Julia R. Kelly: Das Geschenk des Meeres

  Stürme

In einer Winternacht des Jahres 1900 reißt der Sturm im schottischen Küstendorf Skerry nicht nur Dachschindeln und Schafe weg, fällt Bäume und zerschmettert zwei Boote, er wirft auch einen kleinen, leblos wirkenden Jungen an den Strand. Als der Fischer Joseph ihn am nächsten Morgen findet und durch das Dorf zum Pfarrhaus trägt, werden schlimmste Erinnerungen wach: Vor vielen Jahren verschwand in einer ähnlichen Nacht am Strand Moses, der kleine Sohn der Lehrerin Dorothy, die nach ihrer Ankunft aus Edinburgh immer eine Fremde und Außenseiterin blieb. Er war nachts die Treppe zum Strand hinuntergegangen und spurlos verschwunden, nur sein. Die einzige Spur war ein zwischen Felsen eingeklemmter Stiefel, den damals ausgerechnet Joseph fand. Die Gerüchte über die Umstände von Moses‘ Verschwinden verstummten nie, denn kurz zuvor hatte man Joseph im heftigen Streit mit Dorothy gesehen, obwohl sich die beiden nach Dorothys Ankunft im Dorf eine Weile für alle sichtbar sehr nahestanden.

Wunschdenken und Vernunft
Da das winterliche Skerry von der Außenwelt abgeschnitten ist und im Pfarrhaus ein lang ersehntes Kind zur Welt kommt, bringt der Pfarrer den geheimnisvollen Jungen bis zur Klärung seiner Herkunft zu Dorothy, die dadurch mit voller Wucht von der Vergangenheit eingeholt wird. Während sie den stummen Jungen aufpäppelt, der ihr in fataler Weise Moses zu ähneln scheint, verschwimmen bei ihr zusehends die Grenzen zwischen Wunschdenken und Vernunft:

In ihrem tiefsten Herzen weiß sie, dass der Junge, der dort oben liegt und schläft, ihr eigener Junge ist, der ihr zurückgegeben wurde, um alles wiedergutzumachen. (S. 264)

Julia R. Kelly: Das Geschenk des Meeres. Foto: © M.A. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © mare.

Der Wendepunkt
In ihrem Debütroman Das Geschenk des Meeres erzählt die britische Autorin Julia R. Kelly von einer verschworenen Dorfgemeinschaft, deren Zentrum der Dorfladen von Mrs Brown ist. Dort und im Wirtshaus wird zwar ständig geredet und kommentiert, aber noch viel mehr verschwiegen und verdrängt. Mit der Ankunft des rätselhaften Kindes setzt sich eine Lawine in Gang, in deren Folge sich nicht nur Dorothy und Joseph, sondern auch die anderen Bewohnerinnen und Bewohner von Skerry endlich der schmerzhaften Vergangenheit und ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen Schuld stellen müssen – mit der Aussicht auf Heilung.

Damals und jetzt
Die Abschnitte im Buch mit dem von Franziska Neubert wunderbar passend gestalteten Holzschnitt auf dem Cover sind abwechselnd mit „Damals“ und „Jetzt“ überschrieben, jeweils unterteilt in kurze Kapitel aus unterschiedlichen Perspektiven. Stück für Stück werden Geheimnisse gelüftet, Handlungsfäden glaubhaft verknüpft und erscheinen Figuren in verändertem Licht. Neben so tragischen Themen wie Verlust, Trauer, Schuld, Vergebung, Eifersucht, Missgunst, unerfüllte Liebe, glücklose Ehen und häusliche Gewalt, um nur einige zu nennen, standen für mich die weiblichen Charaktere und vor allem das Thema Mutterschaft in vielen unterschiedlichen Facetten im Mittelpunkt. Vor dem stimmungsvollen Hintergrund einer von Naturgewalten beherrschten Landschaft und einer wie ein Chor raunenden Dorfgemeinschaft erzählt Julia R. Kelly mit viel Feingefühl und Empathie eine spannende Geschichte voller Melancholie über Wendepunkte, darüber, was war, und was hätte sein können, und über Dynamiken in einer abgeschotteten Gemeinschaft.

Julia R. Kelly: Das Geschenk des Meeres. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © mare.

Ich habe den gut geschriebenen, virtuos komponierten und von Claudia Feldmann flüssig übersetzten Roman sehr gerne gelesen und mich bestens damit unterhalten.

Julia R. Kelly: Das Geschenk des Meeres. Aus dem Englischen von Claudia Feldmann.  mare 2025
www.mare.de

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