Evolution rückwärts
Ein Roman von Louise Erdrich steht schon lange auf meiner Wunschliste ziemlich weit oben. Dass ich nun mit ihrem neuesten Buch ausgerechnet zuerst eine Dystopie erwischt habe, ein Genre, mit dem ich eher wenig anfangen kann, ist ausgemachtes Pech. Die Leseprobe mit der indigenen Ich-Erzählerin, aufgewachsenen bei weißen Adoptiveltern, die nun, im fünften Monat schwanger, ihre biologische Familie im Reservat kennenlernt, fand ich sehr interessant. Die 26-jährige Cedar Hawk Songmaker war mir von Beginn an sympathisch und blieb es während des ganzen Romans. Die punktgenaue Chrakterisierung der beiden grundverschiedenen Familien, vereint in der Sorge um die gemeinsame Tochter, ist ausgesprochen gut gelungen, wie überhaupt die Zeichnung aller Figuren. Allerdings hätte ich dieses Mal meine Angst vor Spoilern überwinden und den Verlagstext lesen sollen.
Cedar Hawk Songmaker ist zur denkbar ungünstigsten Zeit schwanger. Es gibt zwar keine gesicherten Erkenntnisse und die Wissenschaftler rätseln noch, aber es scheint zu einer Umkehrung der Evolution zu kommen. Die Weltgeschichte läuft rückwärts, nicht geordnet, sondern in „Sprüngen“, also „vorwärts, seitwärts, in unvorhersehbare Richtungen“. Eine kirchliche Bundesregierung namens „Church of the New Constitution“ hat die Macht an sich gerissen, die freie Berichterstattung ist ausgesetzt, es kommt zu Hamsterkäufen, Denunziationen und Folterungen, Schwangere werden im Rahmen der präpartalen Ingewahrsamnahme“ in Gebärkliniken eingesperrt und potentiell Gebärfähige zum Austragen eingefrorener Embryonen interniert. Über die genaue Art der Bedrohung bleibt jedoch nicht nur Cedar im Unklaren, zumal ihr der Blick auf den Bildschirm beim Ultraschall stets verwehrt wird, auch ich konnte mir bis zum Schluss nichts unter dieser rückläufigen Entwicklung vorstellen. Fehlende Fantasie? Mangelnde Affinität zum Genre? Auf mich wollte sich die Weltuntergangsstimmung deshalb nicht so recht übertragen.
Die Ereignisse selbst erfahren wir aus Cedars Tagebuchchronik, die sie für ihr ungeborenes Kind führt. Beeindruckend ist ihre trotz aller Katastrophen nie endende Zuversicht sowie die Verbundenheit mit dem Kind, das doch die Ursache für ihre Unfreiheit und Lebensgefahr ist.
Während ich im ersten Teil mit dem Aufbau des Bedrohungsszenarios fast aufgegeben hätte, hat mir der zweite Teil in einer Gebärklinik unerwartet Spaß gemacht. Hier wird der Text für mich viel konkreter und bekommt sogar Thrillerqualitäten. Teil drei und das Ende haben mich dann wieder enttäuscht, Wiederholungen und ein viel zu offener Ausgang waren mir zu wenig.
Die Mehrzahl der Themen, um die es in dieser sehr amerikanishen Dystopie geht, sind trotzdem sehr interessant und hätten mich – anders verpackt – sicher angesprochen: die Auseinandersetzung mit Evolutionsleugnern, die Dogmatik evangelikaler Kirchen, der Umgang mit der indigenen Bevölkerung, die Frage nach dem Wert biologischer und Adoptiveltern, das Zurückschlagen der Natur, das Verhalten von Menschen in Diktaturen und vieles – wahrscheinlich zu vieles – mehr. Wenig angesprochen haben mich dagegen die langen religionsphilosophischen Einschübe, über deren Qualität ich mir kein Urteil erlauben möchte. Eines weiß ich aber nach dieser Lektüre gewiss: ein Roman von Louise Erdrich bleibt oben auf meiner Wunschliste, nur eben keine Dystopie.
Louise Erdrich: Der Gott am Ende der Straße. Aufbau 2019
www.aufbau-verlag.de