Ingke Brodersen & Rüdiger Dammann: Mahlzeit

Gerichte als Geschichte

Sicherlich leuchtet Ihnen der Zusammenhang zwischen Gastarbeitern und Speiseeis oder Hamburgern und Übergewicht ein, aber wissen Sie auch, was Ravioli und die Emanzipation, Gummibärchen und das Godesberger Programm oder Makkaroni und alternative Kinderläden verbindet?

Ingke Brodersen und Rüdiger Dammann ziehen in 60 Kapiteln zu 60 Jahren des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland je ein Gericht als „Zeitzeugen“ heran und vermitteln kenntnisreich und humorvoll Zeitskizzen und Hintergründe im hochwertigen Layout.

Ein etwas anderes Geschichtsbuch, das endgültig beweist, dass Essen und Trinken keineswegs nur der Nährstoffaufnahme dienen.

Ingke Brodersen & Rüdiger Dammann: Mahlzeit. DuMont 2009
www.dumont-buchverlag.de

Greta Hansen: Die Jahre ohne dich

 Flucht und Nachkriegsjahre in Deutschland

Das wird sich die Autorin Greta Hansen sicher nicht so vorgestellt haben, dass ihr Buch Die Jahre ohne dich, in dem es um die Spätfolgen von Flucht und Vertreibung nach dem Ende des 2. Weltkriegs geht, beim Erscheinen durch die aktuelle Flüchtlingswelle eine solche Aktualität bekommen würde! Und natürlich fragt man sich, wie viele ähnliche Schicksale sich im Moment abspielen.

Über den Inhalt des Buches kann man schwer erzählen, ohne bereits zu viel zu verraten. In den zwei parallel verlaufenden Handlungssträngen stehen jeweils junge Frauen und ihr Lebensweg zwischen dem fünften und fünfundzwanzigsten Lebensjahr im Mittelpunkt.

Da ist einmal Elisabeth, die nach dem Krieg als Flüchtlingskind mit ihrer Mutter Marietta nach Hamburg gekommen ist. Obwohl die beiden eigentlich Glück haben und in Nikolaus Michelsen einen verständnisvollen Ehemann und Vater mit einem liebevollen Zuhause finden, erholt Marietta sich nie vom Trauma der Flucht und bleibt verschlossen und depressiv. Für Elisabeth dagegen ist Hamburg Heimat, Nikolaus Michelsen der Vater und sein Sägewerk am Elbufer ihr Lebensinhalt.

Ganz anders verläuft das Leben von Louise Fobienke. Kinderheime in Polen und dann in der DDR stehen für eine lieblose Kindheit, bis sie als Jugendliche doch noch verständnisvolle Pflegeeltern in West-Berlin findet.

Beide junge Frauen streben nach einem selbstbestimmten Leben, stoßen dabei aber immer wieder an die engen Grenzen, die Frauen in den 1960er-Jahren gesetzt waren. Gleichzeitig sind beide aber auch auf der Suche nach ihrer Vergangenheit. Und natürlich darf die Liebe nicht zu kurz kommen…

Mit Das Jahr ohne dich hat Greta Hansen einen weiteren gut recherchierten und zeitgeschichtlich hochinteressanten Roman geschrieben. Die Themen „Flucht“, „1950er- und 1960er-Jahre“ und „Emanzipation“ sind unterhaltsam in eine gut geschriebene, immer spannender werdende Geschichte verpackt und die Atmosphäre der Hafenstadt Hamburg ist sehr gut getroffen. Das Buch ist gleichermaßen zu empfehlen für die ältere Generation, die diese Zeit miterlebt hat, und für jüngere Leserinnen als Reise in die nahe Vergangenheit.

Greta Hansen: Die Jahre ohne dich. Piper 2015
www.piper.de

François Gantheret: Das Gedächtnis des Wassers

Eine Jugendliebe, ein Verbrechen und die Macht der Erinnerung

Dreißig Jahre sind vergangen, seit Pauls Jugendliebe Claire in seinem Heimatdorf in den Savoyer Alpen ermordet wurde. Die Dorfbewohner haben damals den Mantel des Schweigens über das Verbrechen gelegt.

Nun kehrt Paul, inzwischen Psychoanalytiker in Paris, in sein Heimatdorf zurück, um den elterlichen Hof zu verkaufen. Durch Zufall erfährt er, dass das Chalet von Claires Eltern ebenfalls verkauft werden soll und kann nicht widerstehen. Dort begegnet er Claires jüngerer Schwester, der Konzertpianistin Béatrice, die erst nach dem Verbrechen geboren wurde. Alle leiden auf ihre Art unter dem nie aufgeklärten Mord.

Das Gedächtnis des Wassers ist kein Krimi, sondern ein sehr dicht und poetisch erzählter kleiner Roman, bei dem jedes Wort richtig gewählt ist. Sehr eindringlich erzählt der Psychoanalytiker Gantheret, der in Frankreich  mit dem Prix Ulysse ausgezeichnet wurde, von Liebe und Tod, Schweigen und Verdrängen und der Macht der Erinnerung vor dem Hintergrund der alles beherrschenden Alpenlandschaft.

François Gantheret: Das Gedächtnis des Wassers. dtv 2012
www.dtv.de

Katja Henkel: Kikis wilde Welt – Ein Wunsch mit Elefantenohren

Mehr als nur Rekorde

Schneller, größer, länger – Kinder lieben Rekorde, vor allem ungewöhnliche,witzige. Deshalb ist das Guinness-Buch der Rekorde alljährlich ein Bestsellerund vor allem bei Jungs, auch bei erwiesenen Nichtlesern, so beliebt. Eine super Idee von Katja Henkel deshalb, das Thema in ihrer Reihe Kikis wilde Welt in den Mittelpunkt zu stellen.

Im zweiten Band mit dem Titel Ein Wunsch mit Elefantenohren erleben Kiki, die mit ihrer Familie im Weltrekordhotel im ewigen Sommer und fast wie im Paradies lebt, und ihre Freunde Louis und Nick das lauteste Elefantentrompeten, die größte Schokoladenfrau, die längsten Bärte, die meisten aneinandergereihten Lügen und viele andere Weltrekorde aus nächster Nähe mit.

Doch auch im Paradies gibt es manchmal traurige Momente, z. B. als Kikis geliebter sprechender Goldfisch Monsieur Rouge sie verlässt, um in Indien eine neue Heimat und eine passende  Frau in seinem Alter zu finden, und  ihre Freunde plötzlich nicht mehr bei ihr sein können. Bis es zuletzt „Ende gut, alles gut“ heißt, ist es ein Glück für Kiki, dass ihre Familie und die anderen Bewohner des Weltrekordhotels sie so liebevoll unterstützen.

Die witzigen Schwarz-Weiß-Illustrationen von Karsten Teich, bestens bekannt als Cowboy-Klaus-Illustrator, und die Schrift-Spielereien unterstützen den Text adäquat und fantasievoll.

Da der Ideenreichtum der Autorin unbegrenzt scheint, dürfen die jungen Leserinnen und Leser ab ca. acht Jahren und wir Vorleser uns sicher noch auf weitere lustige und unterhaltsame Bände freuen.

Katja Henkel: Kikis wilde Welt – Ein Wunsch mit Elefantenohren. Arena 2015
www.arena-verlag.de

Jodi Picoult: Neunzehn Minuten

Wie konnte es geschehen?

An einem ganz normalen Schultag läuft der 17-jährige Peter an seiner High School Amok. Er tötet gezielt zehn Menschen und verletzt weitere 19 schwer.

Nur wenige Seiten braucht Jody Picoult für diese Schilderung, um sich dann umso mehr den Ereignissen vor und nach der Tat zu widmen. Alle kommen zu Wort: der Mörder, der sein Leben lang von seinen Mitschülern gedemütigt wurde, seine Eltern, seine einzige Freundin Josie, die sich irgendwann von ihm abgewandt hat um beliebt zu sein, deren Mutter, beruflich in den Fall verwickelte Richterin, und viele andere.

Ein packendes Buch für alle ab 16 Jahren mit einem überraschenden Ende.

Jodi Picoult: Neunzehn Minuten. Piper 2009
www.piper.de

Émile Zola: Die Muscheln von Monsieur Chabre

Von den schwerwiegenden Folgen einer Muschelkur

Monsieur Chabre ist ein wohl situierter, langweiliger Mann in den Vierzigern. Seine Hauptsorge ist, dass seine hübsche junge Frau trotz unermüdlicher Versuche nicht schwanger wird. Der Arzt rät ihm zu einer „Muschelkur“ und sofort greift Chabre, der Muscheln eigentlich verabscheut, den Vorschlag auf und reist mit seiner Frau in einen langweiligen kleinen Badeort am Atlantik.

Während er mit Todesverachtung seine Muscheln isst, freundet sich der schüchterne Hector mit dem Ehepaar an. Bei gemeinsamen Ausflügen zum Meer, bei denen der zimperliche Chabre immer in respektvollem Abstand zum Wasser bleibt, kommen die beiden jungen Leute sich direkt unter den Augen des Ehemann näher …

Die pointierte Erzählung Die Muscheln von Monsieur Chabre unterscheidet sich von Zolas großen Romanen durch den leichten und fröhlichen Ton und das Fehlen der Dramatik, die man bei diesem Thema in einer Geschichte aus dem 19. Jahrhundert erwarten würde. Mit wachsender Schadenfreude beobachtet man als Leser den ahnungslosen Monsieur Chabre und ist am Ende nur traurig, dass die Geschichte so kurz ist.

Émile Zola: Die Muscheln von Monsieur Chabre. Manesse 2002
www.randomhouse.de

Sören Sieg & Axel Krohn: „Ich hab dich rein optisch nicht verstanden“

Besser nicht am Stück lesen

Die in 14 Kapitel eingeteilten Dialoge, die die Autoren im Alltag aufgeschnappt und für uns aufgeschrieben haben, sind teilweise wirklich komisch, teilweise zum Nachdenken und teilweise eher belanglos. Eines aber gilt für alle: Sie entlarven die Sprecher als Vertreter einer bestimmten Typen-Gruppe – weit weniger individuell, als der Sprecher sich vielleicht fühlt. Diese Typologie aufzudecken ist das Anliegen der Verfasser.

Obwohl die Dialoge überwiegend unterhaltsam sind, tue ich mich schwer damit, sie am Stück zu lesen. Das Buch eignet sich also eher dazu, es immer wieder zur Hand zu nehmen und stückweise zu lesen oder vorzulesen.

Sören Sieg & Axel Krohn: „Ich hab dich rein optisch nicht verstanden“. Ullstein 2015
www.ullsteinbuchverlage.de

Richard Hamilton: Lisabeth und die knallharten Piraten

Was ein kleines Mädchen mit einer wilden Piratenbande macht

Auf der Jagd nach dem großen Schatz stößt die „knallharte“ Piratenbande um ihren Kapitän, der kein Blut sehen kann, auf ein verlassenes Baby. Nachdem der erste Schrecken überwunden und die Frage geklärt ist, wo auf dem Piratenschiff zukünftig die Windeln getrocknet werden sollen, hat die kleine Lisabeth die Herzen der Piraten im Nu erobert. Weichherzig
und fürsorglich ziehen die Piraten sie auf und allmählich erkennen sie, dass Lisabeth der Schatz ist, nach dem sie immer gesucht haben. Und am Ende hat Lisabeth sogar eine zündende Idee, wie sie alle sesshaft und ehrlich werden können.

Lisabeth und die knallharten Piraten ist ein liebevoll und witzig geschriebenes und illustriertes Kinderbuch zum Vorlesen ab
ca. fünf Jahren und zum Selberlesen ab der zweiten/dritten Klasse für Jungen und Mädchen.

Richard Hamilton: Lisabeth und die knallharten Piraten. Bloomsbury 2004
www.piper.de/berlin-verlag

Sybil Volks: Wintergäste

Ein Fehlalarm und die Folgen

„All das Kommen und Gehen in unserer Familie begann mit einem angekündigten Tod und einem unangekündigten Sturm“.

So vielversprechend beginnt der Roman Wintergäste aus der von mir wegen ihres hohen Lesekomforts sehr geschätzten Reihe dtv premium.

Im seit über 200 Jahren in Familienbesitz befindlichen Reetdachhaus auf einer Nordseeinsel, das über Generationen mit Liebe gepflegt und mit Geschichten gefüllt wurde, liegt die vermeintlich tote Inge Boysen. Von der Schwiegertochter eilig benachrichtigt, treffen nach und nach drei ihrer vier Kinder mit Anhang ein – das Haus füllt sich zu Inges Entzücken „wie eine Wundertüte“ – nur um erleichtert zu erfahren, dass es sich um einen Fehlalarm handelt. Eigentlich wollen alle recht schnell wieder abreisen, doch unvorhergesehene Ereignisse und schließlich ein großer Eissturm, der die Insel völlig von der Außenwelt abriegelt, führen dazu, dass man bis ins neue Jahr zusammenbleiben muss – unter erschwerten Bedingungen, denn schließlich fällt sogar der Strom aus.

Das Szenario scheint perfekt für einen unterhaltsamen, spannenden, aber auch tiefgründigen Roman, denn zusammen mit den Kindern und Enkel sind auch deren Probleme, Verletzungen und Zukunftsängste mit eingezogen. Leider hat die Autorin aber so enorm viele Themen angepackt, dass dafür auch starke 400 Seiten viel zu wenig sind. Alle Figuren stehen an Wendepunkten ihres Lebens, trotzdem hat mich keines ihrer Schicksale bewegt oder berührt, ich konnte nie wirklich mitleiden, wodurch es mich aber auch wenig gestört hat, dass am Ende vieles offen bleibt.

Woran das liegen mag? Unter anderem sicher am Schreibstil, denn es wird in rascher Folge, also alle ein bis zwei Seiten, von einer Person zur anderen gewechselt. Das wäre bei einem weniger umfangreichen Roman vielleicht unterhaltsam, aber bei einer Geschichte mit dieser Stärke hat es mich zunehmend genervt. Auch das ständige Zitieren von Zeilen aus englischen Popsongs, das wohldosiert sicher ansprechend gewesen wäre, wurde mir immer lästiger.

Und so bleibt am Ende bei mir ein Gefühl des Überdrusses: viel zu viele Themen, zu viele abgehackte Erzählstücke, zu viele zitierte Popsongs. Schade drum, denn die Autorin kann meiner Ansicht nach schreiben und ihre Schilderungen der Natur und des Insellebens sind wirklich gelungen.

Sybil Volks: Wintergäste. dtv 2015
www.dtv.de

Stefan Zweig: Ungeduld des Herzens

Falsches Mitleid

„Es gibt eben zweierlei Mitleid. Das eine, das schwachmütige und sentimentale, das eigentlich nur Ungeduld des Herzens ist, sich möglichst schnell freizumachen von der peinlichen Ergriffenheit vor einem fremden Unglück, jenes Mitleid, das gar nicht Mitleiden ist, sondern nur instinktive Abwehr des fremden Leidens von der eigenen Seele. Und das andere, das einzig zählt – das unsentimentale, aber schöpferische Mitleid, das weiß, was es will, und entschlossen ist, geduldig und mitduldend alles durchzustehen bis zum Letzten seiner Kraft und noch über dies Letzte hinaus.“

Stefan Zweigs einziger Roman erschien erstmals 1939 und spielt während weniger Monate vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs in einer kleinen Garnisonsstadt an der österreichisch-ungarischen Grenze.

Der junge Leutnant Hofmiller fordert bei einer Abendgesellschaft im Hause eines reichen, zum ungarischen Adeligen Lajos von Kekesfalva beförderten Juden dessen 17-jährige Tochter Edith zum Tanz auf, nicht wissend, dass diese gelähmt ist. Aus Scham über seine Ungeschicklichkeit flieht er überstürzt und versucht später, den Affront durch Blumen und Besuche wiedergutzumachen ohne zu bemerken, dass Edith sich längst in ihn verliebt hat. Die Tragödie nimmt ihren Lauf…

Ein psychologisches Meisterwerk, dessen Schicksalsverstrickungen mich bei jedem Wiederlesen tief bewegen.

Stefan Zweig: Ungeduld des Herzens. Manesse 2015
www.randomhouse.de