Jon Fosse: Das ist Alise

   23 Jahre und kein Ende

In einem abgelegenen alten Haus oberhalb eines westnorwegischen Fjords liegt im März 2002 die alte Signe grübelnd auf einer Bank in ihrer Stube. Ihre Gedanken kreisen um eine Katastrophe, die sich vor 23 Jahren ereignete. An einem Dienstag Ende November 1979 fuhr ihr Mann Asle bei Sturm, Regen, Kälte und Dunkelheit wie an jedem Tag mit seinem geliebten kleinen Holzruderboot auf den Fjord hinaus und verschwand. Nur die leere Jolle kam zurück.

Von ihrer Bank aus sieht Signe sich selbst am Fenster stehen, wie sie auf den Fjord, das Bootshaus und den Steg hinunterstarrte und gleich Tausenden Frauen vor ihr auf ihren Mann wartete. Wieder beobachtet sie Asle dabei, wie er angesichts des schlechten Wetters zögerte und doch der Anziehungskraft des Wassers erlag, blickt auf ihr gemeinsames Leben zurück, hört ihr letztes Gespräch und sieht ihn zum letzten Mal das Haus verlassen.

Übergangslos wechselt die Perspektive und gleitet von Signes zu Asles Gedanken und wieder zurück. Das Rätsel um seine Beweggründe für seinen riskanten Ausflug und sein Verschwinden kann Signe nicht lösen, der Verlust dominiert ihr Leben:

[…] es tut immer noch so weh, denkt sie, nein, sie will nicht mehr daran denken, denkt sie, er ist fort, er kommt nie wieder […] (S. 66)

Jon Fosse: Das ist Alice. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © mare.

Erinnerungen und Visionen
Nicht nur die Erinnerungen an ihren geliebten Asle suchen Signe heim, sondern auch Visionen von vier Generationen seiner Familie, die das alte Haus vorher bewohnten. Wendepunkte ihres Lebens entfalten sich vor Signes Augen, Menschen aus verschiedenen Zeiten bewegen sich gleichzeitig oder nacheinander durch ihr Haus und ihre Stube. Da ist die Ururgroßmutter von Asle, Alise, die ihren Sohn Kristoffer nur knapp vor dem Ertrinken im Fjord rettete, während Brita, Kristoffers Frau, am 17. November 1897 ihren Sohn, auch er mit Namen Asle, an seinem siebten Geburtstag nur noch tot aus dem Fjord bergen konnte. Die Szene, in der Brita ihr totes Kind zum Haus hochträgt, ist eine der bewegendsten und herzzerreißendsten der Novelle.

Obwohl es in der Gegenwart kaum Handlung gibt, erfahren wir doch auf nur 116 luftig bedruckten Seiten rückwirkend entscheidende Puzzlesteine einer Familiengeschichte über fünf Generationen. Wie der verschwundene Asle ist auch der Autor Jon Fosse kein Freund großer Worte, dafür umso mehr Meister innerer Monologe und der außergewöhnlichen Form. Ohne Punkte, Absätze oder Kapitel und in minimalistischer Sprache erzählt er eine dichte, melancholisch-düstere, bisweilen mystische Geschichte über unbewältigte Trauer, Verlust, Einsamkeit und Sehnsucht, die in wiederkehrenden Feuern aufleuchtet.

Hinrich Schmidt-Henkel auf der Leipziger Buchmesse 2025. © B. Busch

Keine Angst vor Jon Fosse!
Das ist Alise
aus dem Jahr 2003 ist das erste Buch, das ich vom 1959 in Haugesund an der norwegischen Westküste geborenen Dramatiker, Lyriker, Essayisten, Prosaautor und Literaturnobelpreisträger des Jahres 2023 Jon Fosse gelesen habe. Seit der Preisverleihung „für seine innovativen Theaterstücke und Prosa, die dem Unsagbaren eine Stimme verleihen“ als vierter Norweger nach Bjørnstjerne Bjørnson (1903), Knut Hamsun (1920) und Sigrid Undset (1928) bin ich um seine Bücher herumgeschlichen und habe die Herausforderung durch Form und Inhalt gescheut. Dabei ist Das ist Alise keineswegs schwer zu lesen, wenn man die innere Hürde überwindet, sich Zeit nimmt und von der Erzählweise tragen lässt wie von den Wellen über den Fjord. Sobald man sich dem Stil und der von Hinrich Schmidt-Henkel fantastisch ins Deutsche übersetzten sanften, gesangartigen Sprache hingibt, entfaltet die Novelle eine mitreißende, geradezu hypnotische Wirkung und beschert ein garantiert einmaliges Leseerlebnis.

Jon Fosse: Das ist Alise. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. mare 2023
www.mare.de

 

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