Jean-Baptiste Andrea: Was ich von ihr weiß

  Das Geheimnis der rätselhaften Pietà

Zwei Zeitebenen mit unterschiedlicher Erzählperspektive wechseln sich im 500 Seiten starken Roman Was ich von ihr weiß von Jean-Baptiste Andrea gekonnt ab. Die erste setzt 1986 ein. Personal erzählt aus der Sicht des Abtes der abgelegenen piemontesischen Sacra di San Michele, erfahren wir von den letzten Stunden im Leben des einzigen Mitbewohners ohne Gelübde, Michelangelo Vitaliani, genannt Mimo. Der Bildhauer lebt seit etwa 40 Jahren in der Abtei, wo der Vatikan seit 1951 sein Hauptwerk, eine skandalumwitterte, rätselhafte Marmor-Pietà, im Keller vor den Augen der Öffentlichkeit versteckt hält. Während der Abt sich anhand von Unterlagen zu dem mysteriösen Kunstwerk zurückerinnert, blickt der sterbende Ich-Erzähler im zweiten Erzählstrang chronologisch auf sein bewegtes Leben bis zu seinem völligen Rückzug aus der Welt zurück.

Zwei Welten
Michelangelo Vitaliani wurde 1904 als Kind italienischer Auswanderer in Frankreich als Sohn eines Bildhauers geboren, arm, kleinwüchsig und, als wären diese Eigenschaften nicht schon Anlass genug für Spott, mit der Bürde eines monumentalen Namens. Nach dem Tod des Vaters schickte ihn seine Mutter 1916 zu einem Steinbildhauer nach Italien. Drei glückliche Umstände halfen dem jungen Mimo, die demütigenden Sklavenjahre bei einem brutalen Lehrmeister im ligurischen Bergdorf Pietra d’Alba zu überleben: seine Liebe zur Bildhauerei, Freundschaften mit etwas älteren Jugendlichen und die Bekanntschaft mit der gleichaltrigen Viola Orsini, Tochter der ortsansässigen wohlhabenden und einflussreichen Adelsfamilie. Während Mimo von einer Künstlerkarriere träumt, träumt Viola vom Fliegen. Das hochintelligente, freigeistige und vielseitig interessierte Mädchen passt nicht in ihre vorgezeichnete Rolle und will ihre Ketten sprengen. Ab dem Sommer 1918 sind Mimo und Viola unzertrennlich, allerdings heimlich, denn Mimo bleibt wegen seines sozialen Stands der Zugang zur Villa Orsini verwehrt – bis er dank von den Orsini-Brüdern vermittelten vatikanischen und faschistischen Großaufträgen in die Künstlerelite Italiens aufsteigt.

Jean-Baptiste Andrea: Was ich von ihr weiß. Fotos: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Luchterhand.

Ein Stoff mit mehr Potential
Der 1971 geborene französische Autor und Filmemacher Jean-Baptiste Andrea erzählt die Geschichte der tiefen, jedoch spannungsgeladenen Freundschaft zwischen Mimo und Viola vor dem Hintergrund der politischen Turbulenzen Italiens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Aufstieg, Machtübernahme und Fall des Faschismus. Wie bei einem Filmemacher zu erwarten, ist die Dramaturgie sorgfältig geplant und durchdacht, der Spannungsbogen um die rätselhafte Pietà wird erst spät aufgelöst und ein Rädchen greift passgenau ins andere. Allerdings ist die Erzählweise konventionell, es wird mehr geredet und erzählt als gezeigt und die klischeehaften Figuren haben wenige Ecken und Kanten, weshalb trotz ihres zu Herzen gehenden Schicksals stets eine Mauer zwischen ihnen und mir stand. Leider kommen für mich auch die politischen Bezüge, die Verantwortung des vermeintlich unpolitischen Künstlers in der Diktatur, die Rolle des Vatikans im Holocaust, zu der es nur wenige beschönigende Sätze gibt, sowie Mimos künstlerischer Entwicklungsprozess zu kurz. Mehr Zeitgeschichte und Atelier, dafür weniger Spelunke, hätte mir besser gefallen.

Was ich von ihr weiß ist ein leicht und flüssig zu lesendes, abgesehen von einigen Längen unterhaltsames Buch. Die Auszeichnung mit dem renommierten Prix Goncourt für den besten französischsprachigen Roman des Jahres 2023 überrascht mich allerdings, denn der Stoff hätte meiner Ansicht mehr Potential gehabt.

Jean-Baptiste Andrea: Was ich von ihr weiß. Aus dem Französischen von Thomas Brovot. Luchterhand 2025
www.penguin.de

 

Weitere Rezensionen zu Siegertiteln des Prix Goncourt auf diesem Blog:

2016
2018
2019
2021

 

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