Reparaturen
Beim ersten Schulbeginn nach dem Krieg treffen im Herbst 1945 zwei Entwurzelte im piemontesischen Dorf Borgo di Dentro aufeinander, die beide nicht dorthin gehören. Die 22-jährige Lehrerin Gilla ist vor knapp drei Jahren vor dem Bombenhagel aus Genua geflohen. Längst hätte sie zu ihren Eltern zurückkehren können, aber die Erinnerung an den Verlust ihrer große Liebe Michele, der wie sie für die Partisanen kämpfte, hält sie zurück. Eine Schülerin ihrer neuen Grundschulabschlussklasse ist die begabte 10-jährige Francesca Pellegrini aus dem nahen Waisenhaus. Sie spricht nicht und niemand kann Gilla sagen, wie und woher sie im Januar 1945 nach Borgo di Dentro kam.
Drei zerbrochene Universen
Gilla wie Francesca tragen schwer an ihrer Vergangenheit und erkennen sich in ihrem Leid und in ihrer Verlorenheit. Beide haben Überlebensstrategien entwickelt. Gilla versucht, in der Schule wieder Normalität im Leben ihrer Schülerinnen herzustellen. Hingebungsvoll repariert die Uhrmachertochter in ihrer Freizeit ein defektes mechanisches Planetarium, ein weiteres zerbrochenes Universum. Hände und Kopf sind beschäftigt, wenn sie bastelt und Unterrichtsstunden zu den Planeten plant. Francesca dagegen kümmert sich aufopfernd um ein Kätzchen, das sie im Waisenhaus versteckt hält. Nur mit ihm kann sie reden. Gilla, die nicht an Francescas Stummheit glaubt, will behutsam das Geheimnis des Kindes ergründen und ihm mit Ruhe, Geduld, Verständnis, aber auch Trickreichtum helfen – genauso wie sich selbst.
Große Geschichte heruntergebrochen
Die Sterne ordnen ist nicht einfach irgendein weiteres Buch über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Vielmehr erzählt die 1971 geborene italienische Autorin und Lehrerin Raffaela Romagnolo auf ganz besondere Art von kleinen Lebensschicksalen, die eng mit der großen Geschichte verwebt sind. Dazu kehrt sie in das fiktive Dorf Borgo di Dentro zurück, in dem bereits ihr Roman Bella Ciao spielte, ebenfalls vorzüglich übersetzt von Maja Pflug, der 2019 zu meinen absoluten Lieblingsbüchern gehörte. In beiden Romanen wird Geschichte lebendig, geht es um starke, durch äußere Verheerungen beschädigte Frauen, die man nicht wieder vergisst.
„Gegenwart“ und Vergangenheit
Eingebettet in die drei Trimester des Schuljahres 1945/46, der „Gegenwart“ der Handlung, blendet der Roman abschnittsweise zurück in die Zeit zwischen Mai 1938 und Sommer 1945, von der aus vielen verschiedenen Blickwinkeln erzählt wird. Es sind die Geschichten der gutbürgerlichen jüdischen Familie Sacerdoti aus Casale Monferrato, dem Geburtsort der Autorin, und von Gillas Familie. Kurze Auszüge aus faschistischen Erlassen und Zeitungsschlagzeilen liefern die Fakten.
Bei allem Schmerz gibt es am Ende, als alle ihre Abschlussprüfung bestanden haben, Hoffnung auf einen Neuanfang:
Unter dem knisternden Papier nimmt Gilla noch immer das Kriegserassel wahr, aber es ist ein fernes Rumoren. Zur Verteidigung gibt es ein Heer von großen und kleinen Buchstaben, Schreibschrift und Druckschrift, A wie Alphabet, G wie Gatto, L wie Luna. (S. 438)
Mit Die Sterne ordnen, 2024 in Italien einer von 12 für den Premio Strega nominierten Titeln, ist Raffaela Romagnolo endgültig zu einer Lieblingsautorin für mich geworden. Ihre historischen Romane sind atmosphärisch stimmig, hervorragend recherchiert, geschickt aufgebaut und ebenso fesselnd wie empathisch erzählt.
Raffaela Romagnolo: Die Sterne ordnen. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Diogenes 2024
www.diogenes.ch
Weitere Rezensionen zu Büchern von Raffaela Romagnolo auf diesem Blog: