Literarische Stolpersteine für verschwundene Arten

Einer jüdischen Tradition gemäß stirbt ein Mensch zwei Mal: wenn das Herz aufhört zu schlagen und wenn sein Name zum letzten Mal gesagt, gelesen oder gedacht wird. Mit seinem Projekt „Stolpersteine“ wirkt der Künstler Gunter Demnig dem Vergessen der Opfer des Nationalsozialismus entgegen.
Literarische Stolpersteine für ausgestorbene Tiere und Pflanzen legt der Schriftsteller und Lektor Matthias Jügler mit der von ihm herausgegebenen Anthologie Wir dachten, wir könnten fliegen, mit der er, wie er im Vorwort sagt, „Tote wiederauferstehen“ lassen will. Habitatzerstörung, Trophäenjagd, Habgier, Umweltverschmutzung, Zuzug invasiver Arten, Veränderungen im Nahrungsangebot und Klimaerwärmung sind nur einige der Gründe dafür, dass laut WWF jeden Tag 150 bis 200 Arten aussterben und in den nächsten Jahrzehnten bis zu einer Million weitere verschwinden könnten.
Eine bunte Palette von Mitwirkenden und Beiträgen
Matthias Jügler hat 20 seiner Lieblingsautorinnen und -autoren um ein Porträt einer selbst gewählten Spezies gebeten. Große internationale Namen sind darunter, John Ironmonger, John Burnside, T.C. Boyle, Helen Macdonald und Iida Turpeinen, neben bekannten deutschen wie Julia Schoch, Katerina Poladjan und Henning Fritsch, Elena Fischer, Caroline Wahl, Jackie Thomae, Clemens J. Setz, Katrin Schumacher, Alex Capus, Kim de l’Horizon, Antje Rávik Strubel, Melanie Raabe, Iris Wolff, Charlotte Gneuß und Daniela Dröscher, letztere ausnahmsweise mit einer Art am Kipppunkt, dem Formosanischen Wolkenleopard, für den noch eine geringe Überlebenschance besteht.
Für die anderen gibt es dagegen keine ernstzunehmende Hoffnung mehr: Auerochse, Stellersche Seekuh, Wandertaube, Hawaiianischer Berghibiskus, Beutelwolf, Weißwangen-Kleidervogel, Riesenalk, Brotpalmfarn, Goldkröte, Riesenvampir, Laysan-Ralle, Chinesischer Flussdelfin, Schuppenkehlmoho, Pyrenäensteinbock, St.-Helena-Olivenbaum, Kaspischer Tiger, Mituhokko und Daintree’s River banana gelten als ausgestorben und stehen beispielhaft für alle anderen.

Was verloren geht, wenn ein so unbekannter Vogel wie die Laysan-Ralle verschwindet, beschreibt Helen Macdonald in ihrem Beitrag, der mir besonders zu Herzen ging:
Natürlich das, was die Laysan-Rallen füreinander waren. Das, was die Insel Laysan war, als es die Rallen noch gab. Und in gewisser Weise ging auch eine ganze Welt verloren – die durch ihre Augen gesehene Welt, denn jedes Tier bewohnt seine eigen phänomenale Welt, seine eigene Umwelt. (S. 152)
Matthias Jügler hat den Autorinnen und Autoren viel Spielraum gelassen. Deshalb konnten ganz unterschiedliche Arten von Texten entstehen, die in ihrer Originalität und Vielfalt den besonderen Reiz dieser bewegenden Sammlung ausmachen. Auf 19 ganzseitigen, farbenfrohen, aber nicht schreienden, detailreichen, aber nicht an ein Biologiebuch erinnernden Illustrationen von Barbara Dziadosz zeigen die in diesem großformatigen Band porträtierten Tiere und Pflanzen ihre Einzigartigkeit und Schönheit.
Trotz des traurigen Themas klappt man das Buch überraschenderweise eher bereichert als entmutigt zu. Daniela Dröscher liefert dafür eine Erklärung:
Die Lage ist hoffnungslos – aber endgültig verloren ist nichts. Gerade diese Anerkennung der Unwahrscheinlichkeit setzt Kräfte frei. (S. 226)
Das vielstimmige Buch ermutigt dazu.
Matthias Jügler (Hrsg.): Wir dachten, wir könnten fliegen. 19 Geschichten über den Verlust der Arten und die Kraft der Literatur. Mit Illustrationen von Barbara Dziadosz. Penguin 2025
www.penguin.de
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