Nicolas Mathieu: Wie später ihre Kinder

  Provinztristesse

Und als sie lebten, war es, als lebten sie nicht noch ihre Kinder nach ihnen. (Sirach 44,9, Lutherbibel 2017)

Als der Roman Wie später ihre Kinder von Nicolas Mathieu 2018 in Frankreich erschien und im gleichen Jahr mit dem Prix Goncourt die höchste literarische Auszeichnung des Landes erhielt, wurde er vom Feuilleton stürmisch gefeiert. Wenig später demonstrierte erstmals die sogenannte Gelbwestenbewegung in Frankreich und seitdem gilt das Buch als vorweggenommene Erklärung zu ihrem Entstehen.

Arbeits- und Perspektivlosigkeit
In den vier heißen Sommern 1992, 1994, 1996 und 1998 erzählt der Roman vom Aufwachsen in der fiktiven lothringischen Provinzstadt Heillange an der luxemburgischen Grenze nach dem Vorbild des 16.000 Einwohner zählenden Hayange. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts war die Gegend von der Eisen- und Stahlindustrie geprägt, die vielen Einheimischen und Gastarbeitern Arbeit gab. Die Stilllegung der letzten Hochöfen zu Beginn der 2000er-Jahre bedeutete für sie Arbeits- und Perspektivlosigkeit und wird als ursächlich für das enorme Erstarken des Front national gesehen. Nicolas Mathieus Roman beschäftigt sich mit den Folgen dieser Entwicklung auf die nachwachsende Generation.

Anthony, Hacine, Steph
Im Mittelpunkt steht mit Anthony einer ihrer Vertreter, Sohn eines ehemalig stolzen Arbeiters, der sich inzwischen notdürftig mit Gartenarbeiten durchschlägt, seine Frau verprügelt und mit den Nachbarn grillt und trinkt. Anthony ist zu Beginn 14, angeödet und frustriert vom Kleinstadtleben, einzig am Kiffen, Saufen und Sex interessiert, fühlt sich seiner Familie überlegen und träumt vom großen Ausbruch. Auf keinen Fall will er werden wie die Erwachsenen. Als er sich heimlich das Motorrad seines Vaters ausleiht und der 17-jährige Hacine aus der Plattenbausiedlung, Franzose, Sohn marokkanischer Eltern und ebenso perspektivloser Kleinkrimineller, es zunächst klaut, dann abfackelt, setzt das eine unaufhaltsame Kettenreaktion für beide Familien in Gang. Die dritte im Bunde ist Steph, Tochter aus reichem Haus, in die Anthony sich mit 14 hoffnungslos verliebt, der er aber immer nur dann näher kommt, wenn Alkohol und Drogen im Spiel sind. Auch Steph will unbedingt fort, hat aber im Gegensatz zu Anthony und Hacine Wissen und Geld.

Wie später ihre Kinder wirft ein Bild auf Gewalt, Drogen- und Alkoholmissbrauch, Langeweile, Frustration, Ängste und Sehnsüchte der Menschen in der Provinz und die Unmöglichkeit für das Prekariat, dem zu entkommen. Durch die ehemals vereinte, stolze Arbeiterschaft geht ein Riss, Rassismus ist salonfähig geworden und der Kontakt zwischen den Generationen abgebrochen.

Gemischtes Fazit
Es lag nicht am Sprecher Barnaby Metschurat, dass die ungekürzte Lesung auf zwei mp3-CDs in 13 Stunden 30 Minuten mehr Anstrengung als Genuss für mich war. Besser wurde es, als ich die Anordnung in Episoden im Zweijahresrhythmus durchschaut hatte, die sich in der gedruckten Ausgabe schneller erschließt. Über weite Strecken waren mir die Romanfiguren zu klischeehaft geschildert und zu unsympathisch. Die Hoffnungslosigkeit ist  niederdrückend, und doch ist gerade Nicolas Mathieu selbst ein Beispiel dafür, dass man der Provinztristesse aus eigener Kraft entkommen kann. Gestört hat mich außerdem der extrem detailreich und drastisch beschriebene Sex aus sehr männlicher Sicht ohne Gewinn für das Textverständnis. Die Alltagssprache der Jugendlichen passt zwar ausgezeichnet, ist aber über eine so lange Hör-Zeit anstrengend.

Trotzdem bin ich, durchgehalten zu haben. Was bleibt, ist ein soziologisch durchaus interessanter, sehr atmosphärischer Blick auf die Gruppe der sonst eher unsichtbaren „Abgehängten“ in der französischen Provinz.

Nicolas Mathieu: Wie später ihre Kinder. Lesung mit Barnaby Metschurat. SR2 Kulturradio. DAV 2019
www.der-audio-verlag.de

 

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