Perspektivwechsel
Das Leben neigt dazu, ganz anders auszufallen, als man sich das gedacht hat. (S. 244)
Sigrid Boo (1898 – 1953) gehörte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts neben Sigrid Undset (1882 – 1949) zu den erfolgreichsten norwegischen Schriftstellerinnen. Anders als bei ihrer Landsfrau, die 1928 den Literaturnobelpreis erhielt, galten ihre Bücher als leichte Unterhaltung und gerieten bald in Vergessenheit. Der Übersetzerin Gabriele Haefs ist die Wiederentdeckung ihres Romans Dienstmädchen für ein Jahr zu verdanken, der für das Theater adaptiert und dreimal verfilmt wurde. Die Herausgeberinnen Magda Birkmann und Nicole Seifert haben ihn als zehnten Band in ihre Reihe rororo Entdeckungen aufgenommen, mit der sie zu Unrecht vergessene Autorinnen des letzten Jahrhunderts wieder sichtbar machen.
Dienstmädchen für ein Jahr erschien in Norwegen 1930 und spielt zur Zeit seines Entstehens. Mit dem Zugang zu Universitäten 1884, dem umfassenden Wahlrecht 1913 und der finanziellen Gleichstellung der Ehepartner 1927 hatten sich die traditionellen Rollenbilder verändert.
Die Schatten der Weltwirtschaftskrise
Helga Breder, sorglose 19-jährige Ich-Erzählerin und Tochter aus gutsituiertem Fabrikantenhaus, macht zu Beginn des Romans ihrem Ärger und ihrer Irritation Luft: Ihre geplante Parisreise nach glänzend bestandenem Abitur muss wegen finanzieller Engpässe verschoben werden:
Tatsächlich hatte Vater es sich in letzter Zeit zur Gewohnheit gemacht – ich würde es Unsitte nennen – über Geld und Ausgaben und darüber zu reden, was man sich leisten kann und was nicht. (S. 8)
Die Wette
Als in lockerer Freundesrunde und in Anwesenheit ihres umschwärmten, gutaussehenden und „bisweilen auch überaus angenehmen“ (S. 9) Beinahe-Verlobten Jørgen Krogh darüber diskutiert wird, wieweit das moderne junge Mädchen „etwas taugt oder nicht“ (S. 15), akzeptiert Helga spontan die verrückte Wette ihres Freundes:
Ich wette einen Diamantring, dass du es nicht schaffst, ein Jahr lang für andere zu arbeiten und von deinem Lohn zu leben! (S. 18)
Inkognito findet sich Helga, trotz ihrer nur vagen Vorstellungen von Hausführung und Kochen, alsbald als Dienstmädchen wieder. Ein Jahr lang muss sie ihre Identität verstecken, den Küchen- statt des Vordereingangs benutzen, Mopp und Kochlöffel schwingen, bei Tisch bedienen, anstatt bedient zu werden, und auf ihre geliebte „Schickmacherei“ (S. 122) verzichten.
Nach einem kurzen Intermezzo bei einer prekären Osloer Familie landet sie 40 Kilometer entfernt auf Gut Vinger bei Familie Bech. Eine aufregende Zeit voller beruflicher Herausforderungen, Versteckspiel und persönlicher Weiterentwicklung beginnt, wobei auch die Liebe in Gestalt des geheimnisvollen Chauffeurs Hans Frigård mit den umwerfend blauen Augen nicht zu kurz kommt. Letztere manifestiert sich vor allem in Helgas Empfänglichkeit für die Natur – ein wunderbarer Kunstgriff, um die Kitschgefahr zu bannen.

Fast 100 Jahre alt und kein bisschen verstaubt
Dienstmädchen für ein Jahr besteht vorwiegend aus 19 Briefen, die Helga während ihres Abenteuers an ihre Freundin und Vertraute Grete schreibt. Diese überaus schwungvoll und munter geschriebenen Berichte in der angenehm frisch wirkenden Übersetzung von Gabriele Haefs machen den Roman zu einem absolut hinreißenden, kurzweiligen und keineswegs banalen Leseerlebnis. Mit Helgas messerscharfem Blick in die oberen und unteren Etagen des Guts, aber auch auf sich selbst, zu Papier gebracht mit überaus spitzer, oft witziger Feder, habe ich mich bestens unterhalten. Ihr Durchhaltevermögen, obwohl der Diamantring längst seine Anziehungskraft verloren hat, ihre veränderte Sicht auf Geld und die Privilegien ihres Herkunftsmilieus, ihr Talent als Stehaufmännchen und ihre neuen Erwartungen an das Leben haben mir außerordentlich gut gefallen und lassen den fast 100 Jahre alten Roman alles andere als verstaubt erscheinen.
Sigrid Boo: Dienstmächen für ein Jahr. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Herausgegeben von Magda Birkmann und Nicole Seifert. Rowohlt Kindler 2025
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