Einschnitte
Das Daumendrücken war erfolgreich: Völlig zurecht wurde Kristine Bilkau, Journalistin und für mich eine der wichtigsten zeitgenössischen Autorinnen im deutschen Sprachraum, für ihren vierten Roman Halbinsel mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2025 in der Kategorie Belletristik ausgezeichnet.

Mutter und Tochter
Die nicht näher benannte titelgebende Halbinsel liegt im nordfriesischen Wattenmeer. Hier wohnt in eigenem Häuschen in einem 1300-Seelen-Dorf die Ich-Erzählerin, Bibliothekarin und Endvierzigerin Annett, die nach dem frühen, plötzlichen, schlecht verarbeiteten Tod ihres Partners Johan die gemeinsame Tochter Linn alleine großgezogen hat. Beide haben nach dem Schicksalsschlag perfekt funktioniert, Annett in ihrer Rolle als fürsorgliche, behütende, Schlimmes fernhaltende Mutter und Versorgerin, Linn durch Ehrgeiz, der sich schon als Kleinkind manifestierte, als sie mit anderthalb Jahren jede Treppe alleine hochkletterte. Inzwischen hat Linn zielstrebig zuerst das Abitur, dann diverse Praktika in europäischen Waldprojekten und schließlich ein Studium der Umweltwissenschaften mit dem Master in Lund abgeschlossen.
Ein Sommer zu zweit
Mit Linns erstem, gutbezahlten Job in einer Berliner Beratungsfirma für die Förderung und Finanzierung von Umweltprojekten scheinen sich die beiderseitigen Erwartungen zu erfüllen. Annett ist froh, die finanzielle Herausforderung gemeistert zu haben und blickt voller bewunderndem Stolz auf die erfolgreiche Tochter, Linn will sich mit Idealismus und Knowhow für die Umwelt engagieren. Alles spricht dafür, dass sie Karriere machen wird, anders als Annett, die durch die frühe Schwangerschaft und den Umzug von Kiel aufs Land eigene berufliche Hoffnungen zugunsten der Familie aufgab. Doch dann bricht Linn bei einem Vortrag zusammen. Aus einer Woche zuhause an der Nordsee wird ein ganzer langer Sommer, in dem Mutter und Tochter wieder zueinanderfinden und ihre Beziehung auf eine neue Grundlage stellen müssen. Für Annett gilt es, sich ihren Ängsten und der Leerstelle in ihrem Leben zu stellen, ihre Erziehungsgrundsätze kritisch zu überdenken, ihre Zukunft zu planen, Antriebslosigkeit und Menschenscheu zu bekämpfen und zu lernen, ihren eigenen Fähigkeiten, vor allem aber denen Linns zu vertrauen.
Hat sie ihrer Tochter zu wenig Freiheit gewährt, sie stattdessen mit ihrer Fürsorge erdrückt? Hat sie ihre eigenen unerfüllten Hoffnungen auf die Tochter projiziert? Warum kann sie so schwer mit Linns Sinnkrise und ihrem Wunsch nach einer Pause umgehen, was ihr Linn zum Vorwurf macht?
Zum ersten Mal, zum allerersten Mal ist es so, dass ich nicht weiterkomme. Dass ich nicht zurechtkomme. Und du erträgst das nicht. (S. 100)
Existenzielle Fragen
Halbinsel ist einerseits eine hochinteressante Mutter-Tochter-Geschichte über Generationenunterschiede, veränderte Lebensvorstellungen und erdrückende Erwartungen mit Gedanken, die mir als Mutter erwachsener Töchter sehr nah sind. Andererseits geht es um die Bedrohungen durch den Klimawandel, die aufs Spiel gesetzte Zukunft und die Verlogenheit des CO2-Emissionshandels, bei der Linn nicht mehr mitspielen möchte:
Darum ging es mir wohl, ich wollte zeigen, welchen unglaublichen Aufwand wir betreiben, um uns zu belügen und belügen zu lassen. (S. 146)
Den perfekten Rahmen für die beiden eng miteinander verwobenen Themen bildet die karge, sensible, durch Wind und Meer ständig im Umbruch befindliche Landschaft und Natur, ergänzt durch literarische und historische Bezüge. Wie immer bei Kristine Bilkau bleibt genug Spielraum für eigene Gedanken.

Dies zusammen macht den ruhig, linear, ohne Perspektivwechsel erzählten, einerseits melancholischen, andererseits auch hoffnungvollen Roman mit seiner beeindruckend präzisen, aufs Notwendigste reduzierten Sprache so absolut lesenswert und fraglos preiswürdig.
Kristine Bilkau: Halbinsel. Luchterhand 2025
www.penguin.de/verlage/luchterhand-literaturverlag
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