Hinter den Kulissen einer vermeintlichen Idylle
Kaum eine deutsche Landschaft ist so mit dem Begriff „Idylle“ verknüpft wie die Lüneburger Heide. Jedes Jahr bringt neue touristische Rekordzahlen, 2023 wurden knapp 6,1 Millionen Übernachtungen verzeichnet.
Der 19-jährige Nachwuchsschäfer Jannes Kohlmeyer, Protagonist im zweiten Roman von Markus Thielemann mit dem Titel Von Norden rollt ein Donner, scheint das Idyll geradezu idealtypisch zu verkörpern, wenn er mit dem Stecken in der Rechten zu Beginn inmitten seiner Herde von Heidschnucken in der Südheide steht. Das romantische Bild wird durch einen Donner jäh gestört, auf den jedoch kein Blitz folgt und weder Herde noch Hirte zusammenzucken, handelt es sich doch nicht um ein Naturphänomen, sondern um den üblichen Test von Panzermunition des Waffenherstellers Rheinmetall, neben der Bundeswehr mit ihren Truppenübungsplätzen der größte Arbeitgeber der Region.
Ein traditioneller Familienbetrieb
Drei Generationen leben auf dem Heidehof, wo die Hauptarbeit inzwischen von Jannes und seiner Mutter Sibylle geschultert wird. Großvater Wilhelm Volker, formal noch Eigentümer, ist seltener bei der Herde, seit seine verwirrte Frau Erika im Pflegeheim ist. Jannes ältere Schwester Janine lebt weit weg ein anderes Leben, bei Jannes Stiefvater Friedrich zeigen sich ebenfalls Vorboten einer Demenz.
Längst lebt die Familie mehr vom Tourismus und Fördergeldern als von ihren für den Erhalt der offenen Heidelandschaft so unentbehrlichen Tiere. Wortkarg sind die Menschen in der Heide, leidenschaftlich wird es im Gemeindesaal und in der Familie nur bei den Diskussionen um die Rückkehr der Wölfe und die Gleichgültigkeit von Politik wie Stadtbevölkerung. Gerne schalten sich hier die zugezogenen Neurechten ein, die das Wolfsthema für propagandistische Zwecke ausschlachten und die Stimmung anheizen. Ansonsten wird viel geschwiegen und verdrängt, besonders die jüngere Vergangenheit der geschichtsträchtigen Region. Doch deren lange Schatten fallen seit neuestem auf Jannes, der immer häufiger bei seinen einsamen Wanderungen mit der Herde von verstörenden Trugbildern, Visionen und Träumen heimgesucht wird:
Der Gedanke, dass es so etwas wie einen Sinn hinter alldem geben könnte, […], der Sache mit diesen Anfällen, seinen Träumen, seinem ganzen jämmerlichen Zustand, lindert seine Hoffnungslosigkeit. Es muss einen Grund geben, denkt er, eine Erklärung, ein Geheimnis. (S. 151)
Was hat es mit den scheinbar wirren Andeutungen seiner dementen Großmutter auf sich, was mit dem großväterlichen Heldenepos vom „Würger“?
Ein vielversprechender neuer Autor
Markus Thielemann stand mit seinem Roman Von Norden rollt ein Donner auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2024, ein großer Erfolg für den 1992 geborenen Niedersachsen, der Literarisches Schreiben in Hildesheim studiert hat, und sicher eine der gelungenen Überraschungen dieses Preisjahres. Mit der Figur des Jannes hat er einen sehr eindrücklichen Protagonisten geschaffen, der, von seinen Freunden entfremdet, ohne Trennlinie zwischen Privatleben und Beruf inmitten seiner Familie einsam und mit viel zu früher Verantwortung für den Fortbestand des Hofes erwachsen werden muss. Bestechend ist auch die Wolfsmetapher für das Fremde und Bedrohliche. Markus Thielemann verknüpft einen bunten Strauß aktueller Themen, oft nur in Andeutungen und für mich zunehmend mit etwas zu viel düsterer Mystik beladen, aber dennoch rund, mit großem Sprachvermögen und äußerst atmosphärischen Naturbeschreibungen. Ein neuer Autor, den ich mir gerne merken werde.
Markus Thielemann: Von Norden rollt ein Donner. C.H. Beck 2024
www.chbeck.de
Weitere Rezension zu einem Roman auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2024: