Das Geschwür
Linn Ullmann, 1966 geborene Tochter der norwegischen Schauspielerin Liv Ullmann und des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman, schreibt seit 1998 sehr besondere Romane und gehört zu den bekanntesten, vielfach preisgekrönten Autorinnen Skandinaviens. Gnade, 2004 auf Deutsch erschienen, über einen todkranken Durchschnittsmann, der seine Frau um Sterbehilfe bittet, gehört zu meinen Allzeit-Lieblingsbüchern.
2015 veröffentlichte sie ihren ersten autofiktionalen Roman, auf Deutsch 2018 unter dem Titel Die Unruhigen, über ihren Vater, in dem sie Themen wie Altern, Erwachsenwerden, Liebe, Tod, Vergessen und Erinnern aus immer neuen Blickwinkeln beleuchtet.
Ebenfalls „Virkelighetslitteratur“ ist Mädchen 1983, Teil zwei der geplanten familienbiografischen Romantrilogie. Hier wagt sich Linn Ullmann an eine überaus schmerzliche Erinnerung, ein „Geschwür“ (S. 19), eine „Scheißgeschichte, die ich eintausend und einmal aus eintausend und eins Gründen verworfen habe“ (S. 56). Paul Berf hat auch diesen Roman mit bewundernswertem Einfühlungsvermögen übersetzt.
Eine Nacht, die niemals endet
Gegen den Willen ihrer Mutter reiste die 16-jährige Linn Ullmann im Januar 1983 allein zum Fotoshooting mit dem 44-jährigen Starfotografen A nach Paris, der sie im Herbst zuvor in einem Aufzug in New York angesprochen hatte. Nur Stunden nach ihrer Ankunft lag sie, benebelt von Jetlag, Alkohol und der sexistischen Atmosphäre, aber auch grenzenlos naiv und orientierungslos, in dessen Bett:
Es war eine Nacht, die niemals endete und deren Reichweite ich jetzt, fast 40 Jahre später, zu begreifen anstrebe. (S. 119)
War es Zufall oder Arrangement? Wie konnte sie derart die Orientierung verlieren? Welche Rolle spielte der Schatten der umjubelten Mutter, aus dem sich das Mädchen hinaussehnte, welche die Einsamkeit eines zwischen Norwegen und den USA hin- und hergerissenen Teenagers?
Fast 40 Jahre später, während des Corona-Lockdowns 2020/21, streift die inzwischen gefeierte Schriftstellerin durch den Torshov-Park in Oslo oder zieht sich ins Sommerhaus ihrer Mutter zurück. Sie leidet unter schweren Depressionen, anders und gefährlicher als frühere. Im September 2019 ist ihre „Schattenschwester“ aus Kindertagen plötzlich wieder aufgetaucht und ihre Ängste wachsen exponentiell:
Was geschah mit dem Mädchen in Paris, und wie hat es sich in mir ausgewirkt und wie wirkt es sich weiterhin in mir aus? (S. 207)
Das Foto der jungen Linn Ullmann von damals ist längst verlorengegangen, ebenso wie viele Erinnerungen, die hinter einem „großen Vorhang […] blau, weiß, rot“ (S. 212), den Farben, die immer wieder auftauchen und den drei Kapiteln ihre Überschriften geben, verborgen liegen. Tagebücher gibt es nicht:
Das Vergessen ist größer als die Erinnerungen. (S. 213).

Schwer erträglich, aber literarisch großartig
Mädchen, 1983 ist kein bloßer weiterer Debattenbeitrag zu MeToo und keine Anklageschrift. Vielmehr ist es der zutiefst melancholische Versuch einer spiralförmigen Annährung an ein jüngeres Ich, mal brutal, mal zärtlich, verwebt mit literarischen Bezügen zu Autorinnen und Autoren wie Annie Ernaux, Marguerite Duras, Emily Dickinson, Ingeborg Bachmann, Walter Benjamin oder Federico García Lorca. Die fragmentierte Erzählweise passt zum Erinnern an Traumata, doch sind die Sprünge sorgsam arrangiert. Manchmal führt Linn Ullmann wütende Streitgespräche mit dem Mädchen von damals, das im Mittelpunkt stehen, Ziel der Begierde anderer sein wollte und sich dabei verlor, den Spieß jedoch auch gelegentlich umdrehte, indem es erbarmungslos die Verfallszeichen am Körper des schlafenden Mannes unter dem Laken betrachtete, anstatt selbst Fotoobjekt zu sein.
Zwar hat mich Die Unruhigen thematisch noch direkter angesprochen als Mädchen,1983, bei dem ich aufgrund der Heftigkeit immer wieder Lesepausen einlegen musste. Als außergewöhnliche Texte über Schreiben und Erinnerung sind jedoch beide gleichermaßen eindrücklich und empfehlenswert.
Linn Ullmann: Mädchen, 1983. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand 2025
www.penguin.de/verlage/luchterhand-literaturverlag
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