Mühsal der Pubertät
Marigold Daisy Green wächst – vermutlich in der frühen zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – in einem kalten Küstenort in Yorkshire, so abgelegen, dass man nicht einmal richtig Fernsehen empfangen kann, unter außergewöhnlichen Umständen auf. Ihre Mutter ist bei ihrer Geburt verstorben, was ihr, wie sie meint, etwas Prinzessinnenhaftes verleiht. Ihr Vater William Green, ein sanftmütiger, schweigsamer und zerstreuter Intellektueller, leitet das altmodische Jungeninternat St Wilfrid‘s. Er wird heimlich von den Schülern Bill genannt, daher Marigolds Spitzname „Bilge“, „Bills gelungene Tochter“, im Original „Bilgewater“, eine Bezeichnung für Leckwasser im Schiffsrumpf, sogenannte „Kieljauche“.
Die Aufmerksamkeit der zupackenden 36-jährigen Hausmutter Paula Rigg, einer Farmerstochter aus Dorset mit orkanhafter Durchsetzungsfähigkeit, muss sich Marigold seit ihrer Geburt mit 40 Internatsschülern teilen. Gerecht, fürsorglich, aber nicht übertrieben mütterlich, hält Paula nichts von Äußerlichkeiten und duldet keinerlei Selbstmitleid.
Vater und Tochter Green gelten als skurril, ihr Sozialleben beschränkt sich auf die Donnerstagsrunden des Vaters mit ebenso kauzigen, hochbetagten Kollegen. Marigold, die vor allem die langen, schweigsamen Schachpartien mit ihrem Vater liebt, leidet unter ihrem Außenseiterdasein und hält sich für hässlich, dumm und nicht liebenswert.

Enttäuschte Hoffnungen
Als Marigold 17 Jahre alt ist und sich trotz anderer, unerkannter Alternativen ganz der Schwärmerei für den attraktiven Schulsprecher Jack Rose hingibt, kehrt ihre glamouröse und geheimnisvolle Kindheitsfreundin Grace Gathering wie eine Verheißung an ihre Schule zurück. Plötzlich fällt etwas von deren Glanz auf sie. Grace nimmt sich Marigolds Garderobe und ihrer leuchtend orangefarbenen Locken an, und als Marigold eine Wochenend-Einladung zur Familie von Jack Rose erhält, dessen Mutter angeblich ihre verstorbene Mutter kannte, scheint ein anderes Leben in greifbare Nähe zu rücken.
Doch es kommt ganz anders, denn die Besuchstage halten eine Kette von Katastrophen für Marigold bereit. Das vermeintliche Landhaus entpuppt sich als abweisende Vorortvilla mit Zahnarztpraxis, der Empfang ist kalt und vor allem ist sie nicht der einzige Gast. Turbulente Stunden mit Anklängen an Schauerromane brechen an, komödienhaft für die Leserschaft, doch voller Enttäuschungen und Ernüchterung für Marigold, die sich fortan Abstinenz von Liebe, Männern und Freundschaft schwört.
Mehr Charakterstudie als Spannungsgeschichte
Tage auf dem Land ist eine klassische Coming-of-Age-Geschichte, im Original bereits 1976 und nun, kurz nach dem Tod der in Deutschland spät entdeckten britischen Autorin Jane Gardam (1928 – 2025), erstmals in der Übersetzung von Monika Baark auf Deutsch erschienen. Thematisch könnte man einen Jugendroman vermuten, zahlreiche literarische Anspielungen und die Fokussierung auf durchweg exzentrische Charaktere statt auf einen echten Plot machen das Buch jedoch eher zu einer Lektüre für Erwachsene.
Eine geniale Hörbuchsprecherin
Ich habe mir den trotz der Zuneigung der Autorin zu ihrer Protagonstin nie sentimentalen Roman Tage auf dem Land in der ARD-Audiothek in gut acht, meist unterhaltsamen Stunden vorlesen lassen. Die herausragende Schauspielerin und Sprecherin Sonja Beißwenger lebt die Rolle der Marigold und unterstreicht mit ihrer Interpretation genau das, was mir an dem Buch gefallen hat: den unvergesslichen Charakter der hinreißenden Ich-Erzählerin mit ihrer fehlenden Menschenkenntnis und grotesken Weltfremdheit, ihrer herausragenden Intelligenz und Fantasie, ihrer Ehrlichkeit und Selbstironie, ihren Sehnsüchten, ihrem Snobismus und dem typisch britischen Humor in ihrem detailreichen Gedankenstrom.
Das Buch ist 2025 im Verlag Hanser Berlin erschienen.
Jane Gardam: Tage auf dem Land. Übersetzung: Monika Baark. Sprecherin: Sonja Beißwenger. Eine Koproduktion von NDR Kultur, MDR Kultur und hr2-kultur in der ARD-Audiothek. 2025
www.ardaudiothek.de
Weitere Rezension zu einem Roman von Jane Gardam auf diesem Blog: