Ljuba Arnautović: Erste Töchter

  Wie viele Heimaten passen in einen Körper?

 

 

Das Schicksal der Familie Arnautović lässt an ein Schachspiel denken: Zuerst wird der Vater Karl auf dem Schachbrett der europäischen Geschichte erbarmungslos herumgeschoben, dann degradiert er seine vier Ehefrauen und seine Kinder zu Schachfiguren, die er nach Belieben versetzt.

Schutzbundkinder
1934
wird der neunjährige Karl zusammen mit seinem älteren Bruder Slavko, Söhne österreichischer Sozialisten, als sogenanntes Schutzbundkind ins vermeintlich rettende Exil in die Sowjetunion geschleust. Auf gute Jahre folgen sowjetische Kinderheime, Leben auf der Straße und Jugendgefängnis, nachdem sie als Volksfeinde in Stalins Terrormühle geraten sind. Slavko kommt bereits 1942 um, Karl überlebt zehn Jahre im Gulag. Erst Ende 1955 kehrt er heim, wird nie wieder seine nächtlichen Geister los und kennt nur noch ein Ziel:

Nie wieder Opfer sein! (S. 11)

Ljuba Arnautović: Erste Töchter. © B. Busch. Cover: © Zsolnay

Vier Ehen, sechs Kinder
Dafür wird er, der nur filterlos raucht, bis zu seinem Tod im Jahr 2000 viermal eine zu seinem jeweiligen Lebensabschnitt passende Frau heiraten: Die Russin Nina ist ihm nach der Freilassung aus dem Gulag nützlich und ist die Mutter seiner Töchter Luna und Lara. Erika, Slavkos Ex-Freundin, verhilft ihm in Wien zum Berufseinstieg und betreut die Töchter, die er der in Österreich hilflosen Nina entreißt. Dörte, die dritte und promovierte Ärztin aus gutem Haus, bringt vier Kinder zur Welt und verschafft ihm in München Zutritt in eine höhere Gesellschaftsschicht. Während der Ehe mit ihr nimmt er Luna und Lara zu sich nach München, schickt die rebellierende Lara jedoch bald zurück zu ihrer leiblichen Mutter Nina nach Wien. Ludmila, die späte vierte Ehefrau, ist wiederum Russin.

Im Mittelpunkt stehen jedoch die beiden Schwestern Luna und Lara, die auf Karls Geheiß Orte, Schulen, Heime und Mütter wechseln und die er schließlich, als sie dreizehn und zehn Jahre alt sind, auseinanderreißt:

Die Schwestern sind fortan wie Erich Kästners doppelte Lottchen in einem ihrer Lieblingsbücher, sogar ihre Vornamen beginnen mit einem L. […] Nur wird in dieser echten Geschichte das Happy End ausbleiben. (S. 51)

Wie unterschiedlich sich ihrer beider Leben entwickeln, sie sich entfremden und durch äußere Ereignisse schließlich wieder annähern, erzählt die 1954 in Kursk geborene, in Wien lebende Autorin Ljuba Arnautović in kurzen, zeitlich vor- und zurückspringenden Sequenzen. Nicht immer habe ich verstanden, warum über einzelne Ereignisse vergleichsweise ausführlich, über andere, in meinen Augen wichtigere, dagegen sehr verkürzt berichtet wird. Im Hintergrund läuft, soweit es für Lunas politische Entwicklung von Bedeutung ist, die Zeitgeschichte: Studentenunruhen, Konsumverweigerung, Frauenbewegung, Hausbesetzungen, die RAF.

Dritter Teil einer Familiengeschichte
Erste Töchter
ist ein autofiktionaler Roman, vor allem in der Figur Lara betont die Autorin in ihrer Danksagung ausdrücklich die Fiktion. Leider wusste ich nicht, dass es zwei Vorgängerbände gibt: Im Verborgenen von 2018 über Karls Mutter Eva und Junischnee von 2021 über Karl. Obwohl der nur 155 Seiten starke Roman Erste Töchter in 39 Kapiteln viele biografische Splitter enthält, bleibt doch ohne Kenntnis der anderen Bände manches unklar, tauchen Personen ebenso unvermittelt auf, wie sie wieder verschwinden, was unbefriedigend ist und mir stellenweise unfertig erschien. Trotzdem hat sich für mich die Lektüre dieses sehr emotionslos und berichthaft geschriebenen Buches gelohnt: wegen eines mir bislang unbekannten Puzzleteils der Geschichte und einer Frau, die sich angesichts eines Besuchs bei der Großmutter in Kursk fragt:

Sie hat doch schon zwei Heimaten – wie viele passen in einen Körper? (S. 79)

Ljuba Arnautović: Erste Töchter. Zsolnay 2024
www.hanser-literaturverlage.de/verlage/zsolnay-c-71

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