandmarkten Föhrer Maler Gustav Mennicke (1899 – 1988), der zeitweise in Südfall Schutz fand, die Verbundenheit der Autorin mit ihrer Heimat an. Leider erreicht jedoch weder die unspektakuläre Romanhandlung noch die sprachliche Umsetzung diese Qualität und der Einbau des zweifellos interessanten Hintergrundwissens wirkt oft gekünstelt. Besonders die häufig leblosen Dialoge, die weniger der Interaktion der Sprechenden als der Information der Leserinnen und Leser dienen, haben mir nicht gefallen. Immer wieder verliefen Andeutungen im Sand, ergaben sich für mich Lücken in der Logik oder widersprach sich der Text, beispielsweise wenn die Hauptperson zunächst den Pomp auf dem heimatlichen Schloss als Grund für ihren Rückzug anführt, wenig später jedoch die „wundervolle Zeit“ (S. 109) preist. Unglaubhaft auch, dass der vom Arzt ins Gipsbett Verbannte bei der Bergung des Flugzeugs hilft und eine Liebesnacht erlebt. Die Monologe Dianas über ihre Leben konnte ich schwer mit dem Bild der wortkargen Frau in Einklang bringen, auch wenn die unerwartete Begegnung sie sehr bewegt.

Bei einem anderen Finale hätte ich vielleicht über manches hinweggesehen, doch bleibt mir der überaus plötzliche Schluss mit jeder Menge loser Fäden ebenso rätselhaft wie der Prolog. Schade, denn mit dem guten Gespür der Autorin für friesische Atmosphäre und ihrer interessanten Protagonistin wäre mehr möglich gewesen.

Irma Nelles: Die Gräfin. Hanserblau 2024
www.hanser-literaturverlage.de/verlage/hanserblau

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