Von wegen Bergidyll
Die Einstiegsszene im Roman Wild wuchern würde jedem Thriller zur Ehre gereichen. Marie, die Ich-Erzählerin, flieht panisch und blutbefleckt in stürmischer, stockdunkler Nacht einen Berg in den Tiroler Alpen hinauf zu einer abgelegenen Hütte. Alles erschreckt die schicke Wienerin mit ihrem eilig gepackten Rucksack voller unnützer Dinge, die die Bergwelt schon immer verabscheute. Damit ist sie das krasse Gegenteil ihrer fast gleichaltrigen, menschenscheuen Cousine Johanna, dem Naturkind, der Eremitin, die sich nach der Matura vor einigen Jahren hierher zurückgezogen hat.
Marie ist zum wiederholten Mal auf der Flucht vor körperlicher und seelischer häuslicher Gewalt. Ihr „Après-Ski-Hüttengaudi-Typ“-Ehemann Peter hat aus der aufstrebenden, weltgewandten Schuhdesignerin ein depressiv-verzagtes Nervenbündel gemacht. Mit letzter Kraft erreicht Marie Johannas Rückzugsort, wo die Cousine stumm, emotionslos und abweisend reagiert:
[…] deswegen lässt sie mich im Dunkeln stehen, bietet mir keinen Tee an, tut nicht so, als würd sie sich freuen, und fragt mich nicht mal, was ich will, mitten in der Nacht da auf dem Berg. (S. 23)
Goldmarie und Pechmarie
Schon einmal wurde eine der Cousinen der anderen aufgenötigt, damals die 14-jährige traumatisierte Johanna, um die Marie sich ohne Erklärung kümmern sollte:
Und als sie zu mir in die Klasse gekommen ist und mir wie ein Mühlstein um den Hals gehängt wurde, hat sie nur noch manchmal und nur wenig geredet. (S. 29)
In den Ferien schickten ihre Eltern die beiden mit dem Großvater auf den Berg. Hier war Marie, Liebling von Mutter und Tante und deren engelsgleicher Klon, plötzlich nicht mehr die niedliche Goldmarie, weil der Großvater mit der „Almöhi-Aura“ die robuste Johanna vorzog. Irgendwann schleppte er Marie eigenhändig ins Tal und verbannte sie endgültig.
Ungebetener Eindringling
Da Johanna offensichtlich lieber allein wäre, tut Marie, was sie am besten kann: sich ducken, nicht auffallen, schweigend anpassen, mitanpacken bei der Almarbeit und den Ziegen. Zurück kann sie nicht, auch nicht, als Johanna sie nach ein paar Wochen hinauswirft. Doch Marie hat ihre Opferrolle satt:
Ich hab mich vom Großvater ins Tal schleppen lassen und vom Peter nach Wien. Ich war dort, wo man mich hingepflanzt hat, wie ein Ziergewächs in einem Topf.
Jetzt bin ich hier und wuchere. (S. 110)

Eine Lektüre mit Wums
Schon lange hat mich keine Autorin mehr so spontan mitgerissen und 205 Seiten gefesselt wie die 1984 geborene Österreicherin Katharina Köller mit ihrem zweiten Roman Wild wuchern. Was ist in Maries und Johannas dysfunktionalen Familien vorgefallen? Warum kann Marie auf keinen Fall zurück? Wer ist Goldmarie, wer Pechmarie? Werden die Cousinen endlich miteinander reden?
Man merkt diesem ohne Kapitelunterteilung durchrauschenden Kammerspiel mit den drei Protagonistinnen – den beiden grundverschiedenen Frauen und der rauen Natur – an, dass die Autorin auch Schauspielerin und Theatermacherin ist, denn der (selbst-)ironische, wütende Monolog Maries lief wie ein Film vor mir ab. Besonders der raffinierte, nur auf den ersten Blick einfache Erzählstil in österreichischer Klangfärbung mit viel Sprachwitz, starken Bildern und messerscharfen Sätzen hat mich förmlich umgehauen, weil ich vergleichbar Originelles noch nie gelesen habe.
Wild wuchern war für mich ein überraschendes, spektakuläres, explosives Leseerlebnis über weibliche Rollenbilder, Befreiung aus Opferrolle und Abhängigkeiten, unterschiedliche Formen von Einsamkeit, Fokussierung auf Grundbedürfnisse und Aussicht auf Heilung:
Das hab ich auch nicht gewusst, dass es einfacher ist, sich jemandem in den Weg zu stellen, als selbst abzuhauen. (S. 169)

Katharina Köller: Wild wuchern. Penguin 2025
www.penguin.de