Die ersten Seiten von Speicher 13 scheinen die Genre-Frage eindeutig zu beantworten. Während eines Neujahrsurlaubs in einem namenlosen Dorf in Mittelengland bei Manchester verschwindet die 13-jährige Rebecca Shaw bei einem Spaziergangs durchs Moor mit ihren Eltern. Die Polizei sucht zusammen mit vielen Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohnern in jedem Schuppen, auf jedem Heuboden, in jeder Höhle und stillgelegten Mine, jedem Steinbruch und Speichersee sowie auf sämtlichen Berge der Umgebung – vergebens. Journalisten verfolgen und kommentieren die Suche, das Dorf hält den Atem an:
Es war, als habe sich der Boden aufgetan und das Mädchen mit Haut und Haaren verschluckt. (S. 27)
Aus gutem Grund bezeichnet der Verlag Liebeskind das 2017 für den Booker Prize nominierte, 2018 von Anke Caroline Burger rhythmisch ins Deutsche übertragene Buch auf dem Cover als Roman, geht es doch auf den folgenden etwa 350 Seiten weit weniger um die Auflösung des rätselhaften Vermisstenfalls als um die Entwicklung des Dorfes und der Menschen. In 13 Kapiteln, beginnend jeweils mit dem Jahreswechsel, wird das Leben der Bewohnerinnen und Bewohner und auf das Dorf mit den 13 Speicherseen und seine Umgebung geblickt:
Wenn man sich umdrehte, konnte man oben aus dem Moor hinunter aufs Dorf blicken: man sah das Buchenwäldchen und den Gemeinschaftsgarten, den Kirchturm und das Kricketfeld, den Fluss und den Steinbruch und das Zementwerk an der Straße, die in die Stadt führt. (S. 10)
Protokoll einer Rückkehr Richtung Normalität In chronologischer Abfolge mit wenigen Absätzen und in minimalistischem Stil protokolliert der 1976 auf den Bermudainseln geborene, in Großbritannien aufgewachsene Autor Jon McGregor mit auktorialer Stimme die großen und kleinen Ereignisse wie Geburten, Krankheiten und Todesfälle, Zuzug, Weggang und Heimkehr, Eheschließungen und Trennungen, erfolgreiche und gescheitete Schulabschlüsse, Streit und Versöhnung, Geschäftseröffnungen und Insolvenzen, häusliche Gewalt, landwirtschaftliche Arbeiten, Straftaten, Feste, Rituale und Bräuche – kurz: alles, was das Leben in einem kleinen Dorf mit sich bringt. Eine besondere Rolle spielen die jahreszeitlichen Veränderungen in der Natur mit faszinierenden Beschreibungen von Flora und Fauna.
Stets präsent, wenn auch sukzessive in den Hintergrund tretend, ist das Rätsel um das verschwundene Mädchen, deren Eltern immer wieder im Dorf auftauchen, aber der Sehnsucht der Dörfler nach Normalisierung zunehmend im Weg stehen und nicht mehr Mr und Mrs. Shaw, sondern stets nur Vater und Mutter des verschwundenen Mädchens sind. Verdachtsmomente tauchen auf und werden fallengelassen, vielversprechende neue Ansatzpunkte laufen ins Leere. In kleinen, interessant zu beobachtenden Schritten erobert sich die Dorfgemeinschaft ihren Alltag zurück, doch vergessen kann man nicht:
Es wurde nicht mehr viel von dem vermissten Mädchen gesprochen, aber es wurde oft an sie gedacht. (S. 331)
Wie die einst von den Speicherseen gefluteten Täler und Dörfer bleibt auch Rebecca in der kollektiven Erinnerung und geistert durch die Träume derer, die ihr Verschwinden miterlebt haben.
Ein fesselndes dörfliche Mosaik Obwohl der Rhythmus des Romans mit seinen Wiederholungen eher monoton ist und ich eine ganze Weile gebraucht habe, um mich und meine (Krimi-)Erwartungen daran anzupassen, bin ich immer mehr zur Dorfbewohnerin geworden und habe die kleinen, mittleren und größeren menschlichen Dramen, Sorgen, Freuden und Enttäuschungen gespannt verfolgt, immer in Habachtstellung, um keinen noch so kleinen Hinweis im Vermisstenfall zu verpassen.
Ein auf innovative Weise mit Genregrenzen jonglierender, überraschender Roman, den ich gerne gelesen habe.
Jon McGregor: Speicher 13. Aus dem Englischen übersetzt von Anke Caroline Burger. Liebeskind 2018 www.liebeskind.de