Porträt einer Wandlung
Beruflich war Jaap Hollander, niederländischer Neurochirurg jüdischer Herkunft und Sohn eines einfachen Ölhändlers, eines „Oliejood“, stets an der Spitze seiner Zunft und gehörte zu den renommiertesten Hirnchirurgen weltweit. Weniger erfolgreich verlief sein Privatleben. Nach Jahren als berüchtigter Frauenheld ging er der zehn Jahre jüngeren Krankenschwester Nicole ins Netz, aus dem einzigen Grund, dass sie von ihm schwanger war. Weder die Tochter Lea, die für Jaap in vielem zu sehr ihrer Mutter glich, noch die neuerbaute neoklassizistische 14- Zimmer-Villa an der Vecht machten Jaap zufrieden. Die Ehe war und blieb ein Desaster, Jaap ein Despot.
Unvollendet
Während Jaap, ganz rationaler Wissenschaftler, keinen Bezug zu seiner Religion hatte, interessierte sich Lea ab dem Teenageralter für das Judentum, dem sie jedoch als „Vaterjüdin“ nicht angehörte. Eine „Birthright-Reise“ nach Israel im Anschluss an ihr Abitur sollte das ändern, doch Lea und ihr amerikanischer Freund Joshua Pollock verschwanden in einer kalten Wüstennacht am riesigen Ramon-Krater in der Negev-Wüste. Während die inzwischen geschiedene Nicole und die Pollocks allmählich den Tod ihrer Kinder akzeptierten, fand sich Jaap, der seit diesem Ereignis unter Haarausfall und einer rätselhaften Unfähigkeit im Erkennen von Gesichtern litt, nie damit ab:
Ohne Beweise oder Anhaltspunkte konnte er sich nicht mit etwas abfinden, das unvollendet war. Denn es war unvollendet. (S. 24)
Geheimmission „Amsterdam Hope“
Auch am zehnten Jahrestag ihres Verschwindens reist der inzwischen zwangspensionierte Jaap nach Israel. Doch dieses Mal läuft alles anders. Noch bevor er den Gedenkstein besuchen und einen renommierten Geologen mit weiteren Nachforschungen beauftragen kann, fängt ihn eine Vertraute des israelischen Ministerpräsidenten am Flughafen ab. Jaap soll unter strengster Geheimhaltung die Tochter eines mächtigen saudischen Prinzen an einer lebensbedrohlichen Fehlbildung des Gehirns operieren, eine junge Frau, die auf Wunsch ihrer Familie in nicht allzu ferner Zukunft ihr Land führen soll:
Auf ihr ruhen die Hoffnungen des gesamten Nahen Ostens! (S. 64)
Der Prinz hat eine astronomisch hohe Summe für diesen nach menschlichem Ermessen aussichtslosen Eingriff ausgesetzt, der Jaap im Falle seines Scheiterns das Leben kosten kann. Das Geld allerdings würde ihm eine erweiterte Suche nach Leas Spuren ermöglichen, die Herausforderung kitzelt seine berufliche Eitelkeit und er könnte beweisen, dass auch Unvorstellbares möglich ist. Eine Folge überraschender Ereignisse setzt sich in Gang.
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Ein spannender Roman mit vielen Wendungen
Der Roman des 1954 in den Niederlanden geborenen, vielfach ausgezeichneten Autors und Filmemachers Leon de Winter ist die spannende Charakterstudie eines Mann, der sich durch äußere Umstände und eine persönliche Tragödie komplett verändert. In einer verrückten Mischung aus Realität und Fantasie begreift man bisweilen erst aus der Rückschau, was man zuvor gelesen hat. Jeder der fünf Teile wie auch die kursiv gedruckten zweieinhalb letzten Seiten bringen überraschende Wendungen. Unklar blieb mir allerdings einerseits, warum Jaap ein Misslingen der von allen als de facto chancenlosen Operation mit dem Leben bezahlt hätte, andererseits auf weite Strecken auch der tiefere Bezug zum Nahostkonflikt. Unterhalten hat mich der Roman trotzdem gut. Vom alten Jaap Hollander ist am Ende, wenn er durch die Straßen Tel Avivs, der „Stadt der Hunde“, streift, kaum etwas übrig. Dem neuen bleibt, wenn ich die letzten Seiten richtig interpretiere, nicht viel Zeit, die neue Heimat und den inneren Frieden zu genießen.
Leon de Winter: Stadt der Hunde. Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer. Diogenes 2025
www.diogenes.ch