Roy Jacobsen: Die Unwürdigen

  Grautöne

Vom 9. April 1940 bis zum 8. Mai 1945 dauerte die deutsche Besetzung Norwegens. Während König Haakon VII. und die demokratisch gewählte Regierung ins Londoner Exil flohen, setzten die Invasoren eine Marionettenregierung unter Vidkun Quisling ein, der nach dem Krieg wegen Hochverrats hingerichtet wurde.

Wie im dritten Teil seiner Barrøy-Saga Die Augen der Rigel erzählt Roy Jacobsen die Kriegs- und Nachkriegsgeschichte Norwegens in seinem Roman Die Unwürdigen nicht schwarz-weiß mit Helden und Schurken, sondern in Grautönen. Im Epilog lässt er einen seiner mittlerweile alt gewordenen Protagonisten über der These brüten, im Krieg wären je etwa zehn Prozent der Norweger im Widerstand bzw. Mitläufer und Kollaborateure gewesen, die restlichen achtzig Prozent dagegen gleichgültig. Was aber, fragt der alte Mann, ist mit den Unwissenden?

Ihr, die ihr die Besatzungszeit studiert, wisst so viel mehr darüber als wir, die wir sie gelebt haben, wir hatten nicht eure Wissensmengen und euren Überblick […]. (S. 328/29)

Überleben – egal wie
Für Carl, Olav und Roar, die drei Jugendlichen im Mittelpunkt, ist Politik Nebensache:

Olaf hatte ein Gesetz, dass dieser Krieg uns nichts angeht, dass es andere sind, die ihn betreiben. (S. 114)

Was sie wirklich betrifft, sind die beengten Wohnverhältnisse in der Arbeitersiedlung Åsen im nordöstlichen Teil Oslos, der leider auf dem Stadtplan vorn und hinten im Buch nicht eingezeichnet ist. Hier hausen sie mit Eltern und Geschwistern in Einzimmerwohnungen. Armut und Mangel begegnen sie kreativ, intelligent, gut organisiert und skrupellos entgegentreten, indem sie einbrechen, stehlen, den Schwarzmarkt beliefern, Dokumente fälschen und Norweger wie Besatzer betrügen. Ihre Beute wird von den Eltern kommentarlos angenommen als wichtiger Beitrag zum Überleben der Familien. Aber was machen eigentlich die Eltern? Carls Vater hat sich verändert, schlägt den Sohn, und Carl verachtet ihn dafür. Doch als er verhaftet und zu Tode geprügelt wird, hört Carl, dass der Vater ein „wichtiger Mann“ war – für wen? Die Liste mit leerstehenden Villen, die er ihm zuletzt gegeben hat, wird Grundlage für ihre nächsten Beutezüge. Olavs Vater setzt sich ab, nach Schweden, wie die Mutter glaubt, bevor auch sie packt und Richtung Deutschland verschwindet. Zurück bleiben die Jungen und ihre Geschwister, die fortan noch mehr Verantwortung übernehmen und mit noch mehr ungeklärten Fragen leben müssen.

Edvard Munch: Der Schrei, Munch-Museum Oslo. © M. Busch. Collage: © B. Busch

In 37 Kapiteln und einem Epilog, wobei das Kapitel 25 oder dessen Nummerierung fehlt, erzählt der Roman brutal und unsentimental vom Überleben in Kriegszeiten. Roy Jacobsen erspart seinen Protagonisten nichts, beschönigt und urteilt nicht und bringt uns die Mitglieder der kleinen Gemeinschaft filmhaft nah. Trotz ihrer Verbrechen bis hin zum Mord fiebert man mit ihnen mit, wenn sie ihren kleinen Geschwistern eine Kindheit schenken möchten, die sie selbst nie hatten, beneidet sie um den Zusammenhalt und leidet mit bei ihren Verlusten.

Show, don’t tell
Der 1954 in Oslo geborene Roy Jacobsen hat fast alle Literaturauszeichnungen Skandinaviens erhalten und wird in über 40 Sprachen übersetzt. Herausragend sind für mich seine inzwischen vier Bände der Barrøy-Saga, die hoffentlich fortgesetzt wird. Wie immer stellt er in Die Unwürdigen Zeigen über Erklären, und gerade dieser gedankliche Spielraum macht seine dicht, beinahe schroff erzählten, oft verstörenden Romane für mich so interessant. Überrascht hat mich, dass auch in Norwegen viele Täter nach Kriegsende  unbehelligt blieben, während die Opfer erfolglos um ihre Rechte kämpften.

Die Unwürdigen ist keine einfache Lektüre, eine sehr empfehlenswerte dagegen schon.

Roy Jacobsen: Die Unwürdigen. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Andres Brunstermann. C.H. Beck 2023
www.beck.de

 

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