Perspektivwechsel
In einer erdnahen Umlaufbahn von 400 Kilometer Höhe umkreisen zwei Astronauten aus Italien und den USA, zwei Astronautinnen aus Großbritannien und Japan und zwei russische Kosmonauten in einem internationalen Raumschiff mit 28.000 Kilometer pro Stunde die Erde. Obwohl die Zeitmessung hier willkürlich ist, leben sie nach dem 24-Stunden-Rhythmus. Ein Tag bedeutet 16 Erdumrundungen mit 16 Sonnenauf- und Sonnenuntergängen und allen vier Jahreszeiten. Während eines solchen Tages spielt der Roman Umlaufbahnen, mit dem die 1975 geborene Britin Samantha Harvey 2024 den wichtigsten Literaturpreis ihres Landes, den Booker Prize, gewann.
Unendliches Staunen
„Wie Trommelfeuer“ bricht alle 90 Minuten der Tag über die Crew herein. Ihr Leben an Bord ist minutiös durchgeplant und fremdbestimmt, neben muskelerhaltendem Krafttraining, Mahlzeiten, Hygiene, Laborarbeit, Dokumentation und sieben Stunden Schlaf gibt es kaum Freizeit, dafür sensationelle Ausblicke sowie Raum für immer neues Staunen und eigene Gedanken:
Brutal ist das Leben hier, unmenschlich, überwältigend, einsam, außergewöhnlich und großartig. Nicht eine einzige Sache ist angenehm. (S. 33)
Bedrohte Schönheit
So unterschiedlich ihre Herkunft, Vergangenheit, Sorgen und Träume sind, bilden sie doch auf Zeit eine „fliegende Familie“ und sind „Hände“, „Seele“, „Bewusstsein“, „Atem“, „Verstand“ und „Herz“ einer atemberaubenden Unternehmung. Sie unterlaufen die behördlichen Vorgaben, die ihnen im All, von wo aus keine Grenzen, Mauern oder Schranken auf der Erde zu erkennen sind, getrennte Toiletten für Russen und Nicht-Russen zuweisen. Wissentlich nehmen sie die gesundheitlichen Folgen ihres dreimonatigen Dauerloopings im All in Kauf und sind nicht weniger Versuchsobjekte als die mitreisenden Labormäuse. Freiheit oder Privatsphäre gibt es nicht, sie müssen mit der Trennung von ihren Familien zurechtkommen und werden, trotz regelmäßiger Kontakte, „als Fremde zurückkehren“. Ihr Lohn ist der Perspektivwechsel durch den Blick von oben auf die Erde, der zugleich unfassbare Schönheit und beängstigende Fragilität offenbart:
Wenn sie nach unten blicken beginnen sie, die Politik des Wachstums und Erwerbs zu sehen, eine millionenfache Potenz des Verlangens nach mehr. Und sie müssen nicht einmal nach unten blicken, denn sie selbst sind Teil dieser Rechnung, mehr noch als alle anderen – in ihrer Rakete, deren Antrieb beim Start so viel Benzin wie Millionen Autos verbrennt. (S. 124)
Eine verdiente Booker-Prize-Trägerin
Umlaufbahnen ist ein schmaler Roman von größter Originalität und trotz seiner Handlungsarmut gleichermaßen faszinierend und fesselnd. Die Kapiteleinteilung folgt den 16 Umlaufbahnen eines Tages, in dessen Verlauf sich auf der Erde ein verheerender Taifun entwickelt, eine Mondmission das Raumschiff überholt und ein minimaler Riss in einem der in die Jahre gekommenen Module geringfügig wächst. Einerseits schildert Samantha Harvey in ihrem fünften Buch die Abläufe und Erfahrungen an Bord so genau, dass die Lektüre bei mir, die ich mich bisher kaum für Raumfahrt interessierte, einen großen Wissenszuwachs brachte. Andererseits ist der Roman ein großartig bildhafter, sehr rhythmischer Text aus dem Genre Nature Writing in ausgezeichneter Übersetzung von Julia Wolf, dessen Höhepunkt für mich die unvergleichliche Beschreibung eines Polarlichts war. Nicht zuletzt sind Samantha Harveys Überlegungen zu den großen Themen der Menschheit und zur existenziellen Bedrohung durch den menschengemachten Klimawandel klar, aufrüttelnd und nie plump, denn für die Crew wie auch für gesamte Menschheit gilt:
Ohne die Erde sind wir alle erledigt. (S. 19)
Ein großartiges Lese-Highlight gleich am Jahresbeginn 2025, poetisch und erschütternd, aber trotzdem nicht entmutigend.
Samantha Harvey: Umlaufbahnen. Aus dem Englischen von Julia Wolf. dtv 2024
www.dtv.de
Rezensionen zu Romanen, die mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurden, auf diesem Blog: