Neige Sinno: Trauriger Tiger

  Lebenslang

Eine besonders gravierende Form von Traumatisierung erleidet, wer als Kind sexuelle Gewalt durch eine Bezugsperson erfährt. Obwohl jede Vergewaltigungsgeschichte einzigartig ist, ähneln sich die Folgen: Lebenslang drängen sich Erinnerungen auf, Heilung im Vergessen gibt es nicht.

Die heute in Mexiko lebende, 1977 in den französischen Alpen geborene und dort aufgewachsene Literaturwissenschaftlerin und Autorin Neige Sinno beschreibt es so:

Doch wohin auch immer ich ging, in welchem Augenblick auch immer – ich wandte mich um sah seinen Schatten. (S. 177)

Gestohlene Kindheit
Neige Sinno hat erlebt, worüber sie in ihrem 2023 in Frankreich erschienenen und vielfach ausgezeichneten autofiktionalen Memoir Trauriger Tiger schreibt, einem erzählenden Sachbuch in Ich-Form. Im Alter zwischen etwa sechs oder sieben und vierzehn Jahren wurde sie fortgesetzt von ihrem Stiefvater missbraucht, seiner Aussage nach nicht aus sexuellem Interesse, sondern aus Liebe und von ihr dazu getrieben, da er anders nicht mit dem widerspenstigen Kind nicht in Kontakt treten konnte. Erst als Studentin in den USA und aus Sorge um ihre jüngeren Halbgeschwister öffnete sie sich ihrer wohl tatsächlich ahnungslosen Mutter und gemeinsam erstatteten sie Anzeige. Im Gegensatz zu vielen anderen Betroffenen wurde ihr sofort geglaubt, zumal der Täter geständig war. Während er jedoch nach einigen Jahren das Gefängnis als freier Mann verlassen und mit einer jüngeren Frau eine zweite Familie gründen konnte, währt ihre Beschädigung fort:

Damaged for life. (S. 190)

Nicht schweigen
Trauriger Tiger ist nur zum kleineren Teil Tatsachenbericht und einen Missbrauch durch Voyeure halte ich damit glücklicherweise für nahezu ausgeschlossen. Vielmehr setzt sich Neige Sinno mit den Fragen nach dem Warum, Schuld, Strafe, Täterpsychologie, Folgen für die Überlebenden, dem juristischen, politischen und gesellschaftlichen Umgang damit früher und heute und – besonders ausführlich – mit der Verarbeitung in der Weltliteratur auseinander. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Frage nach der Motivation für das Buch, denn sie, die stets jegliche Therapie ablehnte, glaubt nicht an die Mär vom Schreiben als Therapie:

In Wahrheit geschieht das Gegenteil, das heißt, derjenige, der schreibt, zeichnet usw. ist de facto der Hölle bereits entkommen, nur deshalb kann er schreiben. (S. 94)

Neige Sinno: Trauriger Tiger. © B. Busch. Cover: © dtv.

Für Neige Sinno stehen Wahrheitssuche und der Bruch des Schweigens im Vordergrund, jedoch weder mit Hilfe eines rührseligen Opferbuchs noch in Form von Literatur, sondern als Lebensbericht, wozu die unspektakuläre, emotionsarme und bisweilen brutale Sprache passt.

Kein Happy End, aber ein kleiner Triumph
Es war mir nicht immer möglich, den Gedankengängen einer Betroffenen zu folgen, die sich seit Jahrzehnten intensiv mit dem Thema Missbrauch aus allen erdenklichen Blickrichtungen beschäftigt. Über manche Absätze und sich wiederholende Gedankenkreisel habe ich deshalb hinweggelesen und trotzdem aus dem sehr eindrücklichen Rest enorm viele Informationen und Denkanstöße mitgenommen. Nicht immer glücklich war ich mit der gewiss schwierigen Übersetzung: Eine Wendung wie „Er ließ sich einfach sterben.“ (S. 70) existiert im Deutschen nicht und ist missverständlich. Bei der Übertragung der abgedruckten Zeitungsartikel störten mich inhaltliche Ungenauigkeiten wie beispielsweise „son object sexuel“, das zu „ein Sexualobjekt“ (S. 85) wird – ein kleiner, aber nicht unbedeutender Unterschied.

Ein Happy End für die Überlebenden kann es nicht geben, aber dass Neige Sinno mit bewundernswerter Resilienz den Kopf knapp über Wasser hält, wie die Schwimmerin auf dem Cover, ist dennoch ein kleiner Triumph:

Stolpern, das schon, aber, noch einmal, nicht fallen. Nicht fallen. Nicht fallen. (Schlusssätze S. 296)

Neige Sinno: Trauriger Tiger. Aus dem Französischen von Michaela Meßner. dtv 2024
www.dtv.de

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